E. Boeckl-Klamper u.a. (Hrsg.): Gestapo-Leitstelle Wien 1938–1945

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Title
Gestapo-Leitstelle Wien 1938–1945.


Author(s)
Boeckl-Klamper, Elisabeth; Mang, Thomas; Neugebauer, Wolfgang
Published
Extent
494 S.
Price
€ 29,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Walter Manoschek, Institut für Staatswissenschaft, Universität Wien

Mit diesem voluminösen Band, mit seinen knapp 500 Seiten und Quellenmaterial aus 18 Archiven, liegt nicht nur quantitativ eine bemerkenswerte Studie vor. Auch qualitativ vermag das Buch zu überzeugen. Bislang gab es einschlägige Vorarbeiten zu diesem Instrument nationalsozialistischer Verfolgungs- und Terrorpolitik, die sich mit Teilaspekten befasst haben.1 Diese Studie hingegen kann für sich beanspruchen, eine Gesamtdarstellung der Gestapo-Leitstelle Wien während der NS-Zeit zu liefern. Elisabeth Boeckl-Klamper (wissenschaftliche Mitarbeiterin des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes), Wolfgang Neugebauer (ehemaliger Leiter dieses Archivs) und Thomas Mang sind ausgewiesene Kenner/innen der Materie und beschäftigen sich seit vielen Jahren mit nationalsozialistischem Widerstand und Verfolgung unter anderem in Wien. In 17 systematisch geordneten Kapiteln behandeln sie übersichtlich den Aufbau der Gestapo in Wien, das Personal, die Arbeitsweisen und Methoden, V-Leute und Denunziant/innen und – als umfangreichstes Kapitel – die diversen Opfergruppen dieses Verfolgungsinstruments. Dabei werden bislang unterbelichtete Aspekte, wie das Schicksal oppositioneller Jugendlicher und als „asozial“ stigmatisierter Menschen sowie ausländischer Zwangsarbeiter/innen, eingehend bearbeitet. Es waren insbesondere die letztgenannten Opfergruppen, die ins gestapoeigene Arbeitserziehungslager Oberlanzendorf verbracht wurden. Im Zuge der massenhaften, zwangsweisen Heranziehung von „Fremdarbeitern“ aus den besetzten Gebieten war etwa jeder zwanzigste ausländische Zwangsarbeiter von „Arbeitserziehungshaft“ betroffen (S. 372). In abschließenden Kapiteln werden der Anteil der Gestapo Wien an den Endphasenverbrechen (wo sie insbesondere durch Assistenzleistung bei Standgerichten gegen Widerstandskämpfer/innen und bei der Ermordung von abgeschossenen alliierten Fliegern aktiv war), der kampflose Rückzug nach Westen und die Strafverfolgung hochrangiger Gestapomitarbeiter nach Kriegsende behandelt.

Die Gestapo-Leitstelle Wien, deren Aufgabenbereich sich auch auf den Gau Niederdonau und Teile des Burgenlandes erstreckte, verfügte mit 842 Mitarbeiter/innen (1939) über mehr Personal als alle anderen Staatspolizeileitstellen im Deutschen Reich und den besetzten Gebieten. Sie war für eine Einwohnerzahl von über 3,6 Millionen Personen zuständig und erstreckte sich damit auf die Hälfte der damaligen österreichischen Bevölkerung (S. 59). Mit etwa 50.000 Festgenommenen, die brutalen Verhören und Folterungen unterzogen und in Konzentrationslager eingewiesen oder Gerichten zur Aburteilung übergeben wurden, stand sie auch bei den Inhaftierungen an der Spitze. Die Leitstelle rekrutierte ihre Mitarbeiter/innen (der weibliche Anteil stieg von etwa 17 Prozent in den Jahren 1938 bis 1942 auf 30 Prozent in der letzten Kriegsphase, wobei sie ausschließlich Bürotätigkeiten ausübten und weder Beamtenstatus noch Führungspositionen erlangten) weitaus überwiegend aus Österreicher/innen: Betrug der Anteil der aus dem „Altreich“ stammenden Beamten 1938 noch 16 Prozent, so sank er bis Kriegsende auf 8 Prozent. Die meisten von ihnen stammten aus der ehemaligen österreichischen Staats- und Kriminalpolizei (etwa 50 Prozent), weitere 40 Prozent rekrutierten sich aus der Wiener Sicherheitswache (S. 116). Diese Zahlen belegen eindrücklich den hohen Grad an NS-affinen Polizeibeamten in Wien. Die Gestapo-Leitstelle Wien war nach dem „Anschluss“ der Mittelpunkt eines institutionellen Beziehungsgeflechts, das typisch für die mitunter schwer durchschaubaren Befehlswege steht, die vom Reichssicherheitshauptamt ihren Ausgang nahmen. Besonders durch die beispiellose Ämterfülle ihres Leiters, dem aus Bayern stammende Franz Josef Huber, nahm die Leitstelle eine besondere Rolle ein. Durch sein persönliches Vertrauensverhältnis zum RSHA-Chef Reinhard Heydrich und dem Gestapochef Heinrich Müller hatte er das Privileg verkürzter Dienstwege, die er oft dazu benutzte, seinen formellen Vorgesetzten, den Höheren SS- und Polizeiführer „Donau“, Ernst Kaltenbrunner, zu umgehen. Hinzu kam noch Hubers singuläre Doppelrolle als Chef der Leitstelle in Wien und als Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD, die ihm de facto die Kontrolle über sich selbst ermöglichte (S. 85). Dass diese komplexen und komplizierten institutionellen Beziehungsgeflechte übersichtlich und verständlich dargestellt werden, zeigt den souveränen Umgang des Autor/innenteams mit dem Thema.

