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Titel
Die Charakene. Ein mesopotamisches Königreich in hellenistisch-parthischer Zeit


Autor(en)
Schuol, Monika
Reihe
Oriens et occidens 1
Erschienen
Stuttgart 2000: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
554 S.
Preis
EUR 75,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Sommer, Orientalisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Charakene heißt bei Plinius d. Ä. und dem Geographen Ptolemaios der äußerste Süden Mesopotamiens, mithin das Mündungsgebiet von Euphrat und Tigris um die namensgebende Stadt Spasinou Charax, das vormalige Alexandreia am Tigris. Die gräzisiert-aramäisch meist Mesene genannte Landschaft erstreckte sich nordwärts ungefähr bis Apameia am Tigris, umfaßte also das gesamte südliche Babylonien. Die in hellenistisch-parthischer Zeit längst zur imperialen Peripherie gewordene Region konnte damit auf die längste, bis in die Uruk-Zeit zurückreichende urbane Tradition der antiken Oikoumene zurückblicken. Städte mit so klangvollen Namen wie Ur, Nippur und Uruk bestanden weiter und erinnern an die atemberaubende historische Kontinuität von nicht weniger als 3000 Jahren.

Grund genug, der historischen Landschaft Charakene, gleichsam also dem Nachleben altmesopotamischer Geschichte in klassisch-antiker Zeit, eine längere Studie zu widmen, zumal die für den fraglichen Zeitraum verfügbaren, in jüngerer Zeit durch archäologische Feldforschung deutlich angewachsenen Quellen bislang nicht auch nur annähernd für eine historische Gesamtdarstellung ausgeschöpft sind.1 Damit teilt die Charakene das Schicksal weiter Teile des Orients in hellenistisch-römischer Zeit, wo noch viele weiße Flecken der Aufarbeitung harren. Diesem Mißstand abzuhelfen, hat sich die neue, von Josef Wiesehöfer herausgegebene Reihe "Oriens et Occidens" verschrieben, die bereits mit zwei einschlägigen Bänden aufwarten kann.2

Die Kieler Dissertation von Monika Schuol ist also bestens legitimiert. Sie kann sich als Pionierarbeit und Grundlagenforschung im besten Sinne verstehen. Die Zielsetzung der umfangreichen und ansprechend aufgemachten Studie geht nichtsdestoweniger weiter: Eine "Darstellung von Geschichte, Wirtschaft und Kultur des charakenischen Königreiches in der Zeit zwischen seiner Gründung [...] und der sasanidischen Eroberung dieses Gebiets" (S. 13) möchte sie liefern und darüber hinaus das Herrschaftsgebilde der Charakene "in einen größeren historischen Kontext" (ebd.) stellen. Die Fragestellungen sind so interessant wie naheliegend, nur stoßen so weitgesteckte Ziele angesichts der spezifischen historischen Überlieferungssituation - im Befund überwiegen numismatische Zeugnisse, die, abgesehen von Problemen der Zuweisung und Datierung, gravierende Schwierigkeiten im Sinn der Forschungsziele aufwerfen - an ihre natürlichen Grenzen. Dieser Grenzen ist sich Schuol bewußt, doch wird man ihre Arbeitsergebnisse am selbstgesteckten Anspruch messen müssen.

Der eigentlichen Darstellung stellt die Verfasserin, nach einem kurzen Blick auf die Forschungsgeschichte (Abschnitt II), einen umfänglichen kommentierten Quellenapparat (Abschnitt III) voran, der mehr als die Hälfte der gesamten Arbeit ausmacht. Ein solches Vorgehen mag im speziellen Fall der Charakene (mit extrem heterogenen zur Analyse herangezogenen Quellenhorizonten, von den Ruinen von Spasinou Charax bis hin zu Zeugnissen der chinesischen und arabischen Geschichtsschreibung) gerechtfertigt erscheinen - die Leselust des Publikums verwandelt sich trotzdem beim Durcharbeiten der allzu oft allzu trockenen Materie rasch in eine wahre Leselast. Es fragt sich, ob die Autorin in ihrem Bemühen, die darstellenden Kapitel zu "entlasten" (S. 18), einer weisen Eingebung gefolgt ist. Dennoch und immerhin: Mit ihrer sachkundig kommentierten und obendrein um nützliche Literaturhinweise erweiterten Materialsammlung gibt sie dem Leser ein ergiebiges Kompendium unterschiedlichster Quellen an die Hand.

