Title
SchauSpielPlatz Venedig. Theatrale Rezeption und performative Aneignung eines kulturellen Imaginären um 1900


Author(s)
Volz, Dorothea
Series
Edition Kulturwissenschaft 112
Extent
288 S.
Price
€ 34,99
Reviewed for H-Soz-Kult by
Nic Leonhardt, Ludwig-Maximilians-Universität München

Romantik, Dolce Vita, Gondeln, Aqua alta, Biennale, Film und Karneval, San Marco... Venedig! Oder eher das, für das Venedig steht.

Was ist, wo liegt Venedig? Was sieht der Venedig-Reisende, der durch die Lagunenstadt flaniert, den Koffer voller mitgebrachter mentaler Bilder und Venedig-Imaginationen, abgehandelter Stereotype? Gibt es Venedig eigentlich (noch)? Oder ist es nur mehr ein Ort des Schauens? Ein Platz, aus Plätzen bestehend, eine bukolische Fantasie, Fassade?

Venedig ist viele Venedigs. Eine Heterotopie.

Die Theaterwissenschaftlerin Dorothea Volz widmet sich in ihrer 2018 im transcript-Verlag erschienenen Dissertation SchauSpielPlatz Venedig. Theatrale Rezeption und performative Aneignung eines kulturellen Imaginären der Erforschung der Lagunenstadt, indem sie diesen relationalen Ort als Patchwork von Geschichte, Zuschreibung und Bild-Arsenal erörtert. Venedig ist Schauplatz für Inszenierungen, Venedig ist inszenierter Schauplatz, ein kulturelles Imaginäres, so die Prämissen der Arbeit und die Pfeiler für Volz’ Explorationen ins wässrige Gefilde dieser Stadt. Sie untersucht Venedig als theatrales und performatives sowie als metropolitanes und transnationales Phänomen, indem sie der Analyse dreier performativer kultureller Praktiken ein Forum bereitet: der Aneignung Venedigs durch Konsum, Reisen und im Spiel.

Von Kapitel 1, „Prolog: Staging Venice“ (die englische Fassung der Hauptkapitel-Überschriften irritiert zunächst) aus betrachtet sie unter Zuhilfenahme unterschiedlicher methodischer „Guides“ die Kommodifikation von Venedig (Kapitel 2, „Consuming Venice“), Venedig als touristisches und imaginiertes Ziel (Kapitel 3, „Travelling Venice“) und schließlich Venedig als Schauplatz und Kulisse für Theater, Literatur und Film („Playing Venice“, Kapitel 4). Ein abschließender „Epilog: Re-Staging Venice“ (Kapitel 5) sowie eine umfangreiche Bibliographie, eine kurze Filmographie und Linksammlung schließen die Arbeit ab.

Als Zielsetzung ihrer Schrift formuliert Volz die multiperspektivisch-kritische Betrachtung der Rezeptionsgeschichte Venedigs in einem Wechselverhältnis von (populär-)kulturellen Erscheinungen einerseits und kulturellen Praktiken andererseits. Am prominenten Beispiel Venedigs beschreibt sie die Verzahnung unterschiedlichster Reproduktionen und Rezeptionen einer Stadt, „die sich in gewissem Sinne als geradezu ortlos“ erweise (S. 16).

Den in den Kapiteln vorgenommenen Les- und Interpretationsarten Venedigs, das ‚Konsumieren‘, ‚Reisen‘ und ‚Spielen‘, weist Volz einen ostentativen Charakter als performative Praktiken zu, die zur „inhärenten Theatralität“ (S. 244) der Stadt beitragen, wie sie argumentiert.

Volz’ Studie bewegt sich zwischen Raumtheorie und Theorien des Performativen als theoretischen Verortungen. Den zeitlichen Horizont für die Arbeit bildet die „lange Jahrhundertwende“, konkreter die Jahre zwischen 1880 und 1910, in denen transnationaler Austausch und Herausbildung von Metropolen prosperieren. Auch wenn diese drei Jahrzehnte den zeitlichen Hauptschwerpunkt ihrer Untersuchungen bilden, verweist die Verfasserin immer wieder auch und notwendig auf das 20. und 21. Jahrhundert, um Analogien oder Verschiebungen im Venedig-Diskurs in Bezug zur Geschichte abzugleichen. Das gelingt ihr stichhaltig.

Vor diesem diskursiven und kontextuellen Hintergrund nimmt sie im zweiten Kapitel, „Consuming Venice“, den Konsum der Lagunenstadt in den Fokus. Dabei werden die in Kapitel 1 gelegten Spuren der metropolitanen Kultur und des Konsums als Unterhaltung wieder aufgegriffen und naheliegend den Warenhäusern, Museen und Weltausstellungen sowie den Praktiken des Flanierens im 19. Jahrhundert zugeordnet. Während diese Einrichtungen hinreichend in Studien zur ‚Massen‘-Kultur des 19. Jahrhunderts im Kontext der Urban Studies, der Kultur- und Konsumgeschichte und der Visual Culture-Forschung erarbeitet wurden, bietet Volz im letzten Teil dieses Kapitels eine innovative Sicht auf die Thematisierung Venedigs in Vergnügungsparks, nämlich: Venice in London, Venise à Paris und Venedig in Wien. Sie kommt dabei zu dem Schluss, dass sich Venedig als eine „entschleunigte“ Stadt fassen lässt, die in ihrer Zeitlosigkeit konträr zu einer modernisierten, modernen Stadt der Jahrhundertwende, wie etwa die Metropolen London, Paris, Berlin, Wien, stehe.

