Ian Kershaw hat ein großes Buch geschrieben. Aufbauend auf dem 2016 veröffentlichten Vorgängerband „Höllensturz“ über die Zeit von 1914 bis 1949 hat er sich mit dieser Synthese europäischer Geschichte seit 1950 auf ein Terrain begeben, über das er selbst bislang kaum geforscht hat, wie er im Vorwort zu „Achterbahn“ freimütig eingesteht. Mutig ist auch die Entscheidung, den Erzählfaden bis in die Gegenwart zu führen und dabei vor klaren Urteilen keineswegs haltzumachen. So ist ein Buch für ein breites Publikum entstanden, das in seinem Zuschnitt, seinen Proportionen und seinen Thesen insgesamt überzeugt und dem man deswegen viele Leserinnen und Leser wünschen kann.
Schon die Entscheidung, den Schnitt anders als etwa in Tony Judts oder Konrad H. Jarauschs großen Darstellungen zur europäischen Zeitgeschichte erst 1950 statt 1945 anzusetzen, erweist sich als hilfreich. Sie reduziert die Komplexität des Darzustellenden in den Einstiegskapiteln, weil das geteilte Europa und die fragile Ordnung des Kalten Krieges bereits als gegeben gelten können. Und herausfordernd genug bleibt das Darzustellende auch so. Zu Recht betont Kershaw die Schwierigkeit, die vergangenen 70 Jahre analytisch zu fassen: Ein herausragendes, übergreifendes Thema gebe es nicht. Wie schon bei Mark Mazower in seinem weiterhin äußerst lesenswerten, rund 20 Jahre alten Buch „Der dunkle Kontinent“ sind es vielmehr die Drehungen und Wendungen sowie die Unsicherheiten, welche für Kershaw den Zeitraum charakterisierten. Hinzu kommt bei ihm das Moment der Beschleunigung als Signum der Zeit. Das ist für ein Sachbuch mit Anspruch auf Breitenwirkung ein überzeugendes Deutungsangebot, das der Titel „Achterbahn“ („Roller-Coaster“) wunderbar intuitiv zusammenfasst und das heute mindestens so gut in die Zeit passt wie in den Sommer 2017, als Kershaw die Arbeit an diesem zunächst auf Englisch erschienenen Werk abschloss.
Der Sinn dieses Forums kann es nicht sein, Kershaws stupendes Wissen zu preisen (und kleinere Inakkuratessen zu bemängeln), den Inhalt des Buches wiederzugeben oder die Gesamtleistung zu würdigen. Das ist – zu Recht – bereits vielfach geschehen. Als nachrangig erscheint es mir auch, von Kershaw abweichende Deutungsmöglichkeiten über empirische Detailfragen aufzulisten und zu erläutern. Stattdessen soll es hier um dreierlei gehen: erstens um Kershaws konzeptionellen und narrativen Ansatz, zweitens um die Bedeutung von Globalisierung und globalen Perspektiven in seiner Darstellung, drittens um Kershaws Lesart der Geschichte europäischer Integration.
Was also kennzeichnet den konzeptionellen und narrativen Zugriff des Buches? Europäische Zeitgeschichte fasst Kershaw in erster Linie als Politikgeschichte europäischer Nationalstaaten, angereichert um wirtschafts-, sozial- und kulturhistorische Prozesse und Perspektiven. Ob es um das Leben mit der Atombombe, den Charakter der Herrschaft im Ostblock, die Entwicklung der Literatur, die Proteste der späten 1960er-Jahre oder die Austeritätspolitik im Gefolge der Krisen ab 2008 geht: Die Untersuchung der jeweiligen nationalen Entwicklungen bildet häufig den die Erzählung strukturierenden Kern. Eingeleitet werden diese Ausführungen, gutem anglo-amerikanischem Schreibstil verpflichtet, meist durch eine souveräne und thesenfreudige Zusammenschau mit Typen und Tendenzen, die dann entfaltet und schließlich komparativ zusammengezogen wird, ohne die beziehungsgeschichtliche Dimension zu vernachlässigen.
