B. Gotto: Enttäuschung in der Demokratie

Cover
Titel
Enttäuschung in der Demokratie. Erfahrung und Deutung von politischem Engagement in der Bundesrepublik Deutschland während der 1970er und 1980er Jahre


Autor(en)
Gotto, Bernhard
Reihe
Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 119
Erschienen
Anzahl Seiten
IX, 402 S., 21 Abb., 1 Tab.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maik Tändler, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Emotionsgeschichtliche Ansätze sind inzwischen auch in der Zeitgeschichte etabliert; so hat Frank Biess jüngst die Geschichte der Bonner Republik als Geschichte politisch-sozialer Ängste erzählt.1 Bernhard Gotto hat für seine Habilitationsschrift über „Enttäuschung in der Demokratie“ einen kürzeren Zeitraum gewählt, nämlich die 1970er- und 1980er-Jahre. Er will „Gründe, Erscheinungsformen und Folgen individueller und kollektiver Enttäuschung“ beleuchten, um hieraus wiederum Erkenntnisse über den „Wandel der politischen Kultur der Bundesrepublik, die Stabilität und Akzeptanz der Demokratie als Herrschafts- und Gesellschaftsordnung sowie die Wahrnehmung und Deutung von politischem Engagement“ zu gewinnen (S. 16).

Zur Begründung für den gewählten Untersuchungszeitraum nennt Gotto Aspekte wie die Verbreitung eines partizipatorischen, über staatlich-institutionelle Ordnungsprinzipien hinausgehenden Demokratieverständnisses seit den 1960er-Jahren und den ökonomischen Strukturbruch der 1970er-Jahre, der mit einer Phase hochgradiger und hochgradig enttäuschungsanfälliger gesellschaftlicher Politisierung zusammenfiel. Drei Untersuchungsfelder, die ein möglichst breites Spektrum an politischen Akteuren, Strömungen und Handlungsformen abbilden sollen, strukturieren die Darstellung: erstens die politische Aushandlung und die Verabschiedung des Mitbestimmungsgesetzes von 1976, zweitens die autonome Frauenbewegung der 1970er- und 1980er-Jahre sowie drittens – am originellsten in diesem Zusammenhang – die Steuerreform der Regierung Kohl in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre.

Vor dem Hintergrund der Demokratisierungsdebatten in den späten 1960er-Jahren erlebte auch das alte gewerkschaftliche Kernthema der Mitbestimmung einen neuen Aufschwung. Bis dahin waren alle Versuche gescheitert, die Regelungen des Montanmitbestimmungsgesetzes von 1951, das für die Unternehmensführung in der Schwerindustrie weitgehende Parität zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern festgeschrieben hatte, auf andere Wirtschaftszweige zu übertragen. Beim Antritt der sozial-liberalen Bundesregierung 1969 hatte sich in den Gewerkschaften, so Gotto, ein „Erwartungsstau“ (S. 34) hinsichtlich einer nun von der SPD endlich konsequent umzusetzenden Mitbestimmungsprogrammatik eingestellt. Doch schon aufgrund des Widerstands der FDP waren die – zum Teil aus taktischen Gründen lange aufrechterhaltenen – Maximalforderungen des DGB nicht zu verwirklichen. Das Mitbestimmungsgesetz, das nach scharfen Auseinandersetzungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden schließlich am 1. Juli 1976 in Kraft trat, blieb weit hinter den Erwartungen der Gewerkschaftsführung zurück, deren Enttäuschung sich freilich weniger auf das politische System als vielmehr auf das sozialdemokratische Regierungspersonal bezog. Mitbestimmung war auch fortan ein zentrales Thema der Gewerkschaften, die ihre Erwartung einer umfassenden, von der SPD als Regierungspartei getragenen Umgestaltung der wirtschaftlichen Gesamtordnung jedoch zurückfuhren und sich stattdessen auf konkrete Betriebs- und Tarifpolitik konzentrierten.