Im folgenden (Abschnitt IV) wendet sich Schuol der politischen Geschichte der Charakene zu. Die Landschaft errang unter dem wohl von Antiochos IV. als Satrapen eingesetzten Hyspaosines vor dem Hintergrund der inneren Krise des Seleukidenreichs ein wachsendes Maß an Autonomie, das sich in eigenen Münzprägungen (ab ca. 140 v. Chr.) manifestierte und die Charakene schließlich zu einem souveränen Königreich werden ließ (ca. 128/27). Als solches geriet es in den Sog der parthischen Expansion und wurde abermals autonomer Teilstaat einer imperialen Macht, diesmal des Partherreichs (ca. 122/21). Insgesamt behauptete die Charakene noch lange unter der Dynastie der Hyspaosiniden (mit Unterbrechungen bis ca. 180 n. Chr.) ihren autonomen Status, allerdings mit unterschiedlicher Ausprägung im einzelnen: Mehrfach griffen die Parther in die dynastische Erbfolge der Charakene ein; zweimal kassierten sie gar dem Anschein nach die Autonomie des Königreichs und etablierten eine, jeweils nur kurzlebige, direkte Herrschaft (80/81-101/02 n. Chr.; 116/17-ca. 131, von Nodelman und Schuol jeweils unpassend "interregnum" genannt). Umgekehrt erlangten die Könige der Charakene mehrfach, in Zeiten einer geschwächten Zentralmacht, soviel Handlungsspielraum, daß sie im Verband des Partherreichs expandieren konnten.

Schuols Rekonstruktion der Ereignisgeschichte, meist auf der Grundlage von Münzen und literarischen Zeugnissen, ist insgesamt plausibel, wenngleich manches unbeweisbar bleibt und als Postulat im Raum stehen bleibt. Jedenfalls geht sie im Detail über den kurzen Abriß von Nodelman hinaus. Uneingelöst bleibt indes der Anspruch, das Geschehen in einen "größeren Kontext" zu stellen. Deshalb kann Schuol auch nichts substantiell Neues zur politischen Rolle eines autonomen Königreichs im Partherreich wie der Charakene beisteuern. Zu sehr ist ihre Darstellung einem bloßen antiquarischen Referieren verhaftet, zu sehr stellt sie das Allgemeine hinter dem Idiographisch-Individuellen ihres Gegenstands zurück. Dabei ließen sich elementare Kategorien der konventionellen Macht- und Politikgeschichte als grobe Orientierungspunkte treffsicher und effizient auf die Verhältnisse im parthischen Südmesopotamien anwenden: Alle Imperien haben ein Zentrum, das sie direkt beherrschen. Darum lagern sich mit abnehmender Intensität beherrschte Peripherien, von Provinzen, über Klientel- und Vasallenstaaten (wie die Charakene) bis hin zu noch loseren Formen der Abhängigkeit. Indirekter Herrschaft entspricht immer (innere) Autonomie der Vasallen, mit zahlreichen Grauschattierungen bis zur völligen Souveränität.3

Dadurch, daß Schuol nur ihrem Gegenstand verhaftet ist und auf jede strukturgeschichtliche Grundierung verzichtet, wirbelt sie die Kategorien oft munter durcheinander: Oberhoheit, (Teil-) Autonomie, (weitgehende) Unabhängigkeit, politische Autorität, Interregnum werden unterschiedslos gebraucht und verlieren damit jede analytische Schärfe. Was etwa hat man sich unter einer "direkten parthischen Oberherrschaft" (S. 454) vorzustellen? Unter Trajan wurde die Charakene ins Imperium Romanum "eingegliedert" (S. 346) - aber wie und als was? Als römischer Klientelstaat? Die Charakene expandierte unter Attambelos III. auf parthische Kosten nach Norden - wie hat man sich das Verhältnis zwischen Suzerän und Klientelstaat, wie die hierarchische Strukturierung des Partherreichs konkret vorzustellen? Auf diese und ähnliche Fragen muß Schuol die Antwort schuldig bleiben.4

