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Titel
UN-Blauhelme. Kanada und die Politik des Peacekeepings im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Schulte, Jan Erik
Reihe
Krieg in der Geschichte 104
Erschienen
Paderborn 2020: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
531 S.
Preis
64,00 €
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Andreas Hilger, Deutsche Historische Institut Moskau

Die Erforschung der Geschichte internationaler Organisationen hat in den letzten Jahren deutlich an Schwung und Vielfalt gewonnen. Dies gilt auch für Aktivitäten und Einrichtungen der Vereinten Nationen. Die Geschichte des Peacekeepings hat indes bislang noch nicht die stringente Aufmerksamkeit der Geschichtswissenschaft gefunden, sieht man von verschiedenen Studien zu einzelnen Einsätzen oder nationalen Entscheidungsfindungen ab. Ansonsten dominieren politikwissenschaftliche Bestandsaufnahmen das Feld.1 Schon von daher ist es zu begrüßen, dass Jan Erik Schulte mit seiner Bochumer Habilitationsschrift von 2016 eine historische Tiefenbohrung vornimmt. Er leistet dies auf beeindruckend breiter Quellenbasis, die von staatlichen und kirchlichen Akten bis hin zu Schulbüchern reicht. Auch wenn sich die Darstellung nicht immer ganz leicht liest und mitunter sehr detailverliebt erscheint, lohnt die Lektüre unbedingt.

Schulte stellt ebenfalls nationale, das heißt hier im Wesentlichen kanadische Beiträge, Diskurse, Akteure und Entscheidungsprozesse in den Mittelpunkt. Da Kanada ein früher Befürworter und Protagonist des Ansatzes war, die Rolle der Vereinten Nationen in zentralen Fragen von internationaler Sicherheit und globalem Frieden zu stärken, schlüsselt die Analyse jedoch letztlich breite Aspekte des gesamten Forschungsfelds auf und regt zugleich zu weiterführenden und vergleichenden Arbeiten an. Da sich für die internationalen Aktivitäten des Landes auf der anderen Seite sehr spezifische Motivationen und Rahmenbedingungen verzeichnen lassen, macht Schultes Arbeit zugleich die Komplexität des Untersuchungsgegenstands Peacekeeping deutlich: Die zukünftige Forschung wird Analysen von Krisensituationen, Perspektiven der Vereinten Nationen und des Sicherheitsrats sowie vielschichtige Entscheidungsfindungsprozesse von Befürwortern und Gegnern nationaler Einsätze zusammenbringen müssen, um zu einer Globalgeschichte des Peacekeepings zu kommen.2

Schultes Arbeit setzt in der Zwischenkriegszeit ein, als Kanada Mitglied der Regierungskommission wurde, die nach dem Ersten Weltkrieg das Saarland als Mandat des Völkerbundes verwaltete. Im Gesamtgeschehen – einschließlich der Absicherung des Saar-Referendums durch internationales Militär 1935, allerdings ohne kanadische Beteiligung – erkennt Schulte grundlegende Mechanismen und Problemfelder einer internationalen Friedenswahrung, die, unter anderen politischen und internationalen Bedingungen, auch nach 1945 von Bedeutung waren. Kanada selbst trug den gewandelten Konstellationen und neuen Erfahrungen nach 1945 Rechnung, indem es in seiner Außenpolitik von internationaler Zurückhaltung und Isolationismus auf multilaterale Konfliktlösung umschwenkte.

Detailliert zeichnet Schulte kanadische Entscheidungen zum Engagement von den Anfängen in Palästina und Südasien Ende der 1940er-Jahre bis zum 21. Jahrhundert nach. Die endgültige Einrichtung der UN-Blauhelme während der Suezkrise 1956 stellte einen Meilenstein kanadischer Aktivitäten dar, der Einsatz auf Zypern (ab 1964) einen weiteren. Das Ende des Kalten Kriegs brachte einen vorübergehenden Aufschwung des UN-Peacekeepings mit sich, an dem auch Kanada seinen Anteil hatte. Die teils umstrittenen, teils gescheiterten Einsätze der UN-Kontingente in Jugoslawien, in Somalia und in Ruanda führten zu einem deutlichen Absinken sowohl des allgemeinen internationalen als auch des kanadischen Engagements. Doch während die entsprechenden Peacekeeping-Einsätze der UN ab 2000 wieder deutlich an Quantität, Umfang und Aufgaben zunahmen, blieb die kanadische Politik äußerst zurückhaltend. Sie konzentrierte sich nun vornehmlich auf einen Beitrag zum sogenannten Kampf gegen den Terror. Die Untersuchung arbeitet für die verschiedenen Einsätze kanadischer Truppen jeweils eine komplexe Mischung der zeitgenössischen Motivationen heraus. Dabei saßen innerhalb des Behördenapparats wichtige Kritiker des internationalen Engagements vor allem im Militär und Verteidigungsministerium. Hier fürchtete man eine Ablenkung von verteidigungspolitischen Kernaufgaben und eine Überlastung der eigenen Ressourcen. Mit diesen Argumenten konnten die Kritiker sich jedoch gegen die diplomatischen Befürworter der Peacekeeping-Aktivitäten nicht durchsetzen. Diese wollten mit ihren außenpolitischen Positionierungen die Unabhängigkeit von der ehemaligen Metropole London, dann die Distanz zur Politik des südlichen Nachbarn USA betonen. Dies war mit dem Bestreben verbunden, in der Welt des Kalten Kriegs bzw. angesichts der neuen Dynamiken und Unsicherheiten nach 1989 generell die internationale friedliche und einvernehmliche Konfliktlösung voranzubringen. Dies würde zugleich zur Sicherheit Kanadas beitragen und seine internationale Sichtbarkeit verstärken. Allerdings kamen in Ottawas konkreten Entscheidungen immer auch bündnispolitische sowie, im Kalten Krieg, antisozialistische Erwägungen zum Tragen. Von daher beschrieben und beschreiben Selbstdarstellungen oder Deutungen, die mit dem vagen Konzept einer Mittelmacht oder dem Begriff des staatlichen internationalen norm entrepreneur arbeiten, nur Teile des Gesamtbilds.