In Kapitel 3, „Travelling Venice“, geht die Verfasserin mit dem Tourismus einem weiteren Phänomen und kultureller Praktik auf den Grund. Reisen und Bilder von der Welt unterliegen im Verlauf des 19. Jahrhunderts einer kontinuierlichen Distribution und Proliferation. Venedig hat Anteil an und profitiert von der zunehmenden Tourismus- und Reiseindustrie des ausgehenden 19. Jahrhunderts und macht in dieser Linie eine Transformation durch „vom Umschlagplatz des Handels zum Konsumobjekt der Touristen“ (S. 182). Theater für Touristen, Authentizität des Fremden als Währung und die Reisewelten als Warenwelten sind nicht nur allgemein für die touristische und visuelle Erfassung der Welt durch Bildmedien der Zeit wie Bildpostkarten, Dioramen, Reiseführer, illustrierte Presse etc. in den Jahren vor der Jahrhundertwende kennzeichnend, sondern bereiten auch den Humus für imaginäre und reale Reisen nach Venedig.

Der Venedigtourismus ist bekanntlich Gegenstand einer Phalanx an Reiseratgebern und -tagebüchern, die die immergleichen Ansichten und Einsichten in die Stadt liefern. Dadurch entsteht letztlich ein Konglomerat an Sehenswürdigkeiten, die Image-bildend wirkend. Drei hinlänglich prominente ‚Sights’ betrachtet Volz in Unterkapiteln ausführlicher, sind sie doch auch Schauplätze zahlreicher Geschichten und Filme: Gondel, Markusplatz und Lido. Die Verfasserin streicht heraus, dass der Venedig konsumierende Blick ein vorgeprägter ist, der sich an Medien und „kursierende[n] Imaginationen“ von Venedig orientiert (S. 182). Die betonte Theatralität Venedigs sowie die theatrale Konstruktion des touristischen Erlebens, so Volz, ermöglichten „eine Betrachtung Venedigs als performatives Ereignis, das für und durch den Stadtbesucher“ entstehe. In der Idee Venedigs als „Schauspiel, als Ort der Vor- und Aufführung, als Verhaltensplattform“ sieht sie „kulturelle Praktiken in ihrer Aneignung und Ausübung dynamisiert.“ (S. 183)

Im vierten Hauptkapitel, „Playing Venice“ überschrieben, spielt Venedig als Kulisse (z. B. in Inszenierungen Max Reinhardts), dem Nachbau der Stadt als Kulisse (etwa im Hotel „The Venetian“ in Las Vegas), bis hin zur Behauptung als Schau- und Spielplatz verschiedene Rollen, denen Volz in enger Lektüre nachgeht. Den Begriff des Spielens versteht sie als „soziale und kulturelle Praktik, als Aneignung der Welt und Mittel ihrer Hervorbringung und in diesem Sinne als performative Praktik“ (S. 186). Demzufolge wird Venedig hier als „Auf- und Vorführung im Kontext professionalisierter Spielformen“ betrachtet. Sei es in Film, Theater, Oper oder Fotografie – Venedig taugt als Platz des Spiels, als Spiel-Platz und Ort dramatischer Handlungen etwa in Opern wie La Gioconda von Amilcare Ponchielli (1834–1886) oder Death in Venice von Benjamin Britten (1913–1976). Im Kapitel „Zwischen Stadtkulisse und Stadt als Kulisse“ beleuchtet Volz Venedigs Rolle als „Kulisse metropolitaner Unterhaltung“, als „begehbare Kulissenstadt“ sowie als „bespielbare Theaterkulisse“. Sie tut dies anhand von Beispielen aus Theater (zuvorderst Max Reinhardts Shakespeare-Inszenierungen), Pantomime, Film, in Bezug auf die internationale Kunstausstellung Biennale di Venezia und virtuellen Umgebungen. Venedig wird historisiert, ästhetisiert, theatralisiert. Mal ist die Lagunenstadt Kulisse und (Sehnsuchts-)Ort von Projektionen, mal ist sie selbst Protagonistin.

Will man die Geschichte Venedigs schreiben, so ist erforderlich, die Geschichte „einer Aneignung von außen, durch den Blick des Fremden, dem das innervenezianische Gegengewicht scheinbar fehlt, der ein Venedig in unterschiedlichen Kunstformen konstruiert und rekonstruiert“ (S. 16) zu schreiben. Durch die gezielte Blicklenkung auf Konsum, Reise und Spiel trägt die Arbeit von Volz überzeugend zur Historiographie der Stadt bei. Die Verfasserin zeigt kenntnisreich unter Zuhilfenahme und im Rekurs auf zahlreiche Beispiele rund um die Inszenierung Venedigs als kulturellem Imaginären, dass ein Verständnis von Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft perspektiverweiternd auch für andere disziplinäre Zugriffe bietet. Gleichzeitig belegt die Studie, wie nachhaltig der Theatralitätsdiskurs wirkt, dass Theater nicht nur als Metapher dient, sondern auch „unter dem Aspekt einer theatralen Weltaneignung eine Annäherung an das Verständnis der Funktionsweise und Vermittlung von Kulturpraktiken“ ermöglicht (S. 183).

Venedig ist real, Venedig ist fiktiv. Ein „SchauSpielPlatz“.

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