Die Epochengrenze zwischen Früher Neuzeit und Moderne bildet nach wie vor eines der diskutierten Probleme der Geschichtswissenschaft. Seit Thomas Nipperdeys “Am Anfang war Napoleon”1, das die Wende zum 19. Jahrhundert als eklatanten Neubeginn ohne konstruktiven Bezug zum Vorhergewesenen mißverstehen wollte, hat sich die Moderneforschung zunehmend bemüht, Brückenschläge zwischen den Epochen nachzuweisen. Ein bekanntes Beispiel bietet Winfried Schulzes Bild vom “Musterbuch der Moderne”2, als das die Frühe Neuzeit valente Beiträge zur Entstehung der modernen Gesellschaft geleistet habe. Die Gefahr, die solche Fokussierungen auf historische Epochen unter dem Signum der Modernisierungstheorie mit sich bringen, besteht dabei stets in der Hierarchisierung der Jahrhunderte nach ihren Anteilen an modernen oder aber rückständigen Elementen.
Nun ist das Erscheinen eines Buches anzuzeigen, das einen möglichen Weg aus diesem Dilemma weisen will, und dies in einem Themenbereich, der bislang als der eingängigste Beleg dafür angesehen wurde, dass der Weg in die moderne Gesellschaft einem beschwerlichen Abschied von Überhängen der Vorgängerepoche gleichkam: der Geschichte des Adels im langen 19. Jahrhundert. Hervorgegangen aus einer lose zusammengeschlossenen Dresdner Forschungsgruppe zur sächsischen Adelsgeschichte, vereint der Band in der Herausgeberschaft von Silke Marburg und Josef Matzerath insgesamt zehn Beiträge unterschiedlichen Umfangs, die sämtlich der Frage nachgehen wollen, “wie erfolgreich adlige Symbolisierungspraktiken in einer ‚bürgerlichen‘ Gesellschaft waren” (Klappentext). Diese Formulierung legt offen, worum es dabei geht: um den Platz des Adels in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, um das Signum dieser Gesellschaft als ‚bürgerlich‘ und um einen Erklärungsansatz dafür, dass und wie sich Adel im 19. Jahrhundert erfolgreich als gesellschaftliche Elite behaupten konnte.
Das hinter diesem Dreisatz stehende Konzept wird im einleitenden Beitrag von Marburg und Matzerath vorgestellt (“Vom Stand zur Erinnerungsgruppe. Zur Adelsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts”, S. 5-15). Die vorausgeschickte Gesellschaftsdefinition lehnt sich an die Pluralisierungstheorie als Beschreibungsmodell für die Moderne (S. 6) an. Diese Perspektive ermöglicht es im Ausgangspunkt, Adel im 19. Jahrhundert nicht als diachron (und, in der Interpretation durch einen modernistischen Ansatz, anachronistisch) beharrenden Überhang sozusagen kopfschüttelnd wahr-, sondern als Teilordnung unter anderen Ordnungen synchron ernst zu nehmen. Der Rückgriff auf das Pluralisierungsmodell dient Marburg und Matzerath somit in erster Linie dazu, den Einschnitt um 1800 vom Ballast des Interpretationsmusters von ständischer und Klassengesellschaft zu befreien, dessen Übermacht in der historischen Forschung erst allmählich hinterfragt wird. So befand etwa Wolfgang Schmale 1998 mit Erstaunen, dass “das ständegesellschaftliche Modell noch im Sachsen und im Deutschland der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts soviel Vitalität besitzen” konnte.3 Um diese Vitalität interpretieren zu können, hatte Schmale vorgeschlagen, die Tragweite des Modells in den politisch-rechtlichen Vorstellungswelten sozialer Teilgruppen der ständischen Gesellschaft zu untersuchen. Seine Persistenz wäre dann aus gruppenüberschreitend wirksamen, erst allmählichen zurückgehenden Deutungsmustern zu erklären. Marburg und Matzerath gehen einen Schritt weiter: Sie plädieren dafür, solche Vorstellungswelten nicht allein ihrem Gehalt und ihrer sozialen Reichweite nach zu untersuchen, sondern diese Analyse um den Faktor ihrer Funktionalisierung zu erweitern. ‚Adeligkeit‘ wäre demnach nicht als soziale Kategorie an ein gesellschaftliches Strukturmodell (Ständegesellschaft), sondern als Konzept an eine gesellschaftliche Gruppe (den Adel) gebunden. Innerhalb der Gruppe wäre das Konzept dann aktiv über politische und sozioökonomische Einschnitte hinweg reproduziert und in besonderem Maße dazu genutzt worden, einen spezifischen Eliteanspruch nach außen und innen zu repräsentieren und durchzusetzen. Im Ergebnis lässt sich damit erklären, wie es dem Adel gelang, sich nicht nur in der “bürgerlichen Gesellschaft” zu behaupten, ohne selbst ‚bürgerlich‘ zu werden, sondern auch das Konzept von Adeligkeit als eines der grundlegenden Prinzipien von Elitenkonstitution in dieser Gesellschaft aufrechtzuerhalten.
