G. Heng: The Invention of Race in the European Middle Ages

Titel
The Invention of Race in the European Middle Ages.


Autor(en)
Heng, Geraldine
Erschienen
Anzahl Seiten
504 S.
Preis
£ 34.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Juliane Schiel, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien

Um es gleich vorweg zu sagen: Dieses Buch ist wichtig, und es geht die Mediävistik ebenso sehr an wie die Postcolonial Studies und die Globalgeschichte. Die Kritik der in Singapur aufgewachsenen Literaturwissenschaftlerin und Mediävistin Geraldine Heng ist fundamental und hat weitreichende Konsequenzen – nicht nur für die Erforschung des europäischen Mittelalters, sondern auch für die Konzeption globalhistorischer Forschung. Ihr Buch „The Invention of Race in the European Middle Ages“, das gerade mit dem PROSE Award 2019 für „World History“ ausgezeichnet worden ist, fordert bisherige Selbstverständnisse und Selbstverständlichkeiten mit zwei über das Thema selbst hinausreichenden Botschaften heraus: Erstens: Die Zeit, in der die Mediävistik eine ‚Insel der Seligen’ darstellte, auf der man einfach Europaforschung ‚wie früher’ betreiben konnte, ohne sich um die durch Edward Said, Gayatri Spivak und Dipesh Chakrabarty ausgelösten Identitätskrisen und Selbstfindungsdebatten der mit der Moderne befassten Nachbardisziplinen zu scheren, ist endgültig vorbei. Zweitens: Die Globalgeschichte hat, besessen von ihrer Kritik an der vom Westen gemachten Moderne, die Zeit vor 1500 auf eine Art Kontrastfolie reduziert und ist damit dem Gedanken einer linearen Temporalität verhaftet geblieben. Dies hat den Blick auf die tieferliegenden Entstehungsbedingungen des homo europaeus verstellt und epochenübergreifende Strukturen und Praktiken der Rassifizierung unsichtbar gemacht.

Mit ihrem Buch, das sich nicht nur an Universitäre richten möchte, plädiert Heng für eine „long history of race-ing“ (S. 23). Ihr Ausgangspunkt dafür ist ein Paradoxon der Forschung: Einerseits sind sich Rassetheoretiker/innen heute einig, dass ‚Rasse’ als „empty vacuum“ (Ann Stoler) zu verstehen ist, das mit verschiedenen Inhalten aufgeladen werden kann, sich mit anderen hierarchisierenden Machtstrukturen wie Klasse, Geschlecht, Religion oder Sexualität verbindet und unendlich flexibel auf historische Veränderungen reagiert. Andererseits gehen Rassismushistoriker/innen und Mediävist/innen beidermaßen davon aus, dass die Entstehung des Rassegedankens in die Moderne zu datieren ist: in die Zeit des Kapitalismus und der Plantagensklaverei, in die Zeit von moderner Staatlichkeit und Nationalismus, von Kolonialismus und Imperialismus. Die Zeit vor 1500 hingegen wäre besser mit den Schlagworten Ethnozentrismus und Xenophobie oder religiöse Diskriminierung charakterisiert.