Unabhängig davon gaben sich Politik und, mit einiger Verzögerung, Gesellschaft davon überzeugt, dass im wesentlichen Beitrag Kanadas zum Peacekeeping der UN beste nationale Traditionen und Werte zum universalen Wohl Ausdruck fanden. Schultes erhellende Ausführungen zum „kolonialen Blick“ der entsprechenden kanadischen Aktivitäten machen deutlich, dass diese Werte insgesamt die Weltsicht des globalen Nordens widerspiegelten (S. 283-308). Darüber hinaus zeigt die Arbeit, dass sich Maßstäbe, nach denen die Maßnahmen in Kanada bewertet wurden, vielfach aus Gewinn- und Verlustrechnungen für Ottawas Politik und Ansehen ableiteten und sich weniger an Belangen der Krisenherde und ihrer Opfer orientierten.

Im Ganzen beschreibt der Autor die kanadische selektiv-positive Selbstbeschreibung als wirkungsmächtigen politischen Mythos. An ihm arbeitete demnach seit den 1950er-Jahren ein breites Spektrum politischer wie zivilgesellschaftlicher Akteure mit zunehmendem Erfolg. Peacekeeping stellte in den Augen gut vernetzter Repräsentanten und Protagonisten ein Projekt dar, das nationale Identität und innenpolitischen Zusammenhalt fördern und festigen konnte. Die Relevanz eines solchen Instruments ergab sich aus den zentrifugalen Kräften im Land, die im Untersuchungszeitraum mehrfach deutlich die innere Einheit auf die Probe stellten. Auf Dauer hatten die Förderer des Mythos offenbar einigen Erfolg, indem sie in einem neuen Thema kursierende Narrative sowohl über eine starke militärische Tradition als auch über einen angeblich friedfertigen Charakter der Kanadier aufnahmen. Schultes multiperspektivische Beweisführung integriert Stellungnahmen aus Medien, Kirchen, NGOs, Gewerkschaften, Parteien, individuelle Stimmen aus der Bevölkerung und Schulbücher und, damit einhergehend, Einschätzungen der anglo- und frankophonen Bevölkerungsteile – weitaus weniger prominent werden Ansichten der sogenannten First Nations im Land abgehandelt. Die Kraft des konkreten Mythos und die Vielschichtigkeit, die sich aus multiplen potenziellen Anknüpfungs- und Schwerpunkten in Aussage und Aneignung ergab, manifestierte sich im weltweit ersten Peacekeeping-Denkmal. Es wurde im Oktober 1992 enthüllt. Dass der Mythos den erwähnten faktischen weitgehenden Rückzug Kanadas aus den UN-Operationen nach 2001 überdauerte, verdeutlichte die innenpolitische Akzeptanz zusätzlich. Das spezifische Gewicht im gesamten Werkzeugkasten des kanadischen nation building bleibt indes unklar.

Im Ganzen diskutiert Schulte in beispielhafter Dichte Interdependenzen zwischen Innen- und Außenpolitik, die Kanadas Zugang zum Peacekeeping prägten. Die jeweiligen Erwägungen richteten sich auch in Kanada an eigenen Prioritäten aus. Sie fielen oft mit der internationalen Agenda von UN und anderen internationalen Akteuren zusammen und trugen auf diese Weise zur Entwicklung und zu Erfolgen des Peacekeepings bei. Die Rückbindung an nationale Perspektiven und Interessen verweist jedoch zugleich auf kanadische Grenzen der entsprechenden internationalen Zusammenarbeit.

Anmerkungen:
1 Vgl. Norrie MacQueen, The United Nations, peace operations and the cold war, Harlow 2011; Karim Makdisi and Vijay Prasad (eds.), Land of blue helmets. The United Nations and the Arab world, Oakland 2017.
2 Vgl. ansatzweise Alex J. Bellamy and Paul D. Williams (eds.), Providing peacekeepers. The politics, challenges, and future of United Nations peacekeeping contributions, Oxford 2013.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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