Charakene heißt bei Plinius d. Ä. und dem Geographen Ptolemaios der äußerste Süden Mesopotamiens, mithin das Mündungsgebiet von Euphrat und Tigris um die namensgebende Stadt Spasinou Charax, das vormalige Alexandreia am Tigris. Die gräzisiert-aramäisch meist Mesene genannte Landschaft erstreckte sich nordwärts ungefähr bis Apameia am Tigris, umfaßte also das gesamte südliche Babylonien. Die in hellenistisch-parthischer Zeit längst zur imperialen Peripherie gewordene Region konnte damit auf die längste, bis in die Uruk-Zeit zurückreichende urbane Tradition der antiken Oikoumene zurückblicken. Städte mit so klangvollen Namen wie Ur, Nippur und Uruk bestanden weiter und erinnern an die atemberaubende historische Kontinuität von nicht weniger als 3000 Jahren.
Grund genug, der historischen Landschaft Charakene, gleichsam also dem Nachleben altmesopotamischer Geschichte in klassisch-antiker Zeit, eine längere Studie zu widmen, zumal die für den fraglichen Zeitraum verfügbaren, in jüngerer Zeit durch archäologische Feldforschung deutlich angewachsenen Quellen bislang nicht auch nur annähernd für eine historische Gesamtdarstellung ausgeschöpft sind.1 Damit teilt die Charakene das Schicksal weiter Teile des Orients in hellenistisch-römischer Zeit, wo noch viele weiße Flecken der Aufarbeitung harren. Diesem Mißstand abzuhelfen, hat sich die neue, von Josef Wiesehöfer herausgegebene Reihe "Oriens et Occidens" verschrieben, die bereits mit zwei einschlägigen Bänden aufwarten kann.2
Die Kieler Dissertation von Monika Schuol ist also bestens legitimiert. Sie kann sich als Pionierarbeit und Grundlagenforschung im besten Sinne verstehen. Die Zielsetzung der umfangreichen und ansprechend aufgemachten Studie geht nichtsdestoweniger weiter: Eine "Darstellung von Geschichte, Wirtschaft und Kultur des charakenischen Königreiches in der Zeit zwischen seiner Gründung [...] und der sasanidischen Eroberung dieses Gebiets" (S. 13) möchte sie liefern und darüber hinaus das Herrschaftsgebilde der Charakene "in einen größeren historischen Kontext" (ebd.) stellen. Die Fragestellungen sind so interessant wie naheliegend, nur stoßen so weitgesteckte Ziele angesichts der spezifischen historischen Überlieferungssituation - im Befund überwiegen numismatische Zeugnisse, die, abgesehen von Problemen der Zuweisung und Datierung, gravierende Schwierigkeiten im Sinn der Forschungsziele aufwerfen - an ihre natürlichen Grenzen. Dieser Grenzen ist sich Schuol bewußt, doch wird man ihre Arbeitsergebnisse am selbstgesteckten Anspruch messen müssen.
Der eigentlichen Darstellung stellt die Verfasserin, nach einem kurzen Blick auf die Forschungsgeschichte (Abschnitt II), einen umfänglichen kommentierten Quellenapparat (Abschnitt III) voran, der mehr als die Hälfte der gesamten Arbeit ausmacht. Ein solches Vorgehen mag im speziellen Fall der Charakene (mit extrem heterogenen zur Analyse herangezogenen Quellenhorizonten, von den Ruinen von Spasinou Charax bis hin zu Zeugnissen der chinesischen und arabischen Geschichtsschreibung) gerechtfertigt erscheinen - die Leselust des Publikums verwandelt sich trotzdem beim Durcharbeiten der allzu oft allzu trockenen Materie rasch in eine wahre Leselast. Es fragt sich, ob die Autorin in ihrem Bemühen, die darstellenden Kapitel zu "entlasten" (S. 18), einer weisen Eingebung gefolgt ist. Dennoch und immerhin: Mit ihrer sachkundig kommentierten und obendrein um nützliche Literaturhinweise erweiterten Materialsammlung gibt sie dem Leser ein ergiebiges Kompendium unterschiedlichster Quellen an die Hand.
