Das hundertjährige Jubiläum der russischen Revolution liegt nun ein Jahr zurück, und neben vielen anderen Schlussfolgerungen lässt sich daraus eine ableiten: Die Nachfrage nach popularisierenden Darstellungen von Geschichte hält an. Weltweit wurden zu 1917 nicht nur Fachkonferenzen abgehalten und neue akademische Überblicksdarstellungen veröffentlicht, sondern auch Theaterstücke, Themenhefte von Illustrierten, Fernsehserien und populärwissenschaftliche Darstellungen produziert – dies selbstverständlich auch in Russland selbst. Während die Regierung dem Jubiläum eher unschlüssig und distanziert gegenüberstand, sah der Buchmarkt zahlreiche populäre Darstellungen, viele von ihnen mit verschwörungstheoretischem Einschlag: Die Februarrevolution als ein Werk der Freimaurer, die Bolschewiki als deutsche oder britische Agenten, und anderes mehr.1
Eine Veröffentlichung setzte sich von dieser Flut angenehm ab. Boris Kolonitski, einer der über die Landesgrenzen hinaus bekanntesten russischen Revolutionshistoriker, präsentiert ein schmales, unspektakulär gestaltetes Bändchen. Der Hashtag im Titel und das Fehlen von Fußnoten weisen auf die populärhistorische Zielrichtung hin, und in der Einleitung hält der Autor fest, das Buch sei ursprünglich konzipiert „für Freunde, die keine professionellen Historiker sind“ (S. 7). Herausgekommen ist dabei erfreulicherweise ein Buch, das nicht nur von der nichtakademischen Leserschaft, sondern auch von Historiker/innen mit Gewinn und Vergnügen gelesen werden kann.
Der Band ist in 17 Kapitel aufgeteilt – kleine, teilweise nur einige wenig Seiten umfassende Essays, die die Ereignisse von den letzten Jahren der Zarenherrschaft bis zur Auflösung der Verfassungsgebenden Versammlung durch die Bolschewiki im Januar 1918 chronologisch aufbereiten. Dabei wird jedoch nicht das gewöhnliche populärhistorische Narrativ bedient, bei dem bloß die „großen Männer“ die Geschichte „machen“. Kolonitski greift scheinbar randständige Sujets auf, die er jeweils in die größeren Kontexte einbettet und damit einen Blick auf das Revolutionsjahr ermöglicht, der sich nicht bloß entlang der Schlüsseldaten entlanghangelt. Dabei bewirkt die geschickte Verknüpfung von Politik-, Sozial-, Kultur- und Alltagsgeschichte, dass die Geschichte der Revolution nicht etwa vereinfacht wird, wie man es von einer populärhistorischen Darstellung erwarten würde, sondern, im Gegenteil, scheinbar bekannter historischer Stoff an Komplexität gewinnt und dadurch erst zu neuer Anschaulichkeit gelangt.
Die Themensetzungen der Kapitel sind bewusst so gewählt, dass sie auf den ersten Blick paradox wirken – so etwa das Essay „Miljukow und Purischkewitsch als Sturmvögel der Revolution“. Der russische Leser, an Maxim Gorkis Revolutionspoem vom Sturmvogel geschult, wundert sich: Was war revolutionär an dem zögerlichen Liberalen und dem reaktionären Antisemiten? Hier, wie auch andernorts, verknüpft Kolonitski geschickt bekannte politikgeschichtliche Sujets mit der Kultur- und Mentalitätsgeschichte von 1917: Miljukows berühmte, im November 1916 in der Duma gehaltene Rede, eine Anklage gegen die unfähige Politik der Zarenregierung, die er mit der rhetorischen Frage „Ist es Dummheit oder Verrat?“ schloss, verband sich in ihrer Rezeption mit der allumgreifenden Furcht vor Spionage in der Kriegsgesellschaft – so wurde aus dem rhetorischen Verratsvorwurf ein konkreter. Die von der Zensur verbotene Rede konnte sowohl links als auch rechts dankbare Multiplikatoren finden, und beförderte letztendlich die Gärung in der Gesellschaft.
Auch in anderen Kapiteln verknüpft der Autor geschickt Personen- und Ereignisgeschichte mit alltags- und kulturgeschichtlichen Problemfeldern. Die Ermordung Rasputins, eines der wohl spektakulärsten Ereignisse im Vorfeld von 1917, bringt Kolonitski mit der Rezeption dieser Figur in der russischen öffentlichen Meinung zusammen, aber nicht bloß als Verführer der Zarenfamilie, sondern als Quelle der grassierenden, nicht nur moralischen, sondern auch ökonomischen Korruption. So seien oftmals Unterschlagungen und Misswirtschaft auf die vorgebliche Verschwörung Rasputins am Zarenhof geschoben worden. In weiteren Kapiteln wird anhand der Figur des letzten Zaren auf wenigen Seiten präzise und anschaulich die Rezeptionsgeschichte der Monarchie im späten Zarenreich resümiert, während am Beispiel des Premierministers der Provisorischen Regierung, Alexander Kerenski, die Genese „revolutionärer“ Führerkulte und ihr Nachhall in der Sowjetgeschichte behandelt wird. Bei beiden Themen kann Kolonitski aus seinen eigenen, in den letzten Jahren erschienen Monographien schöpfen.2
Auch wenn der Autor immer wieder herausragende Persönlichkeiten zu Ausgangspunkten seiner Essays macht, wendet er sich explizit gegen die Personenzentriertheit sowohl der kommunistischen als auch der antikommunistischen Historiographie von 1917 – so vor allem im Kapitel zu Lenins Rolle in der Revolution. Der Bürgerkrieg sei durch die politische Konstellation spätestens ab dem Kornilow-Putsch im Spätsommer 1917 unausweichlich gewesen, und die Politik Lenins habe bloß sein spezifisches Ausbruchsszenario geprägt.
