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Titel
Die Erziehung und Bildung der Schauspieler. Disziplinierung und Moralisierung zwischen 1690 und 1830


Autor(en)
Zumhof, Tim
Erschienen
Köln 2018: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
586 S.
Preis
€ 80,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Alexander Weinstock, Exzellenzcluster "Understanding Written Artefacts", Universität Hamburg

Das Theater war im 18. Jahrhundert Gegenstand ebenso ausführlicher wie kontrovers geführter Diskussionen, in deren Zentrum letztlich die Frage nach der Wirkmächtigkeit der Bühne stand, genauer: nach dem sozialen Nutzen oder Schaden, den sie zu stiften respektive anzurichten im Stande sei. Dabei traf eine bis in die Antike zurückreichende, vielfach klerikal zu verortende und in der Mitte des Jahrhunderts noch einmal besonders einflussreich von Jean-Jacques Rousseau befeuerte Tradition der Theaterfeindschaft auf eine affirmative Neubewertung, die sich wirkmächtig während der Aufklärung herausbildete. Diese Affirmation legitimierte sich zunächst über eine pädagogische Funktionalisierung der Bühne, der im Zuge umfangreicher Reformierungsbestrebungen im Verlauf des Jahrhunderts eine Vielzahl edukativer Effekte attestiert wurden. Zwar lagen denen mitunter disparate wirkungsästhetische Fundamente zu Grunde, deren gemeinsamer Nenner war jedoch lange Zeit eine Perspektivierung des Theaters als „moralische Anstalt“, wie es Friedrich Schiller auf den Begriff brachte. Mit dieser sich vornehmlich auf diskursiver Ebene vollziehenden pädagogischen Indienstnahme ging zugleich ein Ausdifferenzierungsprozess einher, der die Anforderungsprofile und Aufgaben einer Reihe von Akteuren teilweise neu konturierte, teilweise überhaupt erst hervorbrachte. Dazu zählten neben Dramatikern, Kunstrichtern, Rezensenten und Zuschauern nicht zuletzt die Schauspielerinnen und Schauspieler.

Gleichwohl sich die Forschung mit den wirkungsästhetischen Fundamenten, Programmatiken, Konfliktlinien, Kontexten und teilweise auch mit den einzelnen Akteuren vor unterschiedlichen disziplinären und methodischen Hintergründen unter anderem in mentalitäts-, sozial-, theater- sowie mediengeschichtlicher Perspektive befasst hat, sind viele Aspekte dieses umfassenden theatralen Wandels im 18. Jahrhundert noch immer Desiderate geblieben.1 Dazu musste bisher auch Die Erziehung und Bildung der Schauspieler gezählt werden, die Tim Zumhof in seiner umfangreichen Studie nun als Disziplinierung und Moralisierung zwischen 1690 und 1830 untersucht. Er zeigt dabei auf, wie diejenigen, die, nach langer sozialer Ächtung, auf der Bühne plötzlich edukative Effekte zeitigen sollten, in eine Dynamik eingespeist wurden, die für das sich im 18. Jahrhundert diskursiv durchsetzende Theaterverständnis grundlegend ist: Wer als theatraler Erzieher wirken soll, muss dies auch können, und das heißt mit anderen Worten, selbst dazu erzogen werden.

Nach einführenden Bemerkungen zu Fragestellung, methodischem Vorgehen und Forschungsstand, gliedert sich die Arbeit in zwei große Hauptteile und einen nochmal ausführlich resümierenden Schluss. Der erste Hauptteil befasst sich mit drei für das 18. Jahrhundert ebenso charakteristischen wie maßgeblichen Ausprägungen des Zusammenspiels von Theater und Erziehung: dem Schultheater (I.1), der natürlichen Theaterästhetik, die sich im Zuge der aufklärerischen Reform herausbildet (I.2), und dem idealistischen Theater der Weimarer „Klassiker“ (I.3). Aufgezeigt wird zunächst, wie komplementär zur Verschulung des professionellen Theaters eine „Entschulung“ (S. 52) des Schultheaters zu beobachten ist: Von der rhetorischen Fundierung des Schultheaters, den körpertechnischen Anweisungen in Franz Langs Abhandlung über die Schauspielkunst2 und der jesuitisch geprägten Tradition der Übung, die Zumhof im foucaultschen Sinne als „Technologien des Selbst“ (S. 75) liest, führt der Weg über Christian Weises von der Moralistik geprägte Indienstnahme des Schultheaters zwischen „politischer Klugheitslehre und Rhetorik“ (S. 80) hin zu den Anfängen der Theaterreform bei Johann Christoph Gottsched, die sich neben dem professionellen auch an das Schultheater richtete, sowie schließlich zum Kindertheater der Philanthropisten, das die professionellen Pädagogen stärker in nicht-öffentlichen, im weitesten Sinne familiären Kontexten verorten wollten.

