Der Nachruf von Christian Geyer auf den ehemaligen Bundesverfassungsrichter Wolfgang Böckenförde in der FAZ vom 27. Februar 2019 beginnt mit dem Satz: „Wer über den großen Rechtsgelehrten der Bundesrepublik redet, ‚kann über Carl Schmitt nicht schweigen‘“.1 Der Nachruf betont, dass Böckenförde von Schmitts Fragestellungen inspiriert worden sei, wenn er auch nie den Gang seiner Argumentation bis zum Ende verfolgt habe, weil er selbst die Demokratie als Lebensform gewählt habe. Die FAZ hat dem Nachruf eine provokante Überschrift gegeben: „Demokratie als Lebensform wird von Staats wegen nicht verlangt“. Geyers Artikel hebt dagegen den Gedanken Böckenfördes hervor, dass der Staat seine Schulen zur „Lebendigerhaltung von Ethosbeständen“ anhalten solle. Mit diesen Widersprüchen, Paradoxien und Dunkelheiten könnte eine Diskussion über Schmitt, den „Kronjuristen des Dritten Reichs“, geführt werden, wenn im Augenblick nicht die Lage dafür denkbar ungünstig wäre. So wird in der gleichen Ausgabe der FAZ die gegenwärtige Situation verhärteter Lagerbildungen skizziert.2
Dass der junge Jurist Jannis Lennartz in dieser Situation eine Broschüre herausgibt, die den ästhetischen Reiz von Schmitts inkriminierten Schriften wie dem „Begriff des Politischen“ (1927, 1932, 1933) ergründen will, beweist also eine gewisse Chuzpe. Allerdings begibt er sich mit dem Titel „Juristische Granatsplitter“ gleich in den Schutz des Literaturtheoretikers Karl Heinz Bohrer, der der Autobiographie seiner Jugendjahre den Titel „Granatsplitter“3 gegeben hatte. Für den kleinen Bohrer waren es die wie Kristalle funkelnden Splitter von Granaten des Zweiten Weltkriegs, die, gefüllt mit Karbid, toxisch sein konnten. Aber Bohrer hatte ihnen ganz im Sinne seiner Theorie der „Ästhetik des Schreckens“4 Reiz abgewinnen können; denn der Schriftsteller müsse seine Wahrnehmung von Kategorien der Moral und Empathie reinigen, um zu einer wirklich „scharfen“ Wahrnehmung zu kommen, die die ästhetischen Valeurs auch von Bombenüberresten zu schätzen wisse. Als Organ der Erfahrung sei die Ästhetik der moralisch oder politisch gefärbten Perzeption entschieden überlegen.
Schon die ersten Sätze von Lennartz' Buch versuchen im Sinne Bohrers zu klären, warum Schmitts Schriften auch nach seinem „katastrophalen“ politischen Engagement noch reizen können: „Schmitts Formulierungen und Begriffe gleichen Granatsplittern: changierende Farben, scharfe Kanten. Nur das Werk der Weimarer Jahre zeigt das Funkeln, das Schmitt so spannend macht. Die Begriffsprägungen seiner kürzeren Texte verbinden Ideengeschichte mit praktischen Konsequenzen: Auch jenseits der Rechtsdogmatik – von Verfassungslehre und Preußenschlag – bereiten Begriffe der Staatslehre praktischer Politik den Boden“ (S. 1). Da die Gestalt der brisanten Texte kaum diskutiert wurde, die Exegeten „seltsam sprachlos“ ihre Form und ihren Stil vernachlässigten, will Lennartz den Reiz von Schmitt „im Spiel der Worte“ ausfindig machen.
Ein Element des Zeitgefühls, das man bei allen Heroen der Theorie der Zwanziger Jahre leicht feststellen kann, war, „nicht zu wissen, was kommt“. Kaum einer hatte vor 1933 den