S. Brewitt-Taylor: Christian Radicalism in the Church of England

Cover
Titel
Christian Radicalism in the Church of England and the Invention of the British Sixties, 1957–1970. The Hope of a World Transformed


Autor(en)
Brewitt-Taylor, Sam
Reihe
Oxford Historical Monographs
Erschienen
Anzahl Seiten
XIII, 272 S.
Preis
£ 65.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerulf Hirt, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

„Our Image of God Must Go“ – so der provokante Titel eines Aufsatzes des anglikanischen Suffraganbischofs von Woolwich, John A. T. Robinson, der am 17. März 1963 in der Sonntagszeitung „The Observer“ erschien. Zwei Tage darauf veröffentlichte Robinson seinen theologischen Bestseller „Honest to God“, der für großes Aufsehen sorgte: Als innerhalb der britischen Gesellschaft der 1960er-Jahre der christliche Glaube an Gott an Relevanz zu verlieren und die Jahrhunderte alte soziale Bindungskraft einer genuin anglikanischen „Britishness“ bzw. „Englishness“ zu erodieren schien, kritisierte ausgerechnet ein Bischof der anglikanischen Staatskirche das traditionelle Gottesbild des Supranaturalismus und Theismus. In Anlehnung an die deutschen Theologen Dietrich Bonhoeffer, Rudolf Bultmann und Paul Tillich plädierte „Honest to God“ dafür, Gott als die Liebe in zwischenmenschlichen Beziehungen, mithin als den Grund und die Tiefe unseres Seins zu verstehen. Insofern erscheint das heute verbreitete Labeling dieses Ansatzes als „Death of God“-Theologie irreführend und jenes eines „English Bonhoefferism“ (Mark Chapman) ungleich treffender. Robinson wollte Gott in den Alltag der Menschen hineinschreiben und dadurch einer zunehmenden Entfremdung vieler Anglikaner/innen von der Church of England entgegenwirken. Dieses „radikale Christentum“ stieß auf vehemente Kritik von evangelikalen wie katholischen Anglikaner/innen (wegen Robinsons „Verrats“ des biblischen Gottesbildes bzw. der kirchlichen Tradition), aber auch von der Kirche Fernstehenden wegen seiner „Werbung“ für das Christentum.

Bisher fehlte es an einer umfassenden, systematischen und detaillierten Untersuchung der Bewegung des „radikalen Christentums“ – jenseits seines prominentesten Exponenten Robinson – in Englands 1960er-Jahren. Dieses drängende Desiderat verspricht die vorliegende (an der Universität Oxford entstandene) Dissertationsschrift des britischen Historikers Sam Brewitt-Taylor nun aus einer kulturhistorischen Perspektive zu beheben. Unter einem „radikalen Christentum“ versteht der Verfasser eine neue spirituelle Bewegung, die ihre (größtenteils anglikanischen) Wurzeln in Theologenkreisen an der Universität Cambridge und in der Diözese von Southwark (zu der Woolwich gehörte) im Süden Londons hatte. In der „Scharnierdekade“ (Hugh McLeod) der 1960er-Jahre, die zwischen dem offeneren christlichen Ethos der beiden vorhergehenden Jahrzehnte und der säkulareren Atmosphäre der 1970er- und 1980er-Jahre gelagert war, kritisierten die nahezu ausschließlich männlichen Anhänger dieser Bewegung offensiv konventionelle Formen des Christentums und suchten mit großer Ernsthaftigkeit nach einem alternativen Christentum.

Sam Brewitt-Taylor stellt sich für den Untersuchungsraum der „langen“ 1960er-Jahre (1957 bis 1970) die Frage, warum es zu Beginn des Jahrzehnts zu einem plötzlichen Aufschwung des „radikalen Christentums“ in England bzw. insbesondere in Teilen des Klerus der Church of England kam und warum diese Bewegung eine internationale Bekanntheit erlangte, sich transformierte und schließlich doch zerfiel. Weshalb beanspruchten die Exponenten eines „radikalen Christentums“ ausgerechnet eine genuin christliche Autorität für ein gründliches „Säkularisierungsprogramm“? Und inwiefern könnte eine Neubewertung dieser christlichen Dimension unsere bestehenden Annahmen über die Natur und Ursachen der 1960er-Jahre in England grundlegend in Frage stellen?