Zudem fehlt Schuol völlig der Blick für die Kontingenz des historischen Geschehens, die sie in intentionales, gar strategisches Kalkül umdeutet, wenn sie etwa die der Charakene gewährte Autonomie als Ausdruck eines umfassenden "Herrschafts- und Reichskonzepts" (S. 456) der Parther wertet. Viel wahrscheinlicher waren die Parther zur direkten Beherrschung ihrer Peripherie einfach nicht in der Lage und beließen daher einheimische Dynastien notgedrungen in Amt und Würden. Quellenpositivismus und theoretisch-methodische Unbefangenheit der Verfasserin schlagen sich schließlich in ihrer kritiklosen Übernahme von Wertungen und Urteilen ihrer Quellen nieder: Daß Mithradates von Armenien ein "unbeliebter und grausamer König" (S. 329) war, hält sie mit ihrer Quelle Tacitus für einen hinreichenden Grund für seine Vertreibung. Mithradates schien damit für Armenien eine Tradition zu begründen, denn auch sein Nachfolger Rhadamistos herrschte "mit großer Grausamkeit" (S. 333). Ein handfester Irrtum - der Friede von Apameia wurde in Apameia in Phrygien, nicht in "Apameia/Orontes" (S. 268), geschlossen - rundet das insgesamt schwache Bild des Abschnitts ab.

Den Hauptteil schließt ein auf der Basis von Sekundärliteratur erarbeiteter Abriß über "die Handelszentren der hellenistischen Zeit" (Abschnitt V) ab, der einen breiten Bogen von Palmyra bis zum chinesischen Han-Reich schlägt und Interessantes zum antiken Ost-West-Fernhandel beisteuert. Nicht immer klar ist der Bezug zur Charakene, die zwar seit dem 1. Jh. v. Chr. das ostarabische Gerrha als Drehscheibe des interkontinentalen Fernhandels ablöste, deren genaue Funktion aber - mangels aussagekräftiger Quellen - nicht recht klar wird. Noch am meisten wissen wir über die Organisation der am Persischen Golf ansässigen palmyrenischen Kaufleute, die wohl einen Großteil des römischen Orienthandels kanalisierten.

Schuols Studie ist am Ende eine eindrucksvolle, auch nützliche Materialsammlung, die indes die eingangs geweckten Erwartungen nicht erfüllen kann. Das liegt zum Teil an der immer noch vergleichsweise dürftigen Befundlage, die Interpretationen immer nur begrenzter Reichweite gestattet und eigentlich schon vorab zu Bescheidenheit nötigen sollte. Das liegt aber auch und gerade an der historischen und methodischen Unbedarftheit der Verfasserin, die viele Möglichkeiten, ihrem Bild schärfere Konturen zu geben, ungenutzt läßt. Schuols Studie wird aber zweifellos zur weiteren Beschäftigung mit der Geschichte der Charakene anregen.

1 Die einzige Gesamtdarstellung ist mehr als vierzig Jahre alt, behandelt ausschließlich die politische Geschichte der Charakene und umfaßt kaum 40 Seiten. Dennoch ist Sheldon A. Nodelman, A Preliminary History of Charakene, Berytus 13 (1959/60), 83-121, XXVII f., unentbehrlicher Referenzpunkt.
2 Als 2. Band der Reihe jetzt die Berliner Dissertation von Udo Hartmann, Das palmyrenische Teilreich, Stuttgart 2001.
3 Zu den Kategorien Imanuel Geiss, Great Powers and Empires. Historical Mechanisms of their Making and Breaking, in: Geir Lundestad (Hg.), The Fall of Great Powers. Peace, Stability, and Legitimacy, Oslo/Oxford 1994, 23-43. Der Rezensent hat, bei zugegebenermaßen besserer Dokumentationslage, am Beispiel des seleukidischen Babylonien, also der unmittelbaren "Vorgeschichte" der Charakene, einen Versuch zur Anwendung der Kategorie "indirekte Herrschaft" unternommen. Vgl. Michael Sommer, Babylonien im Seleukidenreich. Indirekte Herrschaft und indigene Bevölkerung, in: Klio 82 (2000), 73-90.
4 Vgl. aber zur inneren Struktur des Partherreichs Josef Wiesehöfer, Das antike Persien, 2. Aufl., Düsseldorf/Zürich 1998, 198f.