An diesem Zugriff auf europäische Geschichte erscheint mir zweierlei besonders bemerkenswert. Zum einen ist die Aufschlüsselung des Themas über eine komparativ ausgerichtete und transnational eingebettete Geschichte von Nationalgesellschaften, unter denen Deutschland und Großbritannien besonders viel Raum einnehmen, natürlich keineswegs zwingend. Während Buchbindersynthesen, in denen europäische Nationalgeschichten einfach hintereinandergereiht wurden, schon lange und zu Recht als obsolet gelten, beschreitet etwa Jarauschs „Aus der Asche“ einen anderen Weg: Viel stärker als bei Kershaw strukturieren dort übergreifende Konstellationen und transnationale Verbindungslinien den Gang der Analyse. Im Vergleich zu den entsprechenden Kapiteln bei Jarausch gibt Kershaw der mitunter minutiösen Rekonstruktion von politischen Konstellationen, Entscheidungsprozessen und ihren Wirkungen viel Raum. Das gilt besonders für die gegenwartsnahen Abschnitte. Ob etwa der Brexit wirklich ganze acht Seiten verdient hat, sei dahingestellt. Zugleich liegt das Schwergewicht gelegentlich weniger auf einer möglichst tiefenscharfen Diskussion von Ursachen der jeweiligen Prozesse (etwa bezüglich der „Rückkehr des Kalten Krieges“, S. 433, Ende der 1970er-Jahre) als auf der Darstellung dieser Entwicklungen selbst. Ein solcher Zugriff unterfüttert die übergreifenden Thesen, kann je nach Wissensstand und Interessenlage aber auch etwas detailverliebt wirken. Zudem kann man ihn im Licht der transnationalen Wende der Geschichtswissenschaft in konzeptioneller Hinsicht für etwas konservativ halten. Natürlich ist der eine Ansatz nicht „richtig“ und der andere „falsch“; wichtig erscheint es mir jedoch, diese Spezifika der von Kershaw gewählten Form festzuhalten – auf sie wird abschließend noch einmal zurückzukommen sein.
Zum anderen wird das Narrativ weitgehend durch Ereignisse und Prozesse sowie die Rolle einzelner herausragender Personen getragen – etwa Charles de Gaulle oder Margaret Thatcher, am plastischsten in Bezug auf Michail Gorbatschow. Wie weniger bekannte Menschen die Zeitläufte wahrgenommen, gedeutet, geprägt und gelebt haben, spielt dagegen eine nachrangige Rolle. Insofern bleiben die Europäer – und aufgrund von Kershaws Fokus auf traditionellen (politischen Entscheidungs-)Eliten mehr noch die Europäerinnen – zumeist stumm. Ausnahmen, wie die Zitate aus dem eindrucksvollen Tagebuch der englischen Hausfrau Nella Last (1889–1968) zur Atomkriegsgefahr in den frühen 1950er-Jahren, finden sich eher selten. So sehr Kershaw die Unsicherheiten und die Volatilität der vergangenen 70 Jahre unterstreicht, will das Buch in erster Linie durch analytisches Ordnen und die Vogelperspektive Übersicht vermitteln. Anders gesagt: Kershaw konzentriert sich mehr auf Anordnung und Spurverlauf der Achterbahn, als dass er uns die Menschen näherbringt, die in deren Wagen saßen.
