Cover
Titel
Gezähnte Geschichte. Die Briefmarke als historische Quelle


Herausgeber
Smolarski, Pierre; Smolarski, René; Vetter-Schultheiß, Silke
Reihe
Post – Wert – Zeichen 1
Erschienen
Göttingen 2019: V&R unipress
Anzahl Seiten
513 S., zahlr. farb. Abb.
Preis
€ 90,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dirk Naguschewski, Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin

Dass die analytische Beschäftigung mit Briefmarken aktuell im Trend der kultur- und geschichtswissenschaftlichen Forschung liegt, ist nicht zu übersehen.1 Mitte des 19. Jahrhunderts etabliert, um den Postverkehr effizienter zu gestalten, gehören die Miniaturgrafiken zu den verbreitetsten Massenmedien des 20. Jahrhunderts – mit Auflagenhöhen, die zuweilen jenseits der Milliardengrenze lagen. Im digitalen Zeitalter hat ihr Gebrauchswert zwar deutliche Einbußen erlitten, doch je mehr die Briefmarke zu einem historischen Medium wird, desto größer ist das Interesse, sich akademisch mit ihr auseinanderzusetzen.

Insofern leistet der reich bebilderte Sammelband „Gezähnte Geschichte. Die Briefmarke als historische Quelle“ zweifellos Pionierarbeit. Er geht auf eine Tagung zurück, die im Oktober 2017 in Erfurt stattfand2, und ist sowohl als gedrucktes Buch wie auch im Open Access zu erhalten.3 Der voluminöse Band enthält insgesamt 18 Beiträge, die in vier Kapitel gegliedert sind: „Einleitung“, „Erinnern und Tradition auf Briefmarken. Über Hegemonie und Mnemosyne“, „Die Briefmarke als Mittel politischer Legitimation und Herrschaftsinstrument“ sowie „Die Briefmarke als mediale Projektionsfläche für Ideologie und Utopie“. Jedes Kapitel wird durch einen knappen Text der Herausgeber eröffnet. Es geht – kurz gesagt – um Geschichte, Politik und Propaganda.4

Drei wesentliche Ziele skizzieren die Herausgeber: Erstens ist ihnen daran gelegen, „die philatelistische Forschung aus der Selbstbespiegelung in philatelistischen Fachgruppen und entsprechenden Publikationsorganen herauszulocken als auch die universitäre Forschung für einen Gegenstand zu sensibilisieren, der bisher allenfalls als gemeinfreie Bebilderung mit alltagsästhetischem Bezug fungiert“ (S. 14) – eine Bemühung, die aller Ehren wert ist, aber auch ohne weitschweifige Invektive ausgekommen wäre. In der Tat gibt es bislang im deutschsprachigen Raum relativ wenige wissenschaftliche Forschungen zur Geschichte der Philatelie, und die Beobachtung einer deutlichen Trennung zwischen diesen Studien und dem reichhaltigen philatelistischen Schrifttum, das sich vor allem durch starken Positivismus auszeichnet, lässt sich nicht bestreiten. Zweitens geht es den Herausgebern um die zentrale Frage, „welchen Quellenwert die Briefmarke für die historische Forschung haben kann“ (S. 14). Drittens wird versucht, „sich dem Medium Briefmarke aus unterschiedlichen Perspektiven anzunähern“ (S. 15). Hiermit sind nun nicht die verschiedenen Zugänge von Wissenschaft und Philatelie gemeint, sondern die vielfältigen wissenschaftlichen Disziplinen und Methoden. Im vorliegenden Band handelt es sich zumeist um historisch orientierte Arbeiten, die selten mehr als allgemeine medientheoretische Überlegungen enthalten. Genuin kunsthistorische, kultur- oder literaturwissenschaftliche Ansätze aber, wie in der Einleitung erwähnt, spielen nur in wenigen Beiträgen eine entscheidende Rolle.5