Kommentare

Von Sommer, Michael20.06.2002

Entgegnung auf die Replik von Josef Wiesehöfer (28.03.02) zur Rezension von Michael Sommer (24.01.2002) zu
Schuol, Monika: Die Charakene. Ein mesopotamisches Königreich in hellenistisch-parthischer Zeit (= Oriens et Occidens 1), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2000, 554 S., ISBN 3-515-07709-X, EUR 75,00.
von
Michael Sommer, Orientalisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau
E-Mail: <sommermichael@yahoo.com>

Meine Rezension der Kieler Dissertation von Monika Schuol hat den Betreuer der Arbeit, Josef Wiesehöfer, zu einer in Inhalt wie Ton scharfen "Replik" veranlaßt. So ungewöhnlich das Vorgehen ist, ist es doch grundsätzlich Wiesehöfers gutes Recht und ehrenvoll obendrein, seine Doktorandin gegen vermeintlich ungerechtfertigte Kritik in Schutz zu nehmen, zumal sich aus der Debatte viel lernen läßt. Über Wiesehöfers Argumente sollte sich sine ira et studio diskutieren lassen - jenseits aller persönlichen Empfindlichkeiten und Polemik.

Worum geht es? Monika Schuol unternimmt mit ihrer Regionalstudie den Versuch "Geschichte, Wirtschaft und Kultur des charakenischen Königreiches" (Schuol, S. 13) darzustellen und "in einen größeren historischen Kontext" (ebd.) zu stellen. Mit "Kontext", so führt die Verfasserin weiter aus, ist namentlich das "Verhältnis zwischen den Funktionsträgern der Charakene und ihren politischen Vorgesetzten und Nachbarn im Seleukiden- und Partherreich" (ebd.) gemeint. Gegenstand der Arbeit ist also auch und gerade die Analyse übergeordneter Herrschaftsverbände - Imperien eben, wobei das Seleukidenreich schon aus Gründen der Chronologie eine deutlich untergeordnete Rolle spielt.

Die Legitimität des Forschungsziels steht nicht in Frage. Genauso legitim - und keineswegs unredlich - aber ist es, Schuols Studie an ihrem eigenen Anspruch zu messen. Gewiß erschwert die "Unklarheit des Befundes" (Wiesehöfer) klare Aussagen; mehr noch aber verstellt die Verfasserin sich durch ihren Verzicht auf eine eindeutige Begrifflichkeit selbst den Blick. Schuols methodisches Vorgehen führt, in seinem Verzicht auf eine hinreichend trennscharfe Nomenklatur, gerade bei unklaren Befunden in die Aporie. Das von mir vorgeschlagene "Modell" (Wiesehöfer), tatsächlich eher ein (im Sinne Max Webers) idealtypisches Kategorienschema zur wohlgemerkt "groben Orientierung" (Sommer), hätte - bei aller von Wiesehöfer bemängelten "Schlichtheit" 1 - einen solchen methodischen Ausgangspunkt bieten können. Fraglos wäre Schuol mit ihrer fulminanten Quellenkenntnis in der Lage gewesen, ein auf die spezifischen Bedingungen im Partherreich besser zugeschnittenes, differenzierteres Modell zu entwerfen.2

Die Verfasserin verzichtet aber ganz auf ein heuristisches Modell, liefert keine - der Verifikation oder Falsifikation zugängliche - Hypothese und bemüht sich nicht, die von ihr verwendeten, nur scheinbar aus sich heraus verständlichen Begriffe (Oberhoheit, Unabhängigkeit etc.) zu definieren. Hätte sie sich auf entsprechende Kategorien eingelassen, so wären die historisch-individuellen Besonderheiten des Partherreichs und seiner Partikularkönigreiche vor der Kulisse universaler Strukturmerkmale von Großreichen nur um so plastischer hervorgetreten. Was nämlich Wiesehöfer aus seiner Perspektive für Achämeniden- und Arsakidenreich in Anspruch nimmt, ihre "polyethnische, multikulturelle und politisch heterogene" Struktur, gilt per definitionem für alle Imperien, transepochal und transkulturell, ohne Ausnahme vom Akkad-Reich bis zum Roten Imperium der Sowjets.

So ist auch die von mir für die Charakene auf der Grundlage von Schuols Ausführungen zur Anwendung gebrachte Kategorie der "indirekten Herrschaft" keineswegs mit latenter Schwäche oder Instabilität des Partherreichs zu verwechseln. Imperien griffen, wiederum immer und überall, zur Verwaltung ihrer (nicht immer räumlich klar abgegrenzten) Peripherien auf indigene Würdenträger und Dynasten zurück. "Indirekte Herrschaft" verringerte Durchsetzungskosten und Legitimitätsprobleme imperialer Herrschaft; sie war- gerade angesichts von Polyethnizität, Multikulturalität und politischer Heterogenität - in ihren unzähligen historischen Spielarten für alle Großreiche alternativloses Instrument der Machtsicherung,3 mithin nicht Gegenstand eines spezifisch parthischen "Herrschafts- und Reichskonzepts" (Schuol, S. 456). Pate stand vielmehr jene "strukturelle Toleranz" (Jürgen Osterhammel), die Imperien von den sich homogen und unteilbar begreifenden Nationalstaaten abhebt.