Kolonitskis Fokus liegt, der 1917-Einführung ähnlichen Formats von Steve Smith nicht unähnlich3, auf den „kleinen Leuten“ in der Revolution (so auch der programmatische Titel des letzten Kapitels) – allerdings, und dies im Gegensatz zur anglophonen Sozial- und Alltagsgeschichte, ohne übermäßige Sympathie für sie. Die Oktoberrevolution wird deshalb auch nicht als sozialer Aufbruch gedeutet, sondern als eine Eskalationsstufe auf dem Weg in den Bürgerkrieg. Doch Kolonitskis Geschichte von 1917 ist auch keine Verdammung des „Pöbels“ und reiht sich somit auch nicht in die russische liberale Gegenerzählung zur sowjetischen Mythologie ein. Vielmehr geht es ihm darum, zu zeigen, wie die Revolution bestimmte Personengruppen aktivierte und politisierte – auch solche, die bis dato stimmlos und ohne politische Vertretung gewesen waren. So hebt er etwa die Entstehung der „Komitee-Klasse“ (S. 80) hervor – junge Soldaten und Unteroffiziere, die in den neu geschaffenen, revolutionären Selbstverwaltungsorganen der Armee erstmals die Freiheit (und Freizeit) zur politischen Betätigung hatten, und von denen viele in Folge im Sowjetstaat eine prominente Rolle spielen sollten.
Da die russische Regierung ihren Umgang mit dem Revolutionsjubiläum unter das Motto der „Versöhnung“ gestellt hatte – ein Thema allerdings, das in der russischen Gesellschaft wenig Anklang fand –4, liegt es nahe, dass die Frage, wie die zunehmende gesellschaftliche Polarisierung im Verlauf des Revolutionsjahres hätte entschärft und folglich der Bürgerkrieg vermieden werden können, im Zentrum von Kolonitskis Darstellung steht.
Der Ausflug Kolonitskis in die deutsche Geschichte, wo er ein positives Gegenbeispiel zur russischen Polarisierung der Gesellschaft gefunden zu haben glaubt, wirft jedoch Fragen auf. Dieses Gegenbeispiel verortet der Autor nämlich in der „Vernunftehe“ zwischen MSPD- und Militär-Führung im Gefolge der deutschen Revolution (S. 107–108). Angesichts dessen, was wir zuletzt dank der Monographie von Mark Jones über die gegenrevolutionäre Gewalt in der Novemberrevolution und ihre Auswirkungen auf die weitere Entwicklung der Weimarer Republik wissen5, erscheint der Vorbildcharakter der deutschen Revolutionspolitik bezüglich einer Depolarisierung der Gesellschaft äußerst zweifelhaft.
Das Buch ist eindeutig für ein russisches Publikum geschrieben. Davon zeugen sowohl die (populär-)kulturellen Referenzen in den Kapitelüberschriften als auch das allgemeinhistorische Vorwissen zur russischen Geschichte, dessen es bedarf, um dem Autor zu folgen. Nichtsdestotrotz sei das Buch all jenen, die der russischen Sprache mächtig sind, nachdrücklich empfohlen – nicht nur, weil es klug und unterhaltsam geschrieben ist, sondern weil es ein Paradebeispiel für eine gelungene Popularisierung von Geschichte darstellt, die nicht zugleich eine Profanierung ist. Es ist eine äußerst gelungene Darlegung des aktuellen Forschungsstandes zur Alltags- und Kulturgeschichte der russischen Revolution (zu dem der Autor selbst einen großen Beitrag geleistet hat), die sowohl die strukturellen Zusammenhänge darstellt als auch mit farbenprächtigen Episoden und unterhaltsamen Anekdoten aufwartet. Und es ist eine dezidiert populärhistorische Darstellung, bei der ein akademischer Leser weder Fremdscham verspürt noch den Korrekturstift zücken will – sondern daraus Inspirationen sowohl für weitere Forschungsfragen als auch für Strategien populärer Geschichtsschreibung ziehen kann.
Anmerkungen:
1 Einige wenige Beispiele: Valerij Šambarov / Elena Čavčavadze, Revoljucija. Zapadnja dlja Rossii 1905-1917, Moskva 2017; Nikolaj Starikov, 1917. Zagadka „russkoj“ revoljucii, Sankt-Peterburg 2018.
2 Boris I. Kolonickij, Tragičeskaja ėrotika. Obrazy imperatorskoj sem’i v gody Pervoj mirovoj vojny, Moskva 2010; Ders., „Tovarišč Kerenskij“. Antimonarchičeskaja revoljucija i formirovanie kul’ta „voždja naroda“. Mart-ijun’ 1917 goda, Moskva 2017.
3 Steve A. Smith, Die russische Revolution, Reinbek bei Hamburg 2011.
4 Boris Kolonitsky / Maria Matskevich, Unberechenbare Vergangenheit in ungewissen Zeiten. Hundert Jahre Revolution im heutigen Russland, in: Geschichte der Gegenwart, 27. August 2017, URL: https://geschichtedergegenwart.ch/unberechenbare-vergangenheit-in-ungewissen-zeiten-hundert-jahre-revolution-im-heutigen-russland/ (25.11.2018).
5 Mark Jones, Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik, Berlin 2017.