Als Oberbegriff, der sowohl den Prozesscharakter und die Zielrichtung der Symbolisierung als auch deren gruppenkonstituierendes Ergebnis erfasst, bieten Marburg und Matzerath den Begriff der “Erinnerungsgruppe” an (S. 14). Diesen hatte Matzerath bereits an anderer Stelle in die Adelsgeschichtsschreibung eingeführt.4 Unter Rückgriff auf die “Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen” des Soziologen Karl-Siegbert Rehberg beschreibt der Begriff die Konstitution und permanente institutionelle Reproduktion der Sozialformation Adel von einem der zentralen Bestandteile ihres Selbstverständnisses her - dem konzeptuellen Rückgriff auf Historie und Tradition, das heißt: auf Erinnerung. Marburg und Matzerath setzen sich damit gegen Ansätze ab, die mit Heinz Reif “adlige Identität” (zitiert S. 8) auf dem Weg über fixe, über die Zeiten unveränderliche “Mentalitätskerne” zu definieren suchen. ‚Adeligkeit‘ nach der Definition des besprochenen Bandes bildet demgegenüber ein Konzept im Wandel. Es hatte sich im Rahmen der Auseinandersetzung um eine gesellschaftliche Eliteposition gegen andere Konzepte wie das ‚bürgerliche‘ Leistungsprinzip zu behaupten und war dabei fortwährendem Anpassungsdruck unterworfen.
Die Suche nach diesem Konzept ist nicht als Suche nach einem kleinsten gemeinsamen Nenner ‚des‘ Adels in Deutschland zu verstehen. Die Dynamik der dahinterstehenden Symbolisierungsleistungen erfordert vielmehr kleinräumige, regionale und lokale Bezugsfelder der Untersuchung (S. 9). Hier, nicht in einem landesgeschichtlichen Zuschnitt im traditionellen Sinn, begründet sich auch die Konzentration des Bandes auf die sächsische Adelsgesellschaft. Zugespitzt lautet die Kernaussage des hier vorgestellten Ansatzes somit: Nicht das Übrigbleiben des Adels - als Relikt einer vergangenen Gesellschaftsordnung - wäre zu untersuchen, sondern das Obenbleiben5 regional differenzierter Adelsgruppen als konstitutiver Bestandteile der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Den Beleg für dieses im Ausgangsbeitrag entwickelte Konzept sollen dem Aufbau des Bandes nach die weiteren Beiträge erbringen. Sie tun dies mit unterschiedlichen Ansätzen und in unterschiedlichem Umfang.
Den Anfang bilden zwei Aufsätze von Silke MARBURG. Der erste (S. 17-44) widmet sich der Geschichte der Genossenschaft des Johanniterordens in Sachsen, die als Geschichte einer konsequenten Symbolisierungsleistung interpretiert wird: Sowohl die Wirkung nach innen, auf die Selbstorganisation der Adelsgruppe, als auch nach außen, in der gezielten Lancierung eines Adelsbildes, das die enge Verzahnung historisch erprobter mit aktuell umgesetzter Caritas herausstrich, dienten dazu, den natürlichen Ort dieser Sozialformation an der Spitze der modernen Gesellschaft zu markieren.
Den Gedanken einer Panaschierung von Zielen adliger Selbstbehauptung mit Formen sozialen Handelns, die sich außerhalb des Adels entwickelt hatten, verfolgt Marburg auch im zweiten Beitrag zu adligen Vereinen in Dresden (S. 45-61). Angesichts der Tatsache, dass dem Vereinswesen in der klassischen Definition der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ besonderer Beweiswert zukommt, setzt die Autorin bei der bisherigen Einbindung adliger Vereinstätigkeit in die Vereinstheorie an. Dem auch dort angebotenen Erklärungsmodell vom Überhang ständischer Sozialformationen in neue Strukturprinzipien stellt Marburg in der Untersuchung dreier adliger Vereine ein konkurrierendes Deutungsangebot entgegen. Löst man sich nämlich - dem Rahmen des Bandes folgend - von einer Definition von Adeligkeit als Relikt und des Zeitalters als bürgerlich, gibt die Vereinstätigkeit Adliger den Blick frei auf eine Zeit, in der sich allgemein neue Formen der Vergesellschaftung entwickelten, die eben nicht a priori ‚bürgerlich‘ waren, sondern von einzelnen Teilgruppen der Gesellschaft, einschließlich des Adels, spezifisch im Sinne der jeweils eigenen Interessen genutzt und geformt wurden. Auf engem Raum vorgetragen, eröffnet der Ansatz an dieser Stelle eine Perspektive, die weit über die Adelsgeschichte hinaus- und tief in das Feld allgemeiner Gesellschaftsgeschichte hineinreicht.
