Cover
Titel
Genealogie der Selbstführung. Zur Historizität von Selbsttechnologien in Lebensratgebern


Autor(en)
Senne, Stefan; Hesse, Alexander
Reihe
Praktiken der Subjektivierung 15
Anzahl Seiten
479 S.
Preis
€ 44,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Elberfeld, Institut für Pädagogik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Das Selbst bzw. das Subjekt ist in den vergangenen zehn Jahren zu einem boomenden Forschungsfeld der Sozial- und Kulturwissenschaften geworden. In der Geschichtswissenschaft hat sich hierzulande vorrangig die Zeitgeschichtsschreibung zur Bundesrepublik Deutschland hervorgetan, wohingegen frühere Epochen und außereuropäische Räume bislang nur vereinzelt Gegenstand deutschsprachiger Studien waren.1 Die vorliegende Arbeit von Stefan Senne und Alexander Hesse – die als Gemeinschaftsdissertation von der Fakultät für Human- und Gesellschaftswissenschaften der Universität Oldenburg angenommen wurde – entstand am dortigen Graduiertenkolleg „Selbst-Bildungen“, das mit seinem interdisziplinären Ansatz nicht unerheblich zu dem angesprochenen Aufschwung beigetragen hat.2

Die Autoren gehen der gouvernementalitätstheoretisch induzierten Frage nach, wie sich eine moderne Form der Selbstführung ausgebildet und gewandelt hat. Unter Selbstführung verstehen sie einen Sonderfall von Subjektivierung, der im 20. Jahrhundert zur zentralen Kategorie des Selbstverständnisses und -verhältnisses geworden sei. In ihrer Studie beziehen sie sich hauptsächlich auf Lebensratgeber, da sich in diesem spezifischen Sachbuchgenre Diskurse der Selbstführung verdichten und sie mittels Übungen greifbare Anleitungen an die Hand geben. Sie unterscheiden sich von sonstiger Ratgeberliteratur insofern, als es bei ihnen um den „Menschen als ‚Ganzes‘“ gehe (S. 29) und nicht nur um einzelne Lebensbereiche. Entsprechend kritisieren Senne/Hesse den Fokus vieler Untersuchungen auf das „unternehmerische“ oder „therapeutische“ Selbst.3 Statt derlei „Großkategorien“ (S. 35) zu verwenden, plädieren die beiden Autoren für eine genealogische Analyse konkreter Subjektivierungstechniken in ihrer historischen Spezifizität.

Dabei nehmen Senne/Hesse für sich in Anspruch, erstmals ein repräsentatives, systematisch erschlossenes Quellenkorpus verwendet zu haben. Nach einer ersten Sichtung und unter Verweis auf die Sekundärliteratur haben sie drei distinkte Phasen identifiziert, in denen sich entscheidende Umbrüche im Regime der Selbstführung vollzogen hätten: die 1920er-Jahre, die 1960er-/1970er-Jahre und die 1990er-/2000er-Jahre. Mit Hilfe einschlägiger Kataloge haben die Verfasser deutschsprachige Titel aus dem engeren Bereich der Lebensratgeber ermittelt, die in den Zeiträumen 1916–1942, 1960–1979 und 1995–2005 erschienen sind. Ferner haben sie vornehmlich religiöse oder esoterische Bücher aus dem Quellenkorpus herausgenommen und angesichts der schieren Menge von Publikationen in der dritten Phase die Auswahl hier auf einzelne Veröffentlichungsjahre eingegrenzt (1995/96, 2000/01, 2004/05). Die Gliederung der Arbeit orientiert sich an dieser Periodisierung, indem den drei Epochen jeweils ein Großkapitel gewidmet wird, das aus zwei Teilen besteht: im ersten werden die Lebensratgeber einer detaillierten Analyse unterzogen, im zweiten wird das Selbstführungsregime historisch kontextualisiert, und es wird nach dessen Verbreitung in Institutionen gefragt – konkret in Betrieben und Schulen.

Anfang des 20. Jahrhunderts verdichtete sich die Frage der Selbstführung, und das Genre des Lebensratgebers kam auf. Im Rahmen einer kulturkritischen Betrachtung der Moderne zeichneten diese das Selbstverhältnis als ein zutiefst krisenhaftes. Indes stellte das eigentliche Problem die Willensschwäche des Einzelnen dar, wodurch er schutzlos äußeren Reizen und unbotmäßigen Phantasien ausgeliefert sei. Im Zentrum der propagierten Subjektivität standen daher Wille und Verstand, um den „Kampf ums Dasein“ zu meistern. Die konstitutive Bindung dieses Selbst an eine „soldatische Männlichkeit“ wird überraschenderweise nicht herausgearbeitet, wie auch generell die Geschlechterdimension nur vereinzelt Beachtung findet. Historisch situieren Senne/Hesse die frühen Ratgeber in einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel, der bei vielen Menschen zu einem Orientierungsverlust führte. In Reaktion darauf boten die Lebensratgeber neue Deutungsmuster an, die der Moderne angemessener erschienen, auch weil sie sich auf zeitgenössisch dominierende wissenschaftliche Erkenntnisse der Psychologie, Physiologie und des Neolamarckismus (der Lehre von der Vererbung erworbener Eigenschaften) beriefen. In Institutionen habe Selbstführung noch keine Resonanz gefunden, da sie überkreuz lag mit deren disziplinärer Ordnung.