Interessant und diskussionswürdig erscheint mir zweitens der Stellenwert von Globalisierung und globalen Perspektiven im Narrativ. Eingangs betont Kershaw, dass die „von der Globalisierung vorangetriebene Transformation“ Europas „sich wie ein roter Faden durch die Kapitel dieses Buches“ ziehe (S. 19). Meines Erachtens wird dieser Faden an einer überraschenden Stelle erstaunlich dünn und blass. Im Kapitel 7, das sich den 1970er-Jahren zuwendet, ist zwar viel von „Umbrüchen“ die Rede. Diese werden jedoch nur selten explizit auf Globalität und Globalisierung zurückgeführt. Merkwürdigerweise taucht in diesem Kapitel der Begriff Globalisierung gar nicht auf, wiewohl Kershaw keineswegs mit einem ökonomisch verengten Begriff arbeitet und die Rückwirkungen von Phänomenen wie der Iranischen Revolution oder dem Afghanistan-Krieg auf Europa durchaus bespricht. Es wirkt fast so, als sei ihm dies zu selbstverständlich gewesen, als dass es eigens hätte ausgeführt werden müssen. Wie es aber zum damaligen Globalisierungsschub kam, wird nicht richtig klar, und auch nicht, wie sich die Weltwahrnehmung durch globale Ereignisse und Prozesse änderte. Neuere Impulse und übergreifende Thesen, für die etwa Frank Böschs Buch zum Jahr 1979 steht1, vermisst man in diesem Kapitel – das im Gegensatz zu den anderen ohnehin etwas unaufgeräumt wirkt.
Der Ostblock erscheint in „Achterbahn“ ebenfalls weniger global und weniger von der Globalisierung geprägt als in einigen jüngeren Arbeiten.2 Das korrespondiert mit der erwähnten Staats- und Politikzentrierung von Kershaws Ansatz und hilft auch zu erklären, warum die Gesellschaften östlich des Eisernen Vorhangs insgesamt recht statisch erscheinen, wie in anderen Beiträgen zu diesem Forum genauer ausgeführt wird. Für die hier diskutierte Frage nach der Globalisierung wichtiger: Dieses Problem betrifft für den Osten in besonderem Maße die Phase zwischen den frühen 1970er- und den späten 1990er-Jahren. Für jene Zeit ist bei Kershaw kaum etwas von „Löchern“ im Eisernen Vorhang und anderen globalen oder globalisierungsbedingten Dynamiken zu lesen.
Allgemein lässt Kershaw sein eigentliches Globalisierungsnarrativ erst mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts einsetzen. Dementsprechend heißt das damit befasste 11. Kapitel „Globale Herausforderungen“ – was eigentlich der Idee widerspricht, dass dieses Thema einen roten Faden darstelle. Das unterschätzt meines Erachtens die Entwicklungen seit den 1970er-Jahren – oder wirft, anders gewendet, für die künftige Forschung die Frage auf, wie tief der Einschnitt der 1970er-Jahre im Vergleich zu den frühen 2000er-Jahren bei verschiedenen Dimensionen der europäischen Geschichte wirklich war: von der Ökonomie über die Kommunikation bis hin zum Bewusstsein von Globalität. Dem Genre entsprechend verwendet Kershaw keinen Platz darauf, den Forschungsstand zu diskutieren. Hier ergeben sich jedoch interessante Perspektiven für die künftige fachliche Diskussion. Zusammengefasst: Kershaw überwindet das Binnenbezogene, das einige frühere Gesamtdarstellungen zur europäischen Zeitgeschichte charakterisiert hatte. Dies gilt nicht nur für die Frage der Globalisierung, sondern zum Beispiel auch für die prägende Rolle der Dekolonisation, die etwa in Mazowers ansonsten hervorragendem Buch „Der dunkle Kontinent“ weitgehend außen vor geblieben war. Europäische Geschichte mit globaler Geschichte und der Geschichte der Globalisierung zusammenzubringen bleibt jedoch nach Kershaws Buch weiterhin eine zentrale Herausforderung, gerade für die Zeit „nach dem Boom“.