Im folgenden (Abschnitt IV) wendet sich Schuol der politischen Geschichte der Charakene zu. Die Landschaft errang unter dem wohl von Antiochos IV. als Satrapen eingesetzten Hyspaosines vor dem Hintergrund der inneren Krise des Seleukidenreichs ein wachsendes Maß an Autonomie, das sich in eigenen Münzprägungen (ab ca. 140 v. Chr.) manifestierte und die Charakene schließlich zu einem souveränen Königreich werden ließ (ca. 128/27). Als solches geriet es in den Sog der parthischen Expansion und wurde abermals autonomer Teilstaat einer imperialen Macht, diesmal des Partherreichs (ca. 122/21). Insgesamt behauptete die Charakene noch lange unter der Dynastie der Hyspaosiniden (mit Unterbrechungen bis ca. 180 n. Chr.) ihren autonomen Status, allerdings mit unterschiedlicher Ausprägung im einzelnen: Mehrfach griffen die Parther in die dynastische Erbfolge der Charakene ein; zweimal kassierten sie gar dem Anschein nach die Autonomie des Königreichs und etablierten eine, jeweils nur kurzlebige, direkte Herrschaft (80/81-101/02 n. Chr.; 116/17-ca. 131, von Nodelman und Schuol jeweils unpassend "interregnum" genannt). Umgekehrt erlangten die Könige der Charakene mehrfach, in Zeiten einer geschwächten Zentralmacht, soviel Handlungsspielraum, daß sie im Verband des Partherreichs expandieren konnten.
Schuols Rekonstruktion der Ereignisgeschichte, meist auf der Grundlage von Münzen und literarischen Zeugnissen, ist insgesamt plausibel, wenngleich manches unbeweisbar bleibt und als Postulat im Raum stehen bleibt. Jedenfalls geht sie im Detail über den kurzen Abriß von Nodelman hinaus. Uneingelöst bleibt indes der Anspruch, das Geschehen in einen "größeren Kontext" zu stellen. Deshalb kann Schuol auch nichts substantiell Neues zur politischen Rolle eines autonomen Königreichs im Partherreich wie der Charakene beisteuern. Zu sehr ist ihre Darstellung einem bloßen antiquarischen Referieren verhaftet, zu sehr stellt sie das Allgemeine hinter dem Idiographisch-Individuellen ihres Gegenstands zurück. Dabei ließen sich elementare Kategorien der konventionellen Macht- und Politikgeschichte als grobe Orientierungspunkte treffsicher und effizient auf die Verhältnisse im parthischen Südmesopotamien anwenden: Alle Imperien haben ein Zentrum, das sie direkt beherrschen. Darum lagern sich mit abnehmender Intensität beherrschte Peripherien, von Provinzen, über Klientel- und Vasallenstaaten (wie die Charakene) bis hin zu noch loseren Formen der Abhängigkeit. Indirekter Herrschaft entspricht immer (innere) Autonomie der Vasallen, mit zahlreichen Grauschattierungen bis zur völligen Souveränität.3
Dadurch, daß Schuol nur ihrem Gegenstand verhaftet ist und auf jede strukturgeschichtliche Grundierung verzichtet, wirbelt sie die Kategorien oft munter durcheinander: Oberhoheit, (Teil-) Autonomie, (weitgehende) Unabhängigkeit, politische Autorität, Interregnum werden unterschiedslos gebraucht und verlieren damit jede analytische Schärfe. Was etwa hat man sich unter einer "direkten parthischen Oberherrschaft" (S. 454) vorzustellen? Unter Trajan wurde die Charakene ins Imperium Romanum "eingegliedert" (S. 346) - aber wie und als was? Als römischer Klientelstaat? Die Charakene expandierte unter Attambelos III. auf parthische Kosten nach Norden - wie hat man sich das Verhältnis zwischen Suzerän und Klientelstaat, wie die hierarchische Strukturierung des Partherreichs konkret vorzustellen? Auf diese und ähnliche Fragen muß Schuol die Antwort schuldig bleiben.4
Zudem fehlt Schuol völlig der Blick für die Kontingenz des historischen Geschehens, die sie in intentionales, gar strategisches Kalkül umdeutet, wenn sie etwa die der Charakene gewährte Autonomie als Ausdruck eines umfassenden "Herrschafts- und Reichskonzepts" (S. 456) der Parther wertet. Viel wahrscheinlicher waren die Parther zur direkten Beherrschung ihrer Peripherie einfach nicht in der Lage und beließen daher einheimische Dynastien notgedrungen in Amt und Würden. Quellenpositivismus und theoretisch-methodische Unbefangenheit der Verfasserin schlagen sich schließlich in ihrer kritiklosen Übernahme von Wertungen und Urteilen ihrer Quellen nieder: Daß Mithradates von Armenien ein "unbeliebter und grausamer König" (S. 329) war, hält sie mit ihrer Quelle Tacitus für einen hinreichenden Grund für seine Vertreibung. Mithradates schien damit für Armenien eine Tradition zu begründen, denn auch sein Nachfolger Rhadamistos herrschte "mit großer Grausamkeit" (S. 333). Ein handfester Irrtum - der Friede von Apameia wurde in Apameia in Phrygien, nicht in "Apameia/Orontes" (S. 268), geschlossen - rundet das insgesamt schwache Bild des Abschnitts ab.