In den 1960er-/1970er-Jahren professionalisierten sich die Ratgeber, und um sie herum entstanden weitere Angebote zur richtigen Lebensführung. Zugleich wandelte sich das Autor-Leser-Verhältnis, und an die Stelle eines rigiden Dirigismus trat der Aufruf zur Mitarbeit etwa in Form von Selbsttests. Im Mittelpunkt der anvisierten Subjektivität stand die Selbstentfaltung. Kritisiert wurden folglich ein Übermaß an Kontrolle und Konformismus sowie die Unterdrückung der inneren Natur. Dahinter verbarg sich eine neue Anthropologie des Menschen als Bedürfniswesen, die der Humanistischen Psychologie entstammte. Zugleich gewann das soziale Umfeld enorm an Bedeutung. Dem Anderen wurde eine eigene Subjektivität zugestanden, deren Bedürfnisse es zu erkennen galt, was die Fähigkeit zur Interaktion voraussetzte. Senne/Hesse verorten die Lebensratgeber ihrer mittleren Epoche in einer Zeit gesellschaftlicher Liberalisierung und Pluralisierung, die zusammentraf mit der sich abzeichnenden Krise des fordistischen Produktionssystems. Vor diesem Hintergrund schwangen sich die Ratgeber zu lautstarken Vorkämpfern nicht-autoritärer Selbstführungsformen auf, wobei sie sich neben der Humanistischen Psychologie auf die Kybernetik beriefen. Nun öffneten sich auch die Institutionen für Selbstführung. Allerdings beschränkte sich das auf die Ebene der Vorgesetzten respektive Lehrer.

Die 1990er-/2000er-Jahre sahen das sukzessive Wachstum und die Ausdifferenzierung der Lebensratgeber. Eine Neuerung bestand in der Aufgabe der Linearität des Textes zugunsten frei kombinierbarer Module, die mehr Reflexivität voraussetzten. Subjektivität nahm die Form einer ständigen Selbst-Aktualisierung an, die ohne festes Telos auskam. Hervorstechendstes Merkmal dieses Regimes war die radikale Eigenverantwortung. Mit dem Versprechen von Freiheit und Abenteuer zogen die Ratgeber gegen Sicherheits- und Statusdenken zu Felde, wobei speziell die traditionelle und männlich konnotierte Organisation der Arbeit ins Visier geriet. Die Übungen in den Ratgebern umfassten primär Metatechniken, welche die Selbsttransformation verstetigen sollten. Das betraf etwa die Responsabilisierung durch das Abschließen eines Vertrags mit sich selbst. Daneben wurde unter Verweis auf die Neurowissenschaften gesteigerter Wert auf emotionale Kompetenz gelegt. Eine innere Natur musste dabei nicht freigelegt werden, denn das propagierte Subjekt kam ohne festen Kern aus. Gelungene Selbstführung reduzierte sich letztlich auf flexible Anpassung an eine sich ständig verändernde Umwelt, wozu es vor allem reflexiver Strukturen bedurfte. Als wesentliche Kontexte werden der Übergang zu einem post-fordistischen Produktionssystem sowie der Aufstieg des Neoliberalismus ausgemacht. Dies habe den Nährboden dafür bereitet, dass sich Selbstführungsregime endgültig in Institutionen durchsetzen konnten – und zwar bezogen auf alle Individuen, nicht nur auf die Leitungsebene.