Geraldine Heng tritt nun an, das Gegenteil zu beweisen. Den Begriff der ‚Rasse’ für die mittelalterlichen Formen der Diskriminierung nicht zu verwenden, so Heng, würde die Reproduktion einer bestimmten Form von Vergangenheit bedeuten und ‚das Mittelalter’ in seiner Alterität festschreiben. Foucaults Ansatz folgend, analysiert sie die mittelalterlichen Machtstrukturen von ihren marginalisierten Rändern her neu. Neu ist dabei nicht die Überlieferung, die sie für ihre Argumentation in Anschlag bringt, sondern ihre Lesart des Altbekannten. Unter der Überschrift „Premodernists Write Back“ stellt sie die der Fachwelt bestens bekannten Namen, Daten und Schlüsseltexte des hohen und späten Mittelalters in ein anderes Licht. Nach einem konzeptionellen Problemaufriss (Kap. 1) lotet sie in sechs Fallstudien die verschiedenen Dimensionen, zentralen Akteure und entscheidenden Momente des mittelalterlichen „race-making“ aus. Die Juden als Figuren absoluter Differenz im Eigenen seien im England des 13. Jahrhunderts erstmals von einem rassisch agierenden Staat diskriminiert und verfolgt worden (Kap. 2). Die Sarazenen, der Prototyp des äußeren Feinds, durften seit Urban II. mithilfe der politischen Theologie der Kreuzzüge als einem, so Heng, rassifizierenden Wissenssystem kirchlich legitimiert getötet werden (Kap. 3). Für Menschen dunkler Hautfarbe wiederum schloss sich der Autorin zufolge in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts der Möglichkeitsraum für positive Repräsentationen in Kunst und Literatur, während „whiteness“ zur Norm christlich-europäischer Identität mutierte (Kap. 4). Das Kannibalismus-Motiv der Beschreibungen nicht-abrahamitisch geprägter Weltteile etwa zu den Indigenen Nordamerikas in den altnordischen Sagas (Kap. 5) oder zu den Mongolen in den mendikantischen Reiseberichten (Kap. 6) zeugen, so Heng, von der sich neu konfigurierenden, rassisch aufgeladenen Mensch-Tier-Dichotomie. Doch während die ‚Rasse‘ der Mongolen im europäischen Spätmittelalter absolute Macht und höchste Bedrohung verkörpere, seien die Romani als ‚Zigeuner’ am anderen Ende der europäischen Völkertaxonomie zur ‚Ur-Rasse‘ der Sklaven (Kap. 7) stilisiert worden.

Hauptakteure von Geraldine Hengs Geschichte des „race-making“ im europäischen Mittelalter waren der partikularisierende Staat auf der einen und die universalisierende Kirche auf der anderen Seite. Beide brachten, unter Rückgriff auf die Religion als Hauptquelle mittelalterlicher Autorität, zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert Gesetze, Institutionen, Praktiken und Fiktionen hervor, die – so die Argumentation – sowohl auf soziokultureller als auch auf biopolitischer Ebene nachhaltig rassifizierend wirkten und schlussendlich den homo europaeus entstehen ließen. Geraldine Heng hat damit bisherige Forschungen zu mittelalterlichen Differenzierungs- und Diskriminierungsmechanismen, wie sie u.a. von Steven Epstein, Robert Bartlett und Madeline Caviness vorgelegt wurden, zu einer postkolonialen Kritik am europäischen Mittelalterbild verdichtet.1

Diese Kritik, die deutlich mehr ist als eine Provokation, wirft in der Umsetzung aber auch neue Fragen und grundsätzliche Probleme auf. Dies sei an zwei Beobachtungen spezifiziert. Heng schreibt in ihrem programmatischen ersten Kapitel gegen die Dominanz linearer Modelle von Temporalität an. Anstelle einer Geschichte epochaler Umbrüche und radikaler Diskontinuitäten müsse geschichtliche Zeit als ein dynamisches Oszillieren zwischen Brüchen und Wiederaufnahmen konzipiert werden, als sich überlappende veränderte Wiederholungen, deren Ereignisse stets das Ergebnis multipler Temporalitäten (S. 20f.) sind. In der Durchführung der darauffolgenden sechs Fallstudien jedoch wirkt ihre „long history of race-ing“ immer wieder wie eine ins Hochmittelalter verlängerte Ursprungserzählung des modernen Rassismus britischer Färbung: Was mit den Judengesetzen der englischen Krone und der Konzipierung der Völker in der Hereforder Weltkarte begann, steht für Heng in direkter Verbindung mit dem kolonialen Rassismus des British Empire und den Apartheidkämpfen in Südafrika. Das romanisch-sprachige Südwesteuropa scheint bei dieser allmählichen Verfertigung des europäischen Rassedenkens ähnlich wie Mittel- und Osteuropa nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Damit verpasst sie die Chance, die im Detail gelungene Herausarbeitung rassifizierender Schlüsselmomente des mittelalterlichen Denkens zum Grundstein einer „transformational grammar of race“ (S. 20) werden zu lassen. Das Potential, „race-ing“ als anthropologisches Phänomen für global und diachron vergleichende Forschung fruchtbar zu machen, ist hier nicht ausgeschöpft.