Wiesehöfer mißfällt nun, jenseits aller inhaltlichen Kritik, der ganze Tonfall meiner Rezension. Ihm ist in einem besonderen Punkt durchaus Recht zu geben: "Unangebrachte Polemik" (Wiesehöfer), weil unsachlich und auf die Autorin und nicht ihr Buch zielend, ist tatsächlich meine Vorhaltung "historische[r] und methodische[r] Unbedarftheit der Verfasserin" (Sommer), die ich gern mit dem Ausdruck des Bedauerns zurücknehme. Wiesehöfer schießt mit dem Vorwurf mangelnder "Gelassenheit und Fairneß" indes über das eigentliche Ziel hinaus. Er unterschlägt nämlich, daß sich meine Besprechung in ihrem ganzen Duktus - und hier liegen Sinn und Aufgabe von Rezensionen - redlich um das nüchterne Abwägen von Stärken und Schwächen des besprochenen Buches bemüht.

Anmerkungen

1 Gerade in der Schlichtheit von Idealtypen besteht aber nun einmal ihr heuristischer Sinn. Der Idealtypus "wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde. In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar, es ist eine Utopie, und für die historische Arbeit erwächst die Aufgabe, in jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde steht [...]." (Max Weber: Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. v. Marianne Weber, Tübingen 1922, S. 146-214, hier 191). Daß die historische Wirklichkeit dagegen immer "diffizil, vielschichtig und zugleich ... regional- und teilweise lokalspezifisch" (Wiesehöfer) ist, liegt in der Natur der Sache. Die von mir verwendeten Begriffe, namentlich Souveränität und Autonomie, sind durch die Staatsrechtslehre seit langem etabliert und, mit der gebotenen Vorsicht, als Idealtypen auch auf sogenannte vormoderne Gesellschaften anwendbar. Zur prägnanten Definition vgl. Staatslexikon, im Auftrag der Görres-Gesellschaft hrsg. v. H. Sacher u.a., 5. Aufl., Freiburg 1926, s. v. "Autonomie", Bd. 1, Sp. 534-537; s. v. "Souveränität", Bd. 4, Sp. 1639. Ich verwende übrigens bewußt nicht die von Wiesehöfer angeführten, und tatsächlich an spezifische historische Situationen gebundenen Begriffe "Vasallität" (europäisches Mittelalter) und "Klientelverhältnis" (Rom), sondern spreche universalisierend von "Vasallen- und Klientelstaaten".
2 So ließe sich auch die letztlich fruchtlose, weil mit unscharfen Kategorien operierende Diskussion um das Maß an "Unabhängigkeit", das arsakidische Teilkönige genossen, versachlichen. Vgl. etwa am Beispiel der "Könige" von Hatra die Ausführungen von Engelbert Winter: Die sasanidisch-römischen Friedensverträge Friedensverträge des 3. Jahrhunderts n. Chr. Ein Beitrag zu den außenpolitischen Beziehungen zwischen den beiden Großmächten, Frankfurt am Main 1988, 34; ders./B. Dignas: Rom und das Perserreich. Zwei Weltmächte zwischen Konfrontation und Koexistenz, Berlin 2001, 184 ("Die Hatrenser lösten sich insbesondere im Verlauf des 2. Jahrhunderts aus der parthischen Abhängigkeit, und es entwickelte sich ein lockeres Klientelverhältnis zur Arsakidendynastie.") vs. Stefan R. Hauser: Hatra und das Königreich der Araber, in: Josef Wiesehöfer (Hrsg.): Das Partherreich und seine Zeugnisse, Stuttgart 1998, S. 493-528, hier 515 ("... erscheint mehr als fraglich, ob die traditionelle Interpretation des Königstitels als Zeichen von Unabhängigkeit taugt, da dies im Arsakidenreich der übliche Titel für die Herrscher der wichtigsten Provinzen war."); ders.: Rez. Monika Schuol: Die Charakene, Bryn Mawr Classical Review 2001 (http://ccat.sas.upenn.edu/bmcr), 12-20. Die Frage ist nicht, ob die Teilkönige "unabhängig" waren, sondern wo ihr Standort in einem breiten Spektrum der Autonomie zwischen Souveränität und totaler Annexion durch die Zentralmacht lag.
3 Erstmals konzeptionell gefaßt durch Frederick D. Lugard: Political Memoranda. Revision of Instructions to Political Officers on Subjects Chiefly Political and Administrative 1913-1918, 3. Aufl., London 1970.