Die Entstehung einer dem Anspruch nach natürlichen Schauspielkunst verfolgt die Arbeit im Zuge der von den Reformbestrebungen angestoßenen theatralen Institutionalisierungsprozesse und einem sich in diesem Zusammenhang ausbildenden „Theaterdispositiv“ (S. 130). Hier geht es zunächst um die Bemühungen, die Schauspielkunst vor allem vor der Folie des traditionellen imitatio naturae-Gebots als Kunst zu etablieren, und um die damit verbundenen technischen, aber auch moralischen Ansprüche an die Schauspieler. Vorgestellt werden zudem die Debatten um verschiedene Darstellungsstile, die, wie zunächst mit ausführlichen Bezügen auf die Theorien des heißen und kalten Schauspielers und dann insbesondere auf Denis Diderot und Jean-Jacques Rousseau aufgezeigt wird, den Schauspieler „als Prototyp des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts“ (S. 181) und damit ebenso als Reflexionsfigur identitätsphilosophischer Entwürfe wie habitueller und affektiver Normen lesbar machen. Damit verbundene Wechselwirkungen von Schauspieltheorie und einer von einem bürgerlichen Wertegefüge geprägten Lebensweise zeigt die Arbeit anschließend mit Fokus auf die einschlägigen Überlegungen vornehmlich Gotthold Ephraim Lessings und Johann Jakob Engels auf, in die zugleich Elemente der rhetorischen und moralistischen Tradition modifiziert einflossen. Das dritte Kapitel des ersten Teils zeichnet schließlich die idealistische Theaterästhetik nach, wie sie in Weimar dem natürlichen Spiel und dem funktionalistischen Theaterverständnis der aufklärerischen Reform gegen Ende des Jahrhunderts entgegengestellt wurde. Diesen Kontrast akzentuierend und mit Bezug auf autonomieästhetische und bildungsphilosophische Überlegungen der Zeit diskutiert Zumhof, wie Goethe und Schiller das Theater nicht länger als Sittenschule, sondern „als eine Institution der ästhetischen Bildung […] begründen“ (S. 259).

Nach der Untersuchung dieser verschiedenen Programmatiken und Ausprägungen der Kopplung von Theater und Erziehung widmet sich der zweite Hauptteil konkreten Theaterschulen und vergleichbaren Ausbildungsinstitutionen oder zumindest ihren Entwürfen. Im Anschluss an kontextualisierende Ausführungen zu den historischen Lebens- und Arbeitsumständen (angehender) Schauspielerinnen und Schauspieler sowie den noch nicht institutionalisierten Ausbildungsverhältnissen im Theater der Wandertruppen (II.1) zeichnet Zumhof zunächst die Debatte um eine solche Institutionalisierung nach und stellt schließlich eine Reihe von theatralen Schulprojekten vor (II.2).

In ausführlicher Ausbreitung eines – was für die Arbeit insgesamt gilt – beachtlichen Textkorpus, der von bereits philologisch und/oder theaterwissenschaftlich aufbereiteten Quellen bis hin zu erstmals der Forschung zugänglich gemachten Archivfunden reicht, werden hier sowohl institutionell und diskursiv gewichtige Projekte wie die Akademie der Schönemannischen Gesellschaft, der Mannheimer Theaterausschuss oder die Weimarer Theaterschule skizziert als auch weniger bis kaum bekannte Schulen, die zum Teil nur kurze Zeit existierten, sich aber gleichwohl in die Geschichte der Erziehung und Bildung der Schauspieler einschreiben, wie die am Karlsruher Hoftheater oder dem Stuttgarter Waisenhaus. Dabei werden immer auch die Personen mit in den Blick genommen, die als treibende Kräfte die unterschiedlichen Entwürfe, Satzungen, Reglements oder Curricula geliefert haben, von Konrad Ekhof über Wolfgang Heribert von Dalberg, Johann Heinrich Friedrich Müller und Johann Wolfgang Goethe bis hin zu August Klingemann.