In der Neuen Frauenbewegung der 1970er- und 1980er-Jahre war laut Gotto Enttäuschung eine „immer wiederkehrende Alltagserfahrung und ein überwältigend präsentes Thema in der Selbstreflexion der Aktivistinnen“ (S. 119). Erstaunlicherweise scheint hierbei die Enttäuschung über das Scheitern der Kampagne zur Abschaffung des Paragraphs 218, die Anfang der 1970er-Jahre ein entscheidendes Mobilisierungsmoment für die Frauenbewegung war, nur eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben. Jedenfalls argumentiert Gotto, dass sich die Enttäuschung der Aktivistinnen über den aus ihrer Sicht alles andere als befriedigenden Ausgang der Reform des Abtreibungsrechts in Grenzen gehalten habe, da viele von ihnen ohnehin keine großen Hoffnungen auf die patriarchalischen Institutionen der traditionellen Politik gesetzt hätten. Dies mag so gewesen sein, allerdings ergibt sich aus der weitgehenden Ausblendung dieses Themas eine nicht weiter reflektierte analytische Asymmetrie zu den anderen beiden Untersuchungsfeldern, für die ja dezidiert nach Enttäuschungserfahrungen im Rahmen der politischen Willensbildungs- und Gesetzgebungsprozeduren der parlamentarischen Demokratie gefragt wird.

Die Enttäuschungserfahrungen hingegen, die mit Blick auf die Frauenbewegung untersucht werden, bezogen sich vor allem auf das Scheitern von mit großem Enthusiasmus begonnenen Projekten wie autonomen Frauenhäusern und, damit zusammenhängend, auf das aus Sicht des aktivistischen Kerns unzureichende Engagement vieler Geschlechtsgenossinnen; hinzu kam der zermürbende Kampf um politisch-gesellschaftliche Anerkennung, der mit der Angst vor der entpolitisierenden Vereinnahmung durch die bestehenden Institutionen einherging. Bewältigt wurde die Enttäuschung zum einen durch gezielte „Gefühlsarbeit“ in den im gesamten alternativen Milieu verbreiteten Selbsterfahrungsgruppen2, zum anderen durch eine aus dem „Utopieverlust“ resultierende, allerdings heiß umstrittene pragmatische Anpassung an die gegebenen politischen Strukturen.

Enttäuscht wurden auch die hohen Erwartungen an eine finanzielle Entlastung der privaten Haushalte, die von der christlich-liberalen Bundesregierung in den 1980er-Jahren mit der Ankündigung einer durchgreifenden Steuerreform geschürt wurden. Dass die Öffentlichkeit die in mehreren Schritten bis 1990 umgesetzten Reformen nicht als die steuerpolitische „Wende“ anerkennen wollte, als die sie von der Bundesregierung angepriesen worden war, führte wiederum zur Enttäuschung bei maßgeblichen Protagonisten wie Finanzminister Gerhard Stoltenberg (CDU), der nach außen jedoch einen entemotionalisierten Habitus der von der öffentlichen Meinung unberührten Pflichterfüllung pflegte. Diese Form der emotionalen Selbstführung schreibt Gotto auch anderen Politikern zu, wobei unklar bleibt, ob es sich um eine situative Reaktion, ein berufstypisches Phänomen oder eine vorgängige, vielleicht auch generationelle Prägung handelte. In einem kürzeren, unspezifisch mit „Engagement und Enttäuschung“ überschriebenen vierten Kapitel wird dann noch eine Reihe politischer Enttäuschungserfahrungen „von unten“ behandelt, an der Basis der Parteien und in den Neuen Sozialen Bewegungen.

Gotto rekonstruiert nicht allein die vielfältigen Formen der individuellen wie kollektiven Erfahrung und Verarbeitung von Enttäuschung, sondern zum Beispiel auch die kommunikative Funktion von Enttäuschungsäußerungen, den Umgang mit antizipierten und realen Enttäuschungen in der Öffentlichkeit oder Versuche der strategischen Enttäuschungshervorbringung und -eindämmung. Das stellt eine zweifellos beachtliche Durchdringung der Materie dar, doch ist das Gesamtbild, das sich aus der minutiösen Enttäuschungsspurensuche am Ende ergibt, recht unübersichtlich. Vor allem bleibt unklar, welche übergreifenden Schlussfolgerungen sich aus den Einzelbefunden für die bundesrepublikanische Demokratiegeschichte der 1970er- und 1980er-Jahre ziehen lassen.