Von Wiesehöfer, Josef20.06.2002

Replik auf die Rezension von Michael Sommer (24.01.2002)

Die Rezension von Michael Sommer zu der Dissertation meiner Schülerin Monika Schuol kann nicht unwidersprochen bleiben. Sie macht den Leser nämlich nicht nur nicht mit den Stärken und Schwächen des von der DFG für den Druck bezuschußten Buches vertraut, sondern verstellt ihm darüber hinaus mit ihrer unangebrachten Polemik geradezu den Blick für die Probleme und die Bedeutung des Themas.

Der Rez. mißt die Arbeit an dem Ziel der Autorin, eine "Darstellung von Geschichte, Wirtschaft und Kultur des charakenischen Königreiches" zu liefern. Obgleich er weiß und in dem Buch immer wieder lesen kann, daß aufgrund der schwierigen Überlieferungssituation eine wirklich erschöpfende fortlaufende Ereignisgeschichte und eine umfassende Kulturgeschichte der Charakene außerhalb aller Möglichkeiten liegen, mißversteht er ganz bewußt das Wort "Darstellung" in diesem umfassenden Sinne und unterstellt der Autorin deshalb "Unbescheidenheit". Zugleich hält er allerdings die Rekonstruktion der Ereignisgeschichte für "insgesamt plausibel".

Weiter kritisiert er den ausführlichen gesonderten Quellenteil, zu dem der Autorin übrigens von ihrem Betreuer ausdrücklich geraten wurde und dessen quellensprachliche und philologische Voraussetzungen ihm offensichtlich verborgen geblieben sind, dahingehend, daß er "die Leselust des Publikums" in "Leselast" verwandle. Da er ihn andererseits als "ergiebiges Kompendium" charakterisiert, sollte er auch so fair sein zuzugestehen, daß eben darin sein Zweck liegt, nicht in seiner Funktion als Grundlage gefälliger Lektüre.

Entscheidender noch für die grundsätzliche Kritik des Rez. sind allerdings zwei Gesichtspunkte: erstens die angebliche Unfähigkeit der Autorin, das Geschehen in einen "größeren Zusammenhang" zu stellen, genauer: die politische Rolle eines 'autonomen' Königreiches im Partherreich zu bestimmen; zweitens, ihr fehlender "Blick für die Kontingenz des historischen Geschehens". Wenden wir uns beiden Vorwürfen, die wie die gesamte Rezension forsch und mit der Überzeugung vorgetragen werden, selbst Alternativen anbieten zu können, genauer zu: Die Autorin ist der Meinung, eine Regionalstudie wie die ihre könne "einen Beitrag liefern zur Gewinnung eines Gesamtbildes der Praxis politischer Machtausübung der Parther in den verschiedenen Teilen ihres Reiches und über die Herrschaftsstrukturen im Arsakidenreich selbst" (S. 14); in diesem Sinne fordert sie geradezu zu weiteren ähnlichen regionalspezifischen Untersuchungen auf. Demgegenüber ist der Rez. der Überzeugung, "elementare Kategorien der konventionellen Macht- und Politikgeschichte" könnten "als grobe Orientierungspunkte treffsicher und effizient auf die Verhältnisse im parthischen Südwestmesopotamien" angewendet werden: "Alle Imperien haben ein Zentrum, das sie direkt beherrschen. Darum lagern sich mit abnehmender Intensität beherrschte Peripherien, von Provinzen, über Klientel- und Vasallenstaaten (wie die Charakene) bis hin zu noch loseren Formen der Abhängigkeit. Indirekter Herrschaft entspricht immer (innere) Autonomie der Vasallen, mit zahlreichen Grauschattierungen bis zur völligen Souveränität."