Die Vorstellung der verschiedenen Institutionen zeigt, dass sie in ihren Anliegen alle zwischen den im Titel der Arbeit aufgeführten Polen von Disziplinierung und Moralisierung zu verorten sind und dass sich dabei einige Schnittmengen entdecken lassen: Immer wieder wurde von denen, die auf der Bühne vorbildlich agieren sollten, gefordert, dass sie dies auch jenseits der Bühne tun und sich dabei an den Normen und Werten einer bürgerlichen Lebensweise orientieren. Komplementär dazu wurden professionelle auf Erziehungsdefizite zurückgeführt. Regelwerke und eigene Theatergesetze wurden aufgestellt, deren Missachtung mitunter strengstens, bis hin zum Ausschluss, sanktioniert wurde. Zur Berufsvoraussetzung wurde zudem eine zunehmend umfangreiche Bildung erklärt, die sich sowohl in körper-sprachlicher Souveränität als auch in einem breiten Wissen niederschlug, das unter anderem fremdsprachliche, kunsthistorische, poetologische, aber auch anthropologische und medizinische Kenntnisse umfasste. All das galt nicht im gleichen Maße für jedes der vorgestellten Projekte. In unterschiedlichen Mischverhältnissen zielten sie jedoch in der Regel darauf, habituelle und soziale Defizite auszuräumen, gegebenenfalls gar nicht erst aufkommen zu lassen und zugleich ein spezialisiertes Berufs- wie breiteres, gesellschaftstauglich machendes Wissen zu vermitteln.

Derartige Verdichtungen, das stärkere Aufzeigen von roten Fäden und Brüchen, Ähnlichkeiten und Differenzen in struktureller wie konzeptioneller Hinsicht, wie sie sich mitunter im Schlussteil finden, hätte man sich angesichts des großen Umfangs allerdings auch im Verlauf der Arbeit öfters gewünscht, die ab und an Gefahr läuft, sich in der Darstellung ihres reichhaltigen Quellenmaterials zu verlieren. Die Breite jedoch dieses zum Teil nahezu unbekannten Materials sowie dessen stets souveräne Aufbereitung, die kluge Kontextualisierung und die theoretische Flankierung sind zweifellos beeindruckend. Tim Zumhofs verdienstvolle, im besten Sinne interdisziplinäre Arbeit leistet damit – gerade weil sie sich an der Schnittstelle von Pädagogik, Historiographie, Theater- und Kulturwissenschaft bewegt – einen wichtigen Beitrag zur Erforschung des für das 18. Jahrhundert so prägenden und noch darüber hinausreichenden Verhältnisses von Theater und Erziehung. Die Geschichte des Theaters zeigt sich in diesem Sinne als eine Geschichte der Erziehung, die Geschichte der Erziehung umgekehrt als eine des Theaters.

Anmerkungen:
1 Vgl. unter anderem Hilde Haider-Pregler, Des sittlichen Bürgers Abendschule. Bildungsanspruch und Bildungsauftrag des Berufstheaters im 18. Jahrhundert, Wien u.a. 1980; Roland Krebs, L’Idée de „Théâtre National” dans L’Allemagne des Lumières. Théorie et Réalisations, Wiesbaden 1985; Ruedi Graf, Das Theater im Literaturstaat. Literarisches Theater auf dem Weg zur Bildungsmacht, Tübingen 1992; Roland Dreßler, Von der Schaubühne zur Sittenschule. Das Theaterpublikum vor der vierten Wand, Berlin 1993; Rainer Ruppert, Labor der Seele und der Emotionen. Funktionen des Theaters im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Berlin 1995; Peter Heßelmann, Gereinigtes Theater? Dramaturgie und Schaubühne im Spiegel deutschsprachiger Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts (1750–1800), Frankfurt am Main 2002; Christopher J. Wild, Theater der Keuschheit – Keuschheit des Theaters. Zu einer Geschichte der (Anti-)Theatralität von Gryphius bis Kleist, Freiburg i. Br. 2003; Franz-Josef Deiters, Die Entweltlichung der Bühne. Zur Mediologie des Theaters der klassischen Episteme, Berlin 2015.
2 Franz Lang, Abhandlung über die Schauspielkunst [1727]. Übersetzt und herausgegeben von Alexander Rudin, Bern u.a. 1975.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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