Was also lässt sich mit Briefmarken machen, wenn man sie als historische Quellen begreift? Exemplarisch, da methodisch reflektiert und mit hermeneutischen wie semiologischen Verfahren arbeitend, wird dies von Jasper M. Trautsch vorgeführt. Er versteht die Briefmarke angesichts ihrer massenhaften Verbreitung und der Möglichkeit, vergleichsweise schnell auf politischen Wandel zu reagieren, als „Seismograph für neue politisch-ideologische Entwicklungen und veränderte Weltwahrnehmungen“ (S. 315). Anhand kartographischer Darstellungen auf US-amerikanischen Briefmarken untersucht Trautsch, wie sich „die kognitiven Landkarten der Amerikaner“ in der Mitte des 20. Jahrhunderts veränderten, „die den Atlantik zunehmend weniger als Scheidelinie denn als Brücke zwischen zwei miteinander verflochtenen Kontinenten wahrnahmen“ (S. 314). Bezogen auf sein Korpus bedeutet dies konkret, dass die Darstellung von Globen bis Ende der 1940er-Jahre amerikazentrisch angelegt war, seit den 1950er-Jahren hingegen Amerika als Teil eines transatlantischen Beziehungsgeflechts dargestellt wurde; beispielhaft etwa auf einer Briefmarke von 1952 zum dreijährigen Bestehen der NATO, die in einer außergewöhnlich hohen Auflage von fast drei Milliarden gedruckt wurde. Warum sich die Darstellungsweise hier signifikant änderte, lässt sich selbstverständlich nur beantworten, wenn man mit den politischen Ereignissen vertraut ist, und Trautsch nimmt die entsprechende Kontextualisierung vor. Daneben geht es ihm aber vor allem um das Wie. Insofern äußert er sich skeptisch, was das Potenzial der Briefmarke betrifft, zu überraschenden, gar neuen historischen Einsichten zu verhelfen. Dies habe insbesondere mit zwei Problemen zu tun, die sich bei der Interpretation von Briefmarken stellen: Die getroffenen Entscheidungen (für bestimmte Motive, eine konkrete Gestaltung) lassen sich zwar rekonstruieren, sofern sie in geregelten Prozessen erfolgt sind, die dokumentiert und archiviert wurden; die Gründe dafür bleiben aber meist doch im Dunkeln. Zudem lässt sich bei aller Plausibilität der Annahme, dass es sich bei Briefmarken um staatliches Propagandamaterial handelt, ihre tatsächliche Wirkung schwer einschätzen. „Letztlich“, so Trautsch, „wird sich der Historiker […] damit begnügen müssen, Wirkungsmöglichkeiten herauszuarbeiten, wird einzelnen Briefmarken aber in der Regel kaum einen konkreten Einfluss nachweisen können“ (S. 331). Das mag als Fazit etwas ernüchternd klingen, sollte aber keineswegs geringgeschätzt werden.

Entscheidend für die Interpretation von Briefmarken als historischen Quellen ist bei alldem, dass nicht nur die Motive (als Zeichen einer mutmaßlichen Realität), sondern insbesondere deren Gestaltung und Ikonographie untersucht werden. Der Philosoph Gottfried Gabriel hat dies bereits 2009 in dem grundlegenden Beitrag „Ästhetik und politische Ikonographie der Briefmarke“ für die „Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft“ exemplarisch an Darstellungen des Brandenburger Tors auf deutschen Briefmarken dargelegt; eine aktualisierte Fassung dieses Klassikers gehört mit Recht zur „Einleitung“ dieses Bandes. Gabriel zeigt, dass es niemals um realistische Darstellungen des Bauwerks ging, sondern dass sowohl im Osten wie im Westen Deutschlands mit „Vortäuschungen nicht bestehender Sachverhalte“ (S. 32) operiert wurde (die Ausrichtung der Quadriga, die Abwesenheit der Mauer), die im Westen der Idealisierung, im Osten der Kaschierung dienten.

An das Verfahren der Ikonographie knüpft auch der 2018 verstorbene Reinhard Krüger an, der das Fehlen einer „kulturgeschichtlichen Studie“ moniert, „die sowohl die Verortung der einzelnen Motive in der Geschichte wie auch ihren Zusammenhang vor der Bühne der europäischen Kulturgeschichte darlegt“ (S. 232). Krüger interpretiert das Porträt von Queen Victoria auf der One Penny Black unter den Vorzeichen antiker Mythologie und widmet sich ausführlich Darstellungen von Hermes bzw. Merkur. Er kommt zu dem durchaus diskussionsbedürftigen Schluss, dass „die antike Mythologie allmählich ihre weitgehend in der europäischen Renaissance etablierte Bedeutung als semiotisches System der Repräsentation sozialer und kultureller Phänomene“ verliere: „An ihre Stelle tritt eine Signographie, die geschult ist an Bildgebungsverfahren der abstrakten Kunst und die Komposition von Bildwelten ermöglicht, die nicht mehr vorgeben, auf irgendeine Art und Weise ein visuelles Abbild der Verhältnisse zu geben. Vielmehr kommt es nun darauf an, in Form grafischer Kompositionen Miniaturen zu schaffen, mit denen es möglich ist, auf komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge zu verweisen“ (S. 253).