Das Fazit verbleibt diesbezüglich weitgehend im Modus der Negation: Weder tauge das Gefühl der Enttäuschung als „Epochenlabel“ für den Untersuchungszeitraum, noch habe die „differenzierte Perspektive auf den Auf- und Abbau von Erwartungshorizonten“ Indizien für einen „mentalitätsgeschichtlichen Einschnitt Mitte der 1970er Jahre“ erbracht (S. 349). Gotto wendet seine Untersuchungsergebnisse hier gegen die allerdings nur sehr grob gezeichnete These vom „Strukturbruch nach dem Boom“, die seit rund einem Jahrzehnt die Zeitgeschichtsforschung zu den 1970er-Jahren befruchtet.3 Zugleich jedoch hebt er noch einmal den „Utopieverlust“ in Gewerkschaften und Frauenbewegung hervor, den er als Loslösung „von fundamentalen Gewissheiten und sinnstiftenden Zukunftserwartungen“ definiert (S. 355). Zeichnete sich hier nicht ebenso ein tiefgreifender Wandel politischer Mentalitäten ab wie in der sicherlich minoritären, aber doch neuartigen Emotionspolitik des alternativen Milieus? Das Ausmaß der Veränderungen im Verhältnis zwischen Emotionen und Politik ist freilich auch deshalb schwer aus Gottos Studie abzuleiten, weil sie kaum Aussagen über die vorherigen Bedingungen der 1950er- und 1960er-Jahre trifft.

Nicht so recht überzeugen kann den Rezensenten auch die abschließende Bemerkung, dass Enttäuschung im Untersuchungszeitraum „nie eine ernste Gefahr für die bundesdeutsche Demokratie“ gewesen sei, weil sie sich „zumeist auf konkrete Auslöser bezogen“ habe, ihre Bewältigungsformen „immer im Rahmen demokratisch akzeptierter Verfahren“ geblieben seien und Enttäuschungen in Form von „Neuverhandlung und Utopieverlust“ einen „breiten Resonanzraum hatten“ (S. 358). Das entbehrt nicht einer gewissen Zirkularität: Enttäuschung schlug nicht in Demokratiefeindschaft um, weil die Enttäuschten sie auf demokratischem Wege verarbeiteten. Zum einen zeigen sich hier die Grenzen des emotionsgeschichtlichen Ansatzes, der für sich genommen dann doch nicht ausreicht, um die Stabilität der zweiten deutschen Demokratie in einer Phase virulenter Krisenwahrnehmungen und politischer Polarisierung zu erklären. Zum anderen bleibt offen, wie sich die bis zur terroristischen Gewalt gehende Radikalisierung am linken und am rechten politischen Rand, die der Untersuchungszeitraum immerhin auch mit sich brachte, in diesen Zusammenhang einordnen lässt.

Gleichwohl: Analytisch auf hohem Niveau und auf breiter Quellenbasis dicht beschreibend, belegt Bernhard Gottos Studie, dass keine simple Kausalkette von politischen Enttäuschungserfahrungen zur Abwendung von der Demokratie führt. Sie vermittelt dabei erhellende Einblicke in das Emotionsmanagement der verschiedenen Akteursgruppen und besonders auch in die relevanten Rückkopplungsschleifen zwischen Politik und Medien. Damit ergänzt sie die Forschung zu den behandelten Themenfeldern um eine anregende emotions- wie auch mediengeschichtliche Perspektive.

Anmerkungen:
1 Frank Biess, Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik, Reinbek bei Hamburg 2019; rezensiert von Eckart Conze, in: H-Soz-Kult, 04.07.2019, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-29632 (26.07.2019).
2 Hierzu jüngst: Joachim C. Häberlen, The Emotional Politics of the Alternative Left. West Germany 1968–1984, Cambridge 2018; rezensiert von Sebastian Gehrig, 05.06.2019, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-29294 (26.07.2019).
3 Siehe u.a. Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, 3., ergänzte Aufl. 2012; Konrad H. Jarausch (Hrsg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008; Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael / Thomas Schlemmer (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016.