Die Studie kommt zu etlichen interessanten Befunden und erörtert diese auf hohem theoretischem Niveau. Dennoch hat sich mir beim Lesen der Eindruck aufgedrängt, dass die Analyse gleichzeitig zu konkret und zu abstrakt ausgefallen ist. Erstens gerät durch den engen Fokus auf Lebensratgeber der breitere Diskurs nur unzureichend in den Blick, was zu einigen falschen Interpretationen führt, die sich auch in der Periodisierung niederschlagen. Beispielsweise werden Gruppenmodelle und Feedbackverfahren sowie die Beschäftigung mit Emotionen einseitig in der dritten Phase verortet, obwohl sie bereits im Gruppenboom um und ab 1968 eine eminent wichtige Rolle spielten. Des Weiteren wird den Ratgebern ein universaler Geltungsanspruch zugeschrieben, ohne die vornehmlich schichtspezifische Verbreitung sowie die evidente geschlechterspezifische Adressierung hinreichend zu erörtern. Generell stellt sich die Frage, ob man zur Erklärung des Wandels die Phasen der Übergänge ausklammern sollte, noch dazu, wenn die Periodisierung wesentlich aus der Forschungsliteratur übernommen wurde.4 Zweitens sehe ich einen Widerspruch zwischen der genealogischen Perspektive und der starken Tendenz zu theoretischen Abstraktionen. So wird die Wahl der Lebensratgeber damit begründet, dass es bei ihnen um den „ganzen Menschen“ gehe. Dem liegt jedoch eine historisch-kontingente Annahme über das Subjekt zugrunde, die es zu problematisieren gilt. Ähnlich verhält es sich mit der Kritik an Arbeiten zur Therapeutisierung, die nicht die „Essenz“ (S. 25) des Psychologischen bestimmen würden. Zugleich berufen sich Senne/Hesse aber explizit auf die anti-essentialistische Stoßrichtung der Genealogie.5

Drittens stellen die Autoren Subjektivität und Institution, Selbst- und Fremdführung einander gegenüber. Dabei unterschlagen sie zum einen die subjektivierenden Effekte von Institutionen bzw. setzten sie diese voreilig mit Herrschaft gleich. Zum anderen scheint Selbstführung im Unterschied zur Fremdführung prinzipiell eigensinniger zu sein, wohingegen der Clou von Foucaults Regierungskonzept darin besteht, die Konvergenzen zu betrachten und Widerstände nicht einfach im Individuum zu verorten. Viertens ist der Aufbau der Arbeit mitunter arg schematisch. Als Historiker stößt man sich besonders an der strikten Trennung von Inhaltsanalyse und Kontextualisierung, wodurch die Selbstführungsregime der Lebensratgeber im luftleeren Raum zu schweben scheinen. Überdies fällt die historische Einbettung recht schmal aus. Beispielsweise findet die Reformpädagogik trotz ihrer Bedeutung für die Frage der Selbstführung in der Schule keinerlei Erwähnung. Vielfach beschränken sich die Autoren auf die Übernahme hinlänglich bekannter Narrative.6 Schließlich erklären Senne/Hesse den Wandel der Selbstführungsregime wahlweise als Reaktion auf gesellschaftliche „Basisprozesse“ (S. 35), womit in der Regel sozioökonomische Faktoren gemeint sind, oder aus den instabilen und widersprüchlichen Strukturen des Subjekts, gleichwohl ohne die konstitutive Funktion von Differenzkategorien wie Klasse und Geschlecht zu betrachten. Außen vor bleiben bei dem Erklärungsansatz die gesellschaftlichen Kämpfe zwischen konkurrierenden Subjektentwürfen, die etwa bei Andreas Reckwitz über den Begriff der Hegemonie analytisch eingefangen werden.7 Dass dies hier fehlt, dürfte damit zusammenhängen, dass konkrete Akteure in der Untersuchung quasi nicht vorkommen. Ungeachtet der konzeptionellen Kritik ist das Buch jedem zu empfehlen, der sich für die Geschichte des Selbst interessiert.

Anmerkungen:
1 Statt umfangreicher Literaturangaben vgl. nur Wiebke Wiede, Subjekt und Subjektivierung, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 26.10.2019, http://docupedia.de/zg/Wiede_subjekt_und_subjektivierung_v2_de_2019 (23.11.2019).
2 Das Graduiertenkolleg bestand von 2010 bis 2019: https://uol.de/graduiertenkolleg-selbst-bildungen (23.11.2019).
3 Vgl. u.a. Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main 2007; Eva Illouz, Die Errettung der modernen Seele. Therapien, Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe, Frankfurt am Main 2009.
4 Ebenso folgt die Arbeit implizit der umstrittenen Säkularisierungsthese, indem sie religiöse und esoterische Ratgeber, wie erwähnt, von vornherein ausklammert. Das erklärt aber auch, warum beispielsweise die Sakralisierung und Orientalisierung von Selbstverhältnissen in den 1960er/1970er-Jahren keine Aufmerksamkeit findet.
5 Ferner wird der Begriff des Privaten ohne jedwede Problematisierung analytisch verwendet. Aus einer foucaultschen Perspektive mutet es zudem seltsam an, wenn von „echter Subjektivität“ (S. 434), „Pseudoindividualisierung“ (S. 223) oder dem „eigentlichen Ursprung“ (S. 307) die Rede ist.
6 Das betrifft auch den unbesehenen Gebrauch des Krisen-Begriffs, dessen Konstruktionscharakter und strategische Verwendung nicht weiter reflektiert werden.
7 Vgl. Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2005.