Noch diesseits einer hier angedachten globalen Bildgeschichte macht Gottfried Gabriel darauf aufmerksam, dass besonders „ein ikonographischer Vergleich zwischen den Briefmarken der DDR und der Bundesrepublik […] nahe[liegt]“ (S. 32), denn nicht nur aufgrund der politischen Geschichte, sondern auch wegen der Postgeschichte bergen deutsche Marken sowohl Potenzial für historische Untersuchungen als auch für transkulturelle Vergleiche. Nur sehr wenige Beiträge nehmen indessen eine dezidiert komparatistische Perspektive ein. Thomas Richter kann in einem aufschlussreichen Vergleich von Briefmarken-Bildern der Reformation zeigen, dass in der alten Bundesrepublik „keine in sich geschlossene Lutherdeutung“ vorlag, in der DDR hingegen statt Luther Thomas Müntzer als Identifikationsfigur der Reformation propagiert wurde. Florian Martin Müller demonstriert, wie die Darstellung archäologischer Funde auf Briefmarken Mazedoniens und Griechenlands vor allem seit Anfang der 1990er-Jahre nach innen kulturelle Identität vermittelte, während nach außen „die Legitimation für die Selbstständigkeit des neuen Staates und die häufig umstrittene Integrität seines historischen Territoriums untermauert“ werden sollte (S. 283).

Einige Beiträge allerdings nehmen Briefmarken lediglich zum Anlass historischer Betrachtungen, verfehlen dabei aber das Spezifische der Briefmarke; beispielsweise der Mitherausgeber René Smolarski, der sich in seiner Untersuchung nationalsozialistischer Geschlechterrollen auf Briefmarken, die zwischen 1933 und 1945 herausgegeben wurden, angesichts von Krankenschwesterdarstellungen über deren Realitätsferne wundert: „Keine sterbenden Patienten, amputierte Gliedmaßen, ja nicht einmal medizinisches Gerät ist zu sehen“ (S. 390). Im Einzelfall erfährt man zwar so allerlei, doch die Bedeutung der Briefmarke als historische Quelle gerät dabei nicht in den Blick. Dies gilt auch für Sebastian Knoll-Jungs Ausführungen zu „Briefmarken als Quellen für die Medizingeschichte“: Er wirft vielversprechende Fragen auf, argumentiert aber zu sehr aus der Sicht des Sammlers.

Am ergiebigsten sind die Beiträge immer dann, wenn Gestaltungsfragen einbezogen werden, so bei Tilmann Siebeneichner, der die Kampfgruppen der Arbeiterklasse auf Briefmarken der DDR untersucht. Silke Vetter-Schultheiß zeigt am Beispiel des Europäischen Naturschutzjahres 1970 anschaulich, wie Briefmarken als „Werbeträger für einen im Entstehen begriffenen grenzübergreifenden Natur- beziehungsweise Umweltschutz“ funktionierten (S. 453). Überzeugend ist auch, wie Björn Onken in einer differenzierten Darstellung die Serie „Bedeutende Deutsche“ der Bundespost aus den frühen 1960er-Jahren „als historische Quelle für die Geschichtskultur und ihre politische Instrumentalisierung im Spannungsfeld der deutschen Frage“ interpretiert (S. 117). Werner Boddenberg schließlich gelingt es, anhand einer einzigen Marke, der bundesdeutschen Kriegsgefangenen-Gedenkmarke von 1953, einen ganzen historischen Problemkomplex zu entfalten. Indem er noch andere Bildmedien wie Fotografien von Kriegsgefangenen heranzieht, kann er überdies das Besondere der Kriegsgefangenen-Briefmarke in ihrer prononcierten Zeichenhaftigkeit herausarbeiten. Sofern die Interpretation sich nicht mit der Erörterung bereits bekannter historischer Zusammenhänge begnügt, sondern den ikonographischen und gestalterischen Aspekten Rechnung trägt (idealerweise sogar im Vergleich unterschiedlicher Medien), kann die Briefmarke tatsächlich zu einer ergiebigen historischen Quelle werden. Ansonsten bleibt ihr nur eine illustrative Funktion.

Anmerkungen:
1 Vgl. meine Sammelrezension zu „Philatelie und Geschichtswissenschaft“, in: H-Soz-Kult, 04.02.2019, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-28618 (24.07.2019).
2 Siehe den Bericht von Liska Kübel / Dominik Gärtner, in: H-Soz-Kult, 28.02.2018, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7577 (24.07.2019).
3 Vgl. https://doi.org/10.14220/9783737009379 (24.07.2019).
4 Die Kapitelüberschriften machen eine der Schwachstellen des Bandes deutlich und zwar den Verzicht auf sprachliche Prägnanz. Ein gründliches Lektorat hätte vielen Beiträgen gut getan.
5 Speziell hierzu befindet sich ein Sammelband im Druck, der vom Rezensenten gemeinsam mit Detlev Schöttker im Kulturverlag Kadmos herausgegeben wird: Philatelie als Kulturwissenschaft. Weltaneignung im Miniaturformat, Berlin 2019.