Die zweite Beobachtung ist eine konzeptionell-terminologische, die mit der ersten Beobachtung eng zusammenhängt und das unausgeschöpfte Potential zu Teilen erklärt. Heng postuliert: „If we grant that the present can be nonidentical to itself [...], we should also grant [...] that the past can [...] be [...] marked by modernities that estrange medieval time in ways that render medieval practices legible in modern terms“ (S. 22). Hier werden aller guten Intention zum Trotz essentialistisch Epochenidentitäten angenommen, die einer seriösen Erforschung von Gesellschaften vor der Entstehung der sogenannten Moderne zuwiderlaufen. Wer mittelalterliche Praktiken im Sinne einer Foucaultschen Genealogie des Rassismus in modernen Begrifflichkeiten lesbar machen möchte, kann am Ende nur eine neue Version teleologischer Geschichtsschreibung herausbekommen, in der das Unvertraute und Unähnliche erneut zur Negativfolie verflacht. Der moderne Staatsbegriff trägt für das historische Verständnis der englischen Krone des 13. Jahrhunderts wenig aus und die Rede von mittelalterlichen Nationen und Nationalismen erzeugt nur neue Verzerrungen, die sich zwar für wissenschaftspolitische Debatten wirkungsvoll nutzbar machen lassen, am Interesse historischer Erkenntnis aber vorbeizielen.

So könnte uns Hengs Buch dazu anhalten, über das Verhältnis von Quellen- und Analysesprache im epochenübergreifenden, globalhistorischen Dialog grundlegender als bisher nachzudenken. Vergleichbar zu Hengs mittelalterlicher „history of race-ing“ hat der Afrikahistoriker Joseph C. Miller vor wenigen Jahren eine globale „history of slaving“ gefordert.2 In beiden Fällen könnte es darum gehen, jenseits der Containerbegriffe der westlichen Moderne (in diesem Fall ‚Rasse’, Rassismus bzw. Sklaverei) die transformative Grammatik eines historischen Phänomens über ihre zeit- und raumspezifischen Semantiken und Praktiken neu zu fassen und darüber auch zu einer neuen „postkolonialen“ Wissenschaftssprache zu finden.

Mein Fazit lautet also: Dieses Buch ist eine Literaturkritik in bester postkolonialer Tradition und gehört als erster genuin mediävistischer Beitrag zu dieser Debatte breit diskutiert. Für ein historisches Verständnis mittelalterlicher Praktiken des „race-ing“ jedoch kann Hengs Studie nur eine Einladung sein, sich diesem Thema künftig jenseits der kanonisierten Überlieferung empirisch zu widmen und dabei raum- und epochenspezifische wie übergreifende Merkmale herauszuarbeiten und für den globalhistorischen Vergleich anschlussfähig zu machen. Nur wenn die Offenheit und Vielschichtigkeit von Geschichte aus der jeweiligen historischen Situation heraus im Zentrum unserer Bemühungen steht, können wir postkoloniale Kritik mit innovativer empirischer Forschung verbinden.

Anmerkungen:
1 Robert Bartlett, Medieval and Modern Concepts of Race and Ethnicity, in: Journal of Medieval and Early Modern Studies 31 (2001), S. 38–56; Madeline Caviness, From the Self-Invention oft he Whiteman in the Thirteenth Century to The Good, the Bad, and the Ugly, in: Different Visions 1 (2008), S. 1–33; Steven Epstein, Purity Lost. Transgressing Boundaries in the Eastern Mediterranean, 1000–1400, Baltimore 2006.
2 Joseph C. Miller, The Problem of Slavery as History. A Global Approach, New Haven u.a. 2012.