In dem Maße, in dem in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts historisches Denken zum Leitfaden der politischen Öffentlichkeit und der kulturellen Orientierung im neuen deutschen Nationalstaat wurde und die Geschichtswissenschaft damit Deutungshoheit erlangte, entstand auch im deutschen Judentum das Bedürfnis nach historischer Selbstvergewisserung und die Suche nach Überresten aus der deutsch-jüdischen Vergangenheit. Ausdruck dieses neuen historischen Denkens im deutschen Judentum war die Gründung des ,Gesamtarchivs der deutschen Juden' im Jahr 1905. Seine Aufgabe bestand einerseits darin, Quellen aus den jüdischen Gemeinden in Deutschland und Dokumente von deutsch-jüdischen Organisationen und Vereinen zu sammeln und auszuwerten. Andererseits sollte es eine Übersicht über die in anderen Archiven vorliegenden Quellen zur jüdischen Geschichte erstellen. Sitz dieses Archivs war Berlin, und 1910 bezog es seine Räume in der Oranienburger Straße. Bis zur Mitte der 20er Jahre hatte das Archiv unter anderem Unterlagen aus knapp 350 jüdischen Gemeinden gesammelt.
Nach dem 9. November 1938 beschlagnahmten die nationalsozialistischen Machthaber das ,Gesamtarchiv', vor allem die Rassenforscher hatten Interesse an den umfangreichen genealogischen Beständen, die heute nur noch als Mikrofilm vorhanden sind. Die nicht-genealogischen Quellen wurden zunächst im ,Geheimen Preußischen Staatsarchiv' in Berlin Dahlem reponiert, bis sie, während des Krieges ausgelagert, nach 1945 in das staatliche Archivlager nach Merseburg kamen. 1950 wurden sie der Jüdischen Gemeinde von Berlin zurückgegeben, von wo ein Teil der Quellen in das ,Central Archiv for the History of the Jewish People' in Jerusalem, und ein weiterer, erheblich kleinerer Teil in das Archiv des Leo Baeck Instituts in New York kam. 1958 vertraute die Jüdische Gemeinde Berlin die ihr verbliebenen Bestände dem Zentralen Staatsarchiv der DDR zur Verwahrung an, bis diese 1996 der acht Jahre zuvor gegründeten Stiftung ,Neue Synagoge - Centrum Judaicum' übergeben wurden, so dass die Bestände damit wieder an ihren historischen Sitz in der Oranienburger Straße zurückkehren konnten.
In der Reihe ,Quellen zur Geschichte der Juden in den neuen Bundesländern', einer vom Leo Baeck Institut und seiner wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft in Deutschland initiierten Bestandsübersicht, ist nun ein Findbuch über die Bestände des Archivs des ,Centrum Judaicum' erschienen, in dem neben den alten Teilbeständen des ,Gesamtarchivs' auch die nach 1945 gesammelten und im Archiv der Stiftung zusammengefassten Dokumente erfasst sind: 400 laufende Meter an Quellen, ferner etwa 2500 Mikrofilme und über 10.000 Mikrofiches. Aufgrund des Umfangs ist dieser Band der Reihe in zwei Teilbände unterteilt, einen fast 600seitigen Band, der allein den Bestand ,Jüdische Gemeinden' abdeckt, neben Berliner Quellen vorwiegend Dokumente aus kleineren Ortschaften. Der zweite Teilband erfasst auf knapp 300 Seiten zunächst Quellen aus den Provinzial-, Distrikts- und Bezirksrabbinaten sowie aus den Gemeindeverbänden, den Zusammenschlüssen jüdischer Gemeinden, ferner Unterlagen jüdischer Organisationen, dem ,Deutsch-Israelitischen Gemeindebund' zum Beispiel, der ,Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums' oder dem 1916 gegründeten ,Deutsch-Jüdischen Wanderbund >Kameraden<'.
Schließlich enthält das Archiv des ,Centrum Judaicum' eine ebenfalls aus dem Gesamtarchiv stammende Reihe von Nachlässen und Teilnachlässen, etwa von Leo Baeck, oder der ersten Rabbinerin in Deutschland Regina Jonas, daneben auch das Familienarchiv der Familie Veit, zu denen der Begründer des Bankhauses Veit und der Verleger Moritz Veit gehörte. Neben diesen aus dem ,Gesamtarchiv' stammenden Beständen umfasst das Archiv des ,Centrum Judaicum' weitere, neu erschlossene und gesammelte Quellen: zunächst aus der Berliner jüdischen Gemeinde vor 1945 eine Kartei aller seit 1873 aus der Gemeinde ausgetretenen Juden, ferner das Archiv der jüdischen Gemeinde von Halle an der Saale, Dokumente aus den jüdischen Gemeinden in der DDR und eine Reihe von Nachlässen und Teilnachlässen.
Mit diesem Band liegt nunmehr die Reihe ,Quellen zur Geschichte der Juden in den neuen Bundesländern', die 1996 mit einer Archivübersicht eröffnet wurde, vollständig vor. Während es sich bei den Bänden zwei bis fünf dieser Reihe um Spezialinventare handelt, die Auskunft über die für die jüdische Geschichte relevanten Quellen in staatlichen Archiven geben, stellt dieser Band ein Findbuch dar, das den gesamten Bestand eines Archivs, des ,Centrum Judaicum', erschließt. Die in den Bänden zwei bis fünf erfassten Quellen betreffen vor allem die Beziehungen der jüdischen Bevölkerung zu staatlichen Instanzen und zur christlichen Bevölkerung, die in dem vorliegenden sechsten Band verzeichneten Quellen hingegen geben eher ein Bild von der Innensicht der jüdischen Gemeinden und den innerjüdischen Beziehungen. In einem doppelten Sinn knüpft die mit diesem Band abgeschlossene Reihe an die mit dem Holocaust zerstörte Tradition deutsch-jüdischer Geschichtsschreibung an. Der letzte Band erschließt die aus dem ,Gesamtarchiv' in Deutschland verbliebenen Quellen (leider ist aus der Einleitung nicht zu erfahren, wie und auf welchem Wege die Quellen in das ,Central Archiv' in Jerusalem gelangt sind), gleichzeitig hat sich die Reihe der zweiten Aufgabe des einstigen ,Gesamtarchivs' angenommen, der Sichtung und Erfassung der Quellen zur jüdischen Geschichte in staatlichen Archiven. Damit liegt nun ein für die Forschung zur Geschichte der Juden in Deutschland unschätzbares Hilfsmittel bereit, auf das jeder, der mit dieser gebrochenen und vom nationalsozialistischen Deutschland zerstörten Geschichte aufarbeiten möchte, zurückgreifen wird.