Den Hauptteil schließt ein auf der Basis von Sekundärliteratur erarbeiteter Abriß über "die Handelszentren der hellenistischen Zeit" (Abschnitt V) ab, der einen breiten Bogen von Palmyra bis zum chinesischen Han-Reich schlägt und Interessantes zum antiken Ost-West-Fernhandel beisteuert. Nicht immer klar ist der Bezug zur Charakene, die zwar seit dem 1. Jh. v. Chr. das ostarabische Gerrha als Drehscheibe des interkontinentalen Fernhandels ablöste, deren genaue Funktion aber - mangels aussagekräftiger Quellen - nicht recht klar wird. Noch am meisten wissen wir über die Organisation der am Persischen Golf ansässigen palmyrenischen Kaufleute, die wohl einen Großteil des römischen Orienthandels kanalisierten.
Schuols Studie ist am Ende eine eindrucksvolle, auch nützliche Materialsammlung, die indes die eingangs geweckten Erwartungen nicht erfüllen kann. Das liegt zum Teil an der immer noch vergleichsweise dürftigen Befundlage, die Interpretationen immer nur begrenzter Reichweite gestattet und eigentlich schon vorab zu Bescheidenheit nötigen sollte. Das liegt aber auch und gerade an der historischen und methodischen Unbedarftheit der Verfasserin, die viele Möglichkeiten, ihrem Bild schärfere Konturen zu geben, ungenutzt läßt. Schuols Studie wird aber zweifellos zur weiteren Beschäftigung mit der Geschichte der Charakene anregen.
1 Die einzige Gesamtdarstellung ist mehr als vierzig Jahre alt, behandelt ausschließlich die politische Geschichte der Charakene und umfaßt kaum 40 Seiten. Dennoch ist Sheldon A. Nodelman, A Preliminary History of Charakene, Berytus 13 (1959/60), 83-121, XXVII f., unentbehrlicher Referenzpunkt.
2 Als 2. Band der Reihe jetzt die Berliner Dissertation von Udo Hartmann, Das palmyrenische Teilreich, Stuttgart 2001.
3 Zu den Kategorien Imanuel Geiss, Great Powers and Empires. Historical Mechanisms of their Making and Breaking, in: Geir Lundestad (Hg.), The Fall of Great Powers. Peace, Stability, and Legitimacy, Oslo/Oxford 1994, 23-43. Der Rezensent hat, bei zugegebenermaßen besserer Dokumentationslage, am Beispiel des seleukidischen Babylonien, also der unmittelbaren "Vorgeschichte" der Charakene, einen Versuch zur Anwendung der Kategorie "indirekte Herrschaft" unternommen. Vgl. Michael Sommer, Babylonien im Seleukidenreich. Indirekte Herrschaft und indigene Bevölkerung, in: Klio 82 (2000), 73-90.
4 Vgl. aber zur inneren Struktur des Partherreichs Josef Wiesehöfer, Das antike Persien, 2. Aufl., Düsseldorf/Zürich 1998, 198f.