Thomas Barth widmet sich anschließend (S. 63-93) mit Wilhelm Adolf von Trützschler einem Adligen, der in der Regel als atypischer Vertreter seines Standes bewertet wird. Der 1849 hingerichtete radikaldemokratische Paulskirchenabgeordnete hatte sich, in der Logik des vorgestellten Dresdner Ansatzes gesprochen, nicht für das Prinzip ‚Adeligkeit‘ entschieden, sondern war in seiner Ablehnung aller gesellschaftlich-institutionellen Möglichkeiten adliger Symbolisierung konsequent auf den Weg der neuen Eliten eingeschwenkt - Trützschler verweigerte sich damit der ‚Erinnerungsgruppe Adel‘.
Ines Täuber analysiert (S. 95-114) das “Album der Rittergüter und Schlösser Sachsens” (den “Poenicke”, 1854-56). Mit Mitteln der Bild- und Textanalyse weist sie nach, wie es der gutsbesitzenden Ritterschaft hier gelang, die um die Jahrhundertmitte mitnichten ausschließlich von Adligen besessenen Rittergüter dennoch mit spezifischen Zuschreibungen aus einem Konzept von ‚Adeligkeit‘ zur Legitimation einer eigenen Sonderstellung einzusetzen.
Eckart Richter und Jochen Strobel vollziehen in ihrem Beitrag (S. 115-168) den Sprung weg von einer Selbst- zur Fremdsymbolisierung des Adels. In der Perspektive auf den lange Zeit in Dresden lebenden Romantiker Ludwig Tieck wird die Attraktivität des Konzepts ‚Adeligkeit‘ für soziales Handeln bürgerlicher Protagonisten in den Blick genommen. Im Beitrag unausgesprochen, fände sich hier somit eine Gegenprobe zum Konzepttransfer zwischen ‚Adeligkeit‘ und ‚Bürgerlichkeit‘, wie er in den Beiträgen von Marburg und Barth postuliert wird.
Die Untersuchung Friederike von Gadows zu den Geschlechtstagen der Familie von Bünau im 19. Jahrhundert (S. 169-199) bleibt methodisch hinter den Möglichkeiten des Rahmenkonzepts zurück, liefert aber in Form einer Auffächerung des Materials Belege dafür, wie adlige Selbstsymbolisierung nach innen durch Traditionsanbindung auf verschiedenen Ebenen aussehen und zur Begründung fortdauernden Elitenanspruchs genutzt werden konnte.
Christoph Franke stellt ein laufendes Forschungsprojekt vor (S. 201-229): die vergleichende Analyse von Sozialstruktur und sozialer Mobilität des bayerischen und sächsischen Adels zwischen 1800 und 1970. Franke stellt seine Fragen zur Anpassung des Adels in der sich entwickelnden Industriegesellschaft von der Seite der historischen Sozialwissenschaft her und untersucht die Rolle, die im Rahmen eines solchen Anpassungsprozesses einer Binnendifferenzierung des Adels nach strukturellen und Mobilitätsgesichtspunkten zuzurechnen wäre.
Josef Matzerath und Barbara Tlusty unternehmen es (S. 231-242), die Wohnungsverteilung von Adligen in Dresden zu erfassen und zu überprüfen, inwiefern sich die ökonomische Binnendifferenzierung des Adels in den von ihm bevorzugten Wohnlagen widerspiegelt. Dabei ergibt sich, dass die Wahl des Wohnorts innerhalb der Residenzstadt als einer der Faktoren anzusprechen ist, die ungeachtet der inneren Transformierung von Adel und Adeligkeit im 19. Jahrhundert konstant blieben.
Mandy Scheffler schließlich geht der Rolle adliger Autoren in der sächsischen Medienöffentlichkeit nach (S. 243-258). Sie kommt zu dem Ergebnis, dass sich im Vergleich zwischen adliger Veröffentlichungstätigkeit und der allgemeinen Entwicklung des Buchmarktes ein adliges Spezifikum nicht nachweisen lässt.