Dieses Modell ist nun aber - abgesehen von der Problematik der nur bedingt auf orientalische Verhältnisse übertragbaren bzw. selbst für den antiken Mittelmeerraum höchst umstrittenen Begriffe wie 'Vasallität' und 'Klientelverhältnis' - so schlicht, daß es zur Klärung des Verhältnisses zwischen Zentralgewalt und Partikulargewalten im Arsakidenreich kaum etwas beitragen kann.1 Wäre der Rez. mit der Forschungsdiskussion zum gleichfalls polyethnischen, multikulturellen und politisch heterogenen Achaimenidenreich vertraut, hätte er einen solchen Vorschlag wohl kaum gemacht, einen solchen Vorwurf wohl kaum erhoben: Danach ist nämlich das Verhältnis zwischen Aufsicht durch die Zentrale und gewährter oder respektierter 'Lokalautonomie' so diffizil, vielschichtig und zugleich - übrigens z.T. ohne Zusammenhang mit der Entfernung eines Reichsteils vom Zentrum - so regional-, ja teilweise lokalspezifisch, daß bis heute über die Bedeutung einzelner Faktoren von Kohärenz und Divergenz und die 'Stärke' des Reiches heftig gestritten wird.2 Es waren gerade die zahlreichen Regionalstudien, die diese Schwierigkeiten verdeutlichen und schlichte Modelle korrigieren konnten. Daß der Rez. der Autorin angesichts der Unklarheit des Befundes, die für das Arsakidenreich noch erheblich größer ist als für das Vorgängerreich, vorhält, Kategorien wie Oberhoheit, (Teil-)Autonomie, (weitgehende) Unabhängigkeit etc. "munter durcheinanderzuwirbeln", ist unter diesen Umständen unredlich.

Wenn er zweitens die von der Autorin aufgestellte These, die der Charakene gewährte Autonomie sei Ausdruck eines umfassenden Herrschafts- und Reichskonzeptes der Parther gewesen, dahingehend kritisiert, daß die Parther wohl eher "zur direkten Beherrschung ihrer Peripherie einfach nicht in der Lage" waren und "daher einheimische Dynastien notgedrungen in Amt und Würden" ließen, so zeigt auch dies, daß er mit der Forschung nur bedingt vertraut ist. Entscheidend ist ja gerade, daß die Parther (wie übrigens die Achaimeniden vor ihnen), selbst in Zeiten unbestrittener Machtfülle und trotz ihrer immerhin über 350jährigen Herrschaft über Südmesopotamien, nur in Ausnahmefällen einheimische durch arsakidische Dynasten ersetzten, und das Reich dennoch bis zum eher überraschenden Ende, vom Trajanfeldzug und seinen möglichen Auswirkungen in der Charakene einmal abgesehen, von größeren Sezessionsbestrebungen verschont blieb. Der Rez. möge bedenken, daß angesichts dieser Befunde Vorwürfe wie "historische und methodische Unbedarftheit" auf den zurückfallen könnten, der sie benutzt.

Es bleibt zum Schluß zu wünschen, daß der Rez., dessen Stimme im Konzert der Arsakidenforschung bislang nicht zu vernehmen war, der aber gleichwohl nicht nur dort, sondern auch auf anderen Forschungsfeldern durch wenig zurückhaltende Urteile auf sich aufmerksam gemacht hat, im Laufe der Zeit zu größerer Gelassenheit und Fairneß (nicht zuletzt Kolleginnen und Kollegen gleichen Alters gegenüber) finden möge.

Anmerkungen

1 Gleiches gilt im übrigen für die Tragfähigkeit und Aussagekraft des transkulturellen Vergleichs (zwischen dem seleukidischen Mesopotamien und dem britischen Indien), den der Rez. in Klio 82 (2000), S. 73-90 angestellt hat. Auch dort ist er im übrigen nicht wirklich mit der Forschungsdiskussion (hier zu Mesopotamien im Seleukidenreich) vertraut. Wie eine wirkliche und mehr als oberflächliche transkulturell vergleichende Geschichtswissenschaft auszusehen hätte, verdeutlicht J. Osterhammel, Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, Göttingen 2001.
2 Vgl. P. Briant, L'histoire de l'empire achéménide aujourd'hui: l'historien et ses documents, in: Annales HSS (1999), S. 1127-1136. Eine Arbeitsgruppe an der Stanford University, an der der Autor dieser Entgegnung beteiligt ist, versucht, in interdisziplinärer Zusammenarbeit die Bestimmungsfaktoren und Wirkungsweisen antiker Großreiche im Vergleich der Reiche untereinander zu ergründen.


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