Drittens schließlich zur Geschichte europäischer Kooperation und Integration: Sie bildet in Kershaws Werk eine wichtige Achse. Im Gegensatz zu vielen Darstellungen der 1990er- und 2000er-Jahre räumt er diesem Thema vergleichsweise viel Raum ein – was natürlich auch daran liegt, dass er seine Analyse bis zur Gegenwart zieht, in der die Europäische Union eine so offensichtliche Bedeutung einnimmt. Dagegen beschränken sich viele ältere Arbeiten auf die Zeit des Kalten Krieges, wodurch eine knappere Behandlung der Integrationsgeschichte gerechtfertigt ist. Es geht Kershaw dabei weniger um ökonomische oder gesellschaftliche Effekte als um die politikhistorische Ebene – was nicht nur im Einklang mit seinem bereits dargestellten Ansatz steht, sondern auch dem Gros der einschlägigen Forschung entspricht. Er folgt dem gängigen Narrativ ebenfalls insofern, als er für die ersten Nachkriegsdekaden Kooperation und Integration im Wesentlichen mit den Vorläuferorganisationen der heutigen EU gleichsetzt – was meines Erachtens deren Stellung im Gesamtfeld internationaler Foren im (West-)Europa jener Jahre überbetont und die Frage unterschlägt, wie die EU schließlich so wichtig werden konnte.3 Zugleich ist es mutig und lobenswert, dass Kershaw sich auch den komplizierten Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit zuwendet, sei es den Hilfspaketen für Griechenland oder dem Brexit; letzteren sieht er als schweren Fehler für das Vereinigte Königreich.4 Besonders bei diesem Thema hält der britische Historiker mit Werturteilen nicht hinter dem Berg. Insgesamt hat Kershaw nicht nur eine historische Deutung vorgelegt, die höchsten wissenschaftlichen Standards genügt und einen in sich schlüssigen Zugang zur europäischen Geschichte für ein breites Publikum darstellt, sondern zeigt sich zugleich als engagierter Zeitgenosse. Kershaw, 1943 geboren, hat mit dieser „Geschichte meiner eigenen Zeit“ (S. 14) dieser ein Denkmal gesetzt.
Jedes Werk ist ein Spiegel seiner Zeit. Wie mit dem Verweis auf Konrad H. Jarauschs „Aus der Asche“ angedeutet, gibt es natürlich auch heute mehr als nur einen Weg, Synthesen zur europäischen Zeitgeschichte zu schreiben. Bedenkt man, wie sehr gerade in den letzten zehn Jahren die Politik wieder an Dramatik gewonnen hat und die nationale Ebene – nicht zuletzt aufgrund des erstarkten Populismus – sich neu in Szene zu setzen weiß, scheint Kershaw mit seinem Ansatz, der die Politikgeschichte sowie die Rolle der Nationalstaaten und des jeweiligen Führungspersonals in den Vordergrund schiebt und vor Werturteilen keineswegs zurückscheut, besonders gut den Nerv der Zeit zu treffen.
Anm. der Red.:
Dieser Beitrag ist Teil eines Review-Symposiums. Das redaktionelle Vorwort und Links zu den weiteren Rezensionen finden Sie unter https://www.hsozkult.de/text/id/texte-4873
Anmerkungen:
1 Vgl. Frank Bösch, Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München 2019. Böschs Buch und einige der anderen hier aufgeführten Werke sind natürlich nach dem erwähnten Abschluss von Kershaws Manuskript erschienen; sie stehen aber exemplarisch für eine neuere historiographische Tendenz.
2 Vgl. z.B. Oscar Sanchez-Sibony, Red Globalization. The Political Economy of the Soviet Cold War from Stalin to Khrushchev, New York 2014; Besnik Pula, Globalization under and after Socialism. The Evolution of Transnational Capital in Central and Eastern Europe, Stanford 2018; James Mark u.a., 1989. A Global History of Eastern Europe, Cambridge 2019.
3 Vgl. dazu Kiran Klaus Patel, Projekt Europa. Eine kritische Geschichte, München 2018.
4 Vgl. dazu auch „Das Verhalten der Briten war und ist eine Zumutung“. Gespräch mit Ian Kershaw, in: Spiegel, 16.03.2019, S. 126–129.