Insgesamt erweist sich der Band als gut lesbar. Die einleitenden Theorieteile erfordern wegen ihres Argumentationsniveaus Konzentration, ohne dass Unverständlichkeit droht. Inhaltlich ist festzustellen, dass einige der Beiträge eher lose in das theoriebetonende Rahmenkonzept eingebunden bleiben, was angesichts des dort vertretenen umfassenden Erklärungsanspruchs zu bedauern ist. Wer die Tragweite des Dresdner Ansatzes für die Geschichte des 19. Jahrhunderts explizit erprobt sehen will, sieht sich daher auf die Beiträge von Marburg, Barth und Täuber verwiesen. Die übrigen Aufsätze lassen sich jedoch ‚alleinstehend‘ zu ihrem jeweiligen Forschungsgegenstand lesen und liefern implizit das Material zu einer Geschichte des Wandels “vom Stand zur Erinnerungsgruppe”.
Bei aller positiven Kritik bleibt schließlich doch eine Anmerkung nötig: Das Verhältnis zwischen einem strukturell-funktionalistischen Gesellschaftsbegriff, wie er der Modernisierungstheorie und Pluralisierungsmodellen zugrunde liegt, und einem kulturgeschichtlichen Zugriff auf Akteure adliger Symbolisierungspraktiken, wie sie der Dresdner Ansatz einschließt, wird im Band allenfalls implizit geklärt. Die im Einleitungsbeitrag geforderte Konzentration auf eine kleinräumige Untersuchungsperspektive jedenfalls scheint als Konsequenz ihres Konzepts den Autoren selbst bislang unheimlich gewesen zu sein, wenn etwa Matzerath an anderer Stelle (zitiert im Beitrag von Gadows, S. 169f.) vor der Untersuchung adliger “Einzelansichten” warnt, die den Blick auf den “Adel als gesellschaftliche Großgruppe” verstellen könnten. Wie - wenn nicht auf dem Weg über die Kontextualisierung solcher Einzelansichten mit den jeweils gegebenen und wahrgenommenen Handlungsalternativen und Deutungsmustern - sollen Symbolisierungsleistungen sozialer Gruppen, ihre Genese und Wirksamkeit aber untersucht werden? Infolgedessen bleiben an mancher Stelle Fragen offen, die etwa über die historisch-anthropologische Analyse von Selbstzeugnissen greifbar würden, ohne den Ansatz zu sprengen. Insofern kennzeichnet der Rekurs auf “kulturhistorische Valenzen” des Dresdner Rahmenkonzepts (S. 2) eine Leerstelle, in die die Beiträge des Bandes nur zögernd vordringen, die künftige Forschungen aber zu füllen hätten.
Als Anregung verstanden, beeinträchtigen aber diese Beobachtungen nicht das Verdienst und die Positionierung des Bandes in der Forschungslandschaft: Der hier vorgestellte Ansatz bietet in jedem Fall einen grundlegenden Beitrag sowohl für die Diskussion um das Verhältnis zwischen Früher Neuzeit und Moderne als auch für die mit den Studien der Berliner DFG-Forschungsgruppe “Elitenwandel” um Heinz Reif neu definierte Adelsforschung: Adelsgeschichte als allgemeine Geschichte - vor diesem Hintergrund darf man auf künftige Studien aus dem Kreis der Dresdner Gruppe gespannt sein. Die Forschung ist eingeladen, sich mit dem Konzept auseinanderzusetzen.
Anmerkungen:
1 Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1800-1866, 4. Aufl., München 1987 (1. Aufl. 1983, zuletzt 1998), S. 11.
2 Schulze, Winfried: “Von den großen Anfängen des neuen Welttheaters”. Entwicklung, neuere Ansätze und Aufgaben der Frühneuzeitforschung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 44(1993), S. 3-18, hier S. 9.
3 Schmale, Wolfgang: Herrschaft und Widerstand: Zur politischen Kultur im 17. Jahrhundert, in: Schirmer, Uwe (Hrsg.): Sachsen im 17. Jahrhundert. Krise, Krieg und Neubeginn, Beucha 1998, S. 9-24, hier S. 24.
4 Matzerath, Josef: Adel und Hauptstadt in der militärischen Gegenrevolution 1848/49, in: Reif, Heinz (Hg.): Adel und Bürgertum in Deutschland, Bd. 1: Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19. Jahrhundert (Elitenwandel in der Moderne. 1), Berlin 2000, S. 155-172.
5 Den Begriff entlehnen Marburg und Matzerath (S. 13) dem Aufsatz Rudolf Brauns: Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben: Adel im 19. Jahrhundert, in: Wehler, Hans-Ulrich: Europäischer Adel 1750-1950, S. 87-95.