M. Böick u.a. (Hrsg.): Im Kreuzfeuer der Kritik

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Titel
Im Kreuzfeuer der Kritik. Umstrittene Organisationen im 20. Jahrhundert


Herausgeber
Böick, Marcus; Schmeer, Marcel
Erschienen
Frankfurt am Main 2020: Campus Verlag
Anzahl Seiten
555 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefanie Middendorf, Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bremen / Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Ihre ersten musikalischen Schritte unternahm die später weltberühmte Gruppe „Kraftwerk“ Ende der 1960er-Jahre unter dem Bandnamen „Organisation zur Verwirklichung gemeinsamer Musikkonzepte“. Diese Episode währte nur kurz, und für die Karriere der Musiker war es vermutlich eine sinnvolle Entscheidung, den Namen rasch zu ändern. Gleichwohl umreißt der Begriff „Organisation“ eine zentrale Gestalt der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung wie auch der Formierung von Handlungsräumen im 20. Jahrhundert. Sehr unterschiedliche Ausprägungen dieser Gestalt analysiert ein von Marcus Böick und Marcel Schmeer herausgegebener Sammelband, der auf zwei Bochumer Tagungen zurückgeht. Die Herausgeber deuten an, dass „durchaus hitzig geführte Diskussionen“ (S. 555) diese Treffen prägten. Angesichts der unterschiedlichen Zugriffe, welche die Autorinnen und Autoren des Bandes gewählt haben, kann man sich diese Debatten lebhaft vorstellen.

Was eine „Organisation“ ist und wie sie sich historisch erforschen lässt, wird mit diesem Band – so viel sei hier verraten – nicht eindeutig beantwortet. Eindeutigkeit ist aber auch nicht der Anspruch, den die beiden Herausgeber formulieren, wenngleich sie eingangs das Fehlen eines „klar konturierten Organisationsbegriff[s]“ (S. 47) für die Zeitgeschichte bemängeln. In ihrer so umfangreichen wie ambitionierten Einleitung skizzieren Böick und Schmeer vielmehr einen „offenen, integrativen und insbesondere multidimensionalen Ansatz“ (S. 48), der sowohl Meta-, Makro-, Meso- und Mikroebenen von Organisationen einführt als auch verschiedene semantische Dimensionen des Organisationellen zwischen „Organisieren“, „Organisiertheit“ und „Organisat“ (S. 49). In dem Versuch, nicht nur möglichst vielfältige Aspekte des untersuchten Phänomens und seiner Erforschung, sondern auch ein umfassendes Gegenprogramm zu bisherigen Verengungen darzulegen, zerfasern die Erkenntnisinteressen der Herausgeber allerdings zunehmend. Als pragmatische Lösung, aber auch als nochmalige Erweiterung des Programms erscheint der Vorschlag, insbesondere die Umstrittenheit von Organisationen im 20. Jahrhundert in den Blick zu rücken – wie es der Buchtitel ja auch unterstreicht. Für die Herausgeber verbindet sich damit die Frage nach dem Wandel von Organisationen in Krisen- und Ausnahmesituationen. Erst in solchen Momenten werde die Besonderheit von Organisationen in ihren äußeren wie inneren „Reaktions-, Verarbeitungs- und Normalisierungsmustern“ (S. 52) sichtbar.

Die folgenden Beiträge konzentrieren sich auf die deutsche bzw. die westdeutsche Geschichte, ergänzt um einige Ausflüge nach Österreich sowie ein Fallbeispiel für die USA. Weitere internationale oder vergleichende Perspektiven sind nicht enthalten, wären aber wünschenswert, wie die Herausgeber selbst konstatieren. Zeitlich wird das gesamte 20. Jahrhundert überblickt, mit einem Schwerpunkt auf der Zeit nach 1945. Aufgeteilt sind die Beiträge in vier Rubriken: „Organisationsforschung und Geschichtswissenschaft“, „Organisationen in der Sphäre des Ökonomischen“, „Staat als Organisation – Staatliche Organisationen“ sowie „Organisationen jenseits von Wirtschaft und Staat“.