Für die exekutive Verfolgung der mehr als 200.000 als „Voll-, Halb- oder Vierteljuden“ definierten Bevölkerung Österreichs war – im Unterschied zum „Altreich“ – nicht ausschließlich die Gestapo zuständig. In Wien war die von Adolf Eichmann geleitete „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ (ein Organ des SD) für die Vertreibung und Deportation maßgeblich zuständig. Als Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD war Huber formal für die „Zentralstelle“ verantwortlich. Praktisch allerdings delegierte er aber alle einschlägigen Aufgaben an seinen Stellvertreter Karl Ebner, der auch das „Judenreferat“ leitete. Huber spielte allerdings bei der auslösenden Initiative zur Deportation der jüdischen Bevölkerung nach dem Osten im Februar 1941, gemeinsam mit dem Gauleiter Baldur von Schirach, eine entscheidende Rolle. Erst ab März 1943, als die großen Deportationen in den Osten überwiegend abgeschlossen waren, wurde das Judenreferat der Gestapo-Leitstelle Wien zur zentralen Instanz der noch in Wien verbliebenen jüdischen Bevölkerung. Die Bekämpfung des organisierten politischen Widerstandes erfolgte vor allem durch bis zu 600 bezahlte V-Leute und Agents Provocateurs, die von der Abteilung „Gegnerbekämpfung“ unter der Leitung von Othmar Trenker geführt wurden. Dabei fielen dem KPÖ-Funktionär Kurt Koppel und seiner Freundin Grete Kahane mehr als 800 Kommunisten zum Opfer. Der Burgschauspieler Otto Hartmann deckte die katholischkonservative Freiheitsbewegungen auf, wobei 200 Personen festgenommen und zwölf hingerichtet wurden (S. 188). Die Zerschlagung des organisierten Widerstandes basierte nicht primär auf Anzeigen aus der Bevölkerung oder auf Verrat aus dem eigenen Milieu. Vielmehr war es dem höchst effizienten Einsatz von V-Leuten und brutaler Folter geschuldet, dass die Gestapo-Leitstelle Wien im Vergleich mit anderen Gestapostellen eine so hohe „Erfolgsrate“ aufweisen konnte (S. 202).

Das letzte Kapitel behandelt die strafrechtliche Verfolgung leitender Gestapobeamter nach Kriegsende. Die Strafen fielen mehr als glimpflich aus: Der Leiter der Dienststelle, Franz Josef Huber, kam mit 500,- DM am billigsten davon; sein Stellvertreter, Franz Ebner, wurde 1948 in Wien zu 20 Jahren Haft verurteilt und bereits 1953 begnadigt; Othmar Trenker, Leiter des Referats „Gegnerbekämpfung“, kam mit 18 Monaten Haft davon; Johann Sanitzer, Referatsleiter für „Sabotage“ und „Fallschirmagenten“, erhielt in Wien lebenslängliche Haft, wurde an die Sowjetunion ausgeliefert, von wo aus er 1955 nach Österreich zurückkehrte und 1956 begnadigt wurde. Der Gestapo Wien gelang es, den Aktenbestand der Leitstelle zu Kriegsende fast gänzlich zu vernichten. Umso bemerkenswerter ist es, dass es dem Autor/innenteam gelungen ist, aus zahlreichen Archiven das Quellenmaterial zusammenzutragen, auszuwerten und gut lesbar darzustellen. Trotzdem, darauf weisen Boeckl-Klamper, Mang und Neugebauer selbst hin, bestehen noch erhebliche Forschungslücken, die auch diese hervorragende Arbeit nicht schließen konnte. Aus Sicht des Rezensenten sind das etwa die bisher kaum untersuchten Tätigkeiten Wiener Gestapobeamter in den besetzten Gebieten und komparative Ansätze, um etwaige Spezifika der Gestapo-Leitstelle Wien herauszuarbeiten.

Anmerkung:
1 Z. B. Hans Schafranek, Widerstand und Verrat. Gestapospitzel im antifaschistischen Untergrund, Wien 2017; Thomas Mang, Die Unperson. Karl Ebner, Judenreferent der Gestapo Wien, Bozen 2013; Franz Weisz, Die Geheime Staatspolizei, Staatspolizeileitstelle Wien 1938–1945. Organisation, Arbeitsweise und personale Belange, Wien 1991.

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