Bekanntlich hat sich seit einiger Zeit die vornehmlich geschichtswissenschaftliche und religionssoziologische Kritik an der Säkularisierungsthese, die in ihrem Kern eine Kompatibilität von Religion und Moderne ausschließt, stark ausdifferenziert. Mitunter hat sie sich in prononcierten Gegenthesen – etwa „Desäkularisierung“ (Peter L. Berger), „Rückkehr der Götter“ (Friedrich Wilhelm Graf) oder „Wiederverzauberung der Welt“ (Ulrich Beck) – niedergeschlagen. Nicht minder kontrovers setzen sich mehrere kirchenhistorische, (religions)soziologische und sozialhistorische Studien mit den 1960er-Jahren und dem Prozess der sogenannten Säkularisierung in England auseinander. Während einige Forscher/innen angesichts einer drastischen Abnahme der Mitgliederzahlen in allen protestantischen Kirchen bereits um die Jahrhundertwende einen „Death of Christian Britain“ (Callum G. Brown) diagnostizieren, sprechen wiederum andere vorsichtiger von einer sukzessiven „Transformation“ (Jane Garnett), zumal einige kirchliche Rites de Passage (etwa das Heiraten) durchaus verbreitet blieben. Nicht selten wird pauschalisierend eine Art „Shift“ von der noch in den 1950er-Jahren in England vorherrschenden amtskirchlich-ritualisierten und gemeinschaftlich zelebrierten Religionsausübung hin zu einer entkirchlichten individuell-privatisierten Religiosität vieler englischer (vornehmlich protestantischer) Christen in den 1960er-Jahren proklamiert. Allerdings handelt es sich dabei zunächst um vorempirische Annahmen, über deren konkrete Ausprägungen nur sehr wenige valide Aussagen vorliegen. Im Grunde wissen wir noch immer kaum etwas über die konkreten Ausprägungen eines „believing without belonging“ (Grace Davie), sei es in England oder in Westeuropa insgesamt. Auch und insbesondere für den angelsächsischen Raum gilt daher das Diktum Gert Pickels und Detlef Pollacks, wonach die (In-)Kompatibilität von Religion und Moderne ebenso wenig wie die Individualisierung oder Privatisierung von Religion ideologisch vorherbestimmt, sondern historisch wie empirisch möglichst akteurszentriert und schematisch erforscht werden sollte.1

Vor diesem Hintergrund ist positiv hervorzuheben, dass sich Sam Brewitt-Taylor eben nicht in den skizzierten Kontroversen über die empirische Validität einer „Säkularisierung“, Entkirchlichung und Privatisierung von Religion verliert. Stattdessen legt er seinen analytischen Fokus auf die Mechanismen der prozessualen Erfindung und anschließenden Autorisierung von „Säkularität“ innerhalb der britischen Massen- und Mediengesellschaft. Unter „Säkularität“ versteht er folgerichtig „[…] an invented, largely Western culture, which arises when people narrate their culture as permanently departing from an imagined universal condition called ‚religion’” (S. 8).

Unter diesen theoretischen Prämissen, vornehmlich gestützt auf archivalische und publizierte Schriftquellen sowie wenige Interviews, und konsequent von der eingangs dargelegten Fragestellung ausgehend, gliedert sich die Studie in insgesamt sieben Kapitel. Diese sind ungefähr gleich gewichtet und werden von einer konzisen Einleitung und einem resümierenden Schlusskapitel eingerahmt, wobei der „rote Faden“ der durchgehend mit Verve geschriebenen Arbeit überdeutlich hervortritt: Sam Brewitt-Taylor spürt nicht nur kritisch-reflektiert der Rolle des „christlichen Radikalismus“ hinsichtlich der Konzeption einer säkularen Theologie nach, sondern untersucht auch dessen Bedeutung in den komplexen Prozessen der ökumenischen Beziehungen unterschiedlicher christlicher Kirchen und nicht zuletzt auch hinsichtlich der Hoffnung auf eine Überwindung von „Religion“.

Der Kernthese der vorliegenden Studie, dass „[…] Britain’s moral revolution had chiefly cultural causes, and that these causes originated most especially in fears of nuclear annihilation, commonplace throughout the West during this most desperate episode of the Cold War“ (S. 13), ist bis zur Mitte der 1960er-Jahre zweifellos zuzustimmen. Doch ab da und bis zum Ende des Jahrzehnts drängt sich die Frage auf, ob Brewitt-Taylor für diese Phase nicht die Auswirkungen der voranschreitenden Dekolonisationsprozesse, die gesellschaftlichen Einflüsse und Wahrnehmungen der sukzessiven Transformation Englands hin zu einem multiethnischen und multireligiösen „melting pot“ unterschätzt. Gleiches gilt für den gegen Ende des Jahrzehnts eskalierenden ethnisch-religiösen Konflikt in Nordirland. Die wichtige Beobachtung, dass „[…] the inventors of Britain’s Sixties should be sought chiefly amongst Britain’s cultural elites” (S. 15), da eben diese das Säkularisierungsnarrativ über die (von Eliten kontrollierten) Massenmedien verbreitet hätten, entbindet nicht von der empirisch weitaus schwieriger zu beantwortenden Frage nach dessen Rezeption innerhalb der britischen Gesellschaft insgesamt. Dass die spannende Frage, ob und inwiefern „normale Leute“ dem massenmedial popularisierten Metanarrativ einer „Säkularisierung“ ab welchem Zeitpunkt genau Glauben schenkten bzw. sich dieses wie genau aneigneten, schwerlich beantwortet werden kann, reflektiert Brewitt-Taylor dann jedoch erfrischend kritisch.

Zweifellos kann der Verfasser seinen Anspruch einlösen, die erste umfassende Studie zum „christlichen Radikalismus“ in Englands 1960er-Jahren vorgelegt zu haben. Davon abgesehen ist kritisch anzumerken, dass der methodische Ansatz zur Analyse der Schriftquellen vage bleibt. Bis auf eine sehr kurze Erläuterung hinsichtlich der Interview-Methodologie wird der methodisch-analytische Zugriff auf die heterogenen Schriftquellen weder systematisch dargelegt noch kritisch reflektiert, was zumindest aus einer deutschen Perspektive heraus irritiert. Demgegenüber verhält sich die mitunter ungewöhnliche Formatierung einiger Fußnoten, die bisweilen neben- und nicht konsequent untereinander erfolgt, als eine Marginalie (etwa S. 40, 53, 122, 232).

Brewitt-Taylors Studie belegt einmal mehr die Richtigkeit der Appelle des britischen Historikers Hugh McLeod und der britischen Soziologin Grace Davie, dass die internen Dynamiken des kirchlichen bzw. christlichen Lebens als integrale Bestandteile soziokulturellen Wandels analysiert werden müssen.2 Bemerkenswert ist insbesondere, dass die in den 1960er-Jahren relativ plötzliche Umschreibung bzw. Neukodierung Englands als eine genuin säkulare Gesellschaft ursprünglich ausgerechnet von engagierten Christen vorangetrieben wurde und vor allem deshalb „erfolgreich“ war, weil sie auch von christlichen Kommentatoren in den britischen Massenmedien Anfang der 1960er-Jahre disseminiert wurde.

Anmerkungen:
1 Detlef Pollack / Gergely Rosta, Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt am Main 2015, S. 12, 460; Gert Pickel, Religionssoziologie. Eine Einführung in zentrale Themenbereiche, Wiesbaden 2011, S. 181.
2 Hugh McLeod, The Religious Crisis of the 1960s, Oxford 2007; Grace Davie, Religion in Britain since 1945. Believing Without Belonging, Oxford 1994.

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