Den Dialog zwischen sozialwissenschaftlicher Theorie und zeithistorischer Empirie sucht der erste Teil des Bandes. Hier kommen zwei für das Thema seit Langem einschlägige Autoren zu Wort, zunächst der Verwaltungswissenschaftler Wolfgang Seibel mit einem Abriss zu Funktionslogiken und Handlungsmechanismen umstrittener Organisationen, dann Thomas Welskopp, der als Historiker für einen akteursorientierten Ansatz mit Blick auf die „Mikropolitik“ (S. 95) in Organisationen plädiert und dabei auch auf die „Grenzen der Organisierbarkeit“ (S. 99) verweist. Einen eigenen Akzent setzt die Soziologin Rena Schwarting, die aus systemtheoretischer Sicht nach dem Verhältnis zwischen Organisationsbildungen und gesellschaftlicher Differenzierung in Vormoderne und Moderne fragt. Da der Beitrag überzeugend mit der Historizität des Phänomens argumentiert, wäre eine gewisse organisationsgeschichtliche Konkretisierung hier hilfreich gewesen, um die von der Autorin betonten „gesellschaftsstrukturellen Voraussetzungen“ (S. 119) und Termini wie „Entscheidungsgeschichte“ (S. 123) besser zu verstehen. Dagegen vermittelt der nachfolgende Essay von Christian Mentel sehr konkrete, mehrheitlich allerdings skeptische Einblicke in das zeitweilig boomende Feld der „aufarbeitenden“ Behördenforschung in der Zeitgeschichte, denen sich die Rezensentin aufgrund eigener Erfahrungen in vielem anschließen würde. Die Subjektivität dieses Berichts wirkt im Gefüge der Beiträge allerdings etwas erratisch. Vielleicht hätten sich diese Beobachtungen um einen Einblick in die – durchaus vorhandenen – organisationshistorischen Erträge dieses Forschungszweigs (der aufgrund seiner Konjunktur offenbar einen wichtigen Impuls für den Band darstellte) ergänzen lassen. Der später folgende Beitrag von Eva Balz und Christopher Kirchberg über die Emschergenossenschaft und den Lippeverband (EGLV) als Infrastrukturdienstleister zeigt jedenfalls, dass sich aus solchen Auftragsprojekten reflektierte Befunde nicht nur über den Einzelfall, sondern auch über Organisationen als solche generieren lassen.

Im zweiten Teil werden private und staatliche Organisationen aus (im weitesten Sinne) ökonomischen Zusammenhängen betrachtet, wobei ein recht diverses Spektrum zwischen der Vergangenheitspolitik bei Daimler-Benz in den 1980er-Jahren (Sebastian Brünger) und der politischen Rolle der Lufthansa als Staatsunternehmen in der Zwischenkriegszeit (Lutz Budrass) aufgespannt wird. Überzeugend sind die Beiträge vor allem dort, wo sie ein konzises Verständnis der jeweiligen Organisation entwerfen und dieses auch in ihre historische Analyse einbeziehen. Das gilt insbesondere für den bereits erwähnten Beitrag von Balz und Kirchberg zur „Hybrid-Organisation“ EGLV (S. 243) wie auch für den Text von Christoph Wehner über die Versicherungswirtschaft im Bereich der Atomenergie während der 1970er-Jahre, der auf deren ambivalente „Doppelrolle“ (S. 227) als ökonomischer Sicherheitsproduzent und Träger eines gesellschaftlich relevanten Gefahrenwissens verweist.

Im dritten Teil des Bandes geht es um Organisationen mit Staatsbezug. Das Staatliche wie das Organisationelle stellen aber eine allenfalls lose Klammer für die sechs Autoren dar, denn Peter Beckers quellennah argumentierender Text über Expertendiskurse in der Verwaltung der Habsburgermonarchie um 1910 beschäftigt sich mit deutlich anderen Fragen als etwa Marcel Schmeers Beitrag zur West-Berliner Polizei. Letzterer betont die Performanz polizeilicher Praktiken im öffentlichen „Kontaktbereich“ stärker als den staatlichen Organisationszusammenhang, in den diese eingebettet waren. Die nachfolgende Darstellung der westdeutschen Kritik am Sozialstaat (Christoph Lorke) liefert ähnlich wie der Beitrag zur Stasi-Unterlagen-Behörde (Markus Goldbeck) und der Text zum Militär zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik (Martin Platt) eine Debattengeschichte, für die der Organisationsbegriff höchstens am Rande eine Rolle spielt. Schließlich zeigt Daniel Trabalski am Beispiel der Berufsgenossenschaften in der Unfallversicherung das Agieren „wissensbasierte[r] Organisationen“ (S. 352), das aber offenbar weniger durch einen gesetzlichen Auftrag geprägt war als durch die selbstverantwortliche Bereitstellung eines epistemischen Rahmens für die Auseinandersetzungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen. Hier finden sich wichtige Einzelbefunde, doch es bleibt offen, inwiefern das konkrete organisationale Handeln jeweils „den Staat“ zum Ausdruck brachte bzw. daraus sogar der „Staat als Organisation“ (und nicht, was begrifflich vielleicht näherläge, „als Institution“) hervorging.

Den Schritt zu gesellschaftlichen Organisationen unternimmt der abschließende Teil des Bandes. Mit den Gewerkschaften richtet Knud Andresen den Blick auf ein „klassisches Objekt der Organisationssoziologie“ (S. 437) und gibt einen Überblick zu entsprechenden Wissensproduktionen im 20. Jahrhundert, die er als politische Interventionen interpretiert. Eher überblicksartig fällt auch der Text zur Parteienkritik aus (Bernd Faulenbach). In ihrem Beitrag zur 1951 gegründeten „Deutschen Jugend des Ostens“ (seit 1974 „djo – Deutsche Jugend in Europa“) gelingt es Anne-Christine Hamel, den sperrigen Begriff der „Meta-Organisation“ (S. 455) für eine Konfliktgeschichte dieses Verbandes im Kontext der sich wandelnden westdeutschen Gesellschaft produktiv zu nutzen und zugleich die Grenzen des Ansatzes zu formulieren. Eine eher klassische Aufarbeitungsgeschichte stellt hingegen der Beitrag von Gunnar Mertz zum Deutschen Alpenverein in Österreich dar, auf den als Schlussakkord Vojin Saša Vukadinovićs Studie zum marktradikalen Zirkel der „Objektivisten“ der 1960er-Jahre in New York City folgt. Dieser Text spielt zwar mit dem Begriffsarsenal von „Organisation“ und „Nicht-Organisation“, von „Organisat“ und „Organisieren“ und nimmt damit das Programm der Herausgeber deutlicher als andere auf. De facto aber hat er weniger eine Organisation als ein soziales Netzwerk und eine daran geknüpfte Bewegung zum Gegenstand.

Damit stellt sich am Schluss der Lektüre die Frage nach dem spezifischen Nutzen einer organisationshistorischen Perspektive für das 20. Jahrhundert sowie nach den Möglichkeiten und Grenzen des erkenntnisleitenden Begriffs. Zu begrüßen ist, dass es dem Band nicht um die vorschriftsmäßige Anwendung bestimmter Organisationstheorien geht, sondern um eine theoretisch informierte, dabei möglichst vielseitige Analyse sich wandelnder, auch prekärer und unklarer Organisationsformen. Doch werden die konzeptuellen Impulse der Einleitung und die theoretisch-methodischen Überlegungen der ersten Rubrik in den nachfolgenden empirischen Studien allenfalls beiläufig gestreift. Zwar wird immer wieder auf die Umstrittenheit von Organisationen verwiesen, aber das eingangs betonte Wechselspiel zwischen disruptiven Momenten und dem Wandel von „Binnenlogiken“ (S. 52) ließe sich näher analysieren. Gegenüber dem Inneren von Organisationen, vor allem deren Mitgliedern und Strukturen, steht deren Äußeres, also die Selbstdarstellung und die Wahrnehmung in der Gesellschaft, erkennbar im Vordergrund.

Die historisch sich wandelnde Semantik der Organisation als Sozialraum und Denkform wird wiederum in verschiedenen Beiträgen zwar angesprochen, aber als temporale Dimension nicht systematisch reflektiert – obwohl eingangs angedeutet wird, dass es eine „spezifisch moderne“ (S. 47) Gestalt sei, um die es gehe. Hierfür ist die Konzentration des Bandes auf das Westeuropa des 20. Jahrhunderts allerdings auch zu eng. Unklar bleibt daher auch, wie sich die Befunde der verschiedenen Beiträge zum verwandten Begriff der „Institution“ verhalten, zu dem gerade in der Historiographie der Vormoderne schon eine breitere Debatte existiert.1 Jenseits solcher Anmerkungen aber war es – anders als im Falle „Kraftwerks“ – eine sinnvolle Entscheidung, dass sich diese Autorinnen und Autoren des Begriffs der Organisation angenommen und ihn für die allgemeine Zeitgeschichte zur Diskussion gestellt haben. Der Band schafft breite, aber eben auch kontroverse Verbindungen von der unübersichtlichen Vielzahl soziologischer Organisationstheorien zur geschichtswissenschaftlichen Empirie, ohne einer theoretischen Heilslehre zu folgen. Fortführen ließe sich nicht zuletzt der Dialog über eine moderne Gesellschaftsgeschichte nach dem Cultural Turn, den die Einzelbeiträge zur Unternehmens-, Bürokratie-, Verbands- und Gewerkschaftsgeschichte eher unter der Hand und meist jenseits eines Nachdenkens über das Organisationelle führen. Ob damit aus dem „Trend“ zur Organisation ein eigener „Turn“ (S. 13) würde, bliebe abzuwarten.

Anmerkung:
1 Exemplarisch etwa Gert Melville (Hrsg.), Institutionen und Geschichte. Theoretische Aspekte und mittelalterliche Befunde, Köln 1992; ders. / Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.), Dimensionen institutioneller Macht. Fallstudien von der Antike bis zur Gegenwart, Köln 2012; Reinhard Blänkner / Bernhard Jussen (Hrsg.), Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens, Göttingen 1998; sowie generell der Sonderforschungsbereich „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ an der Technischen Universität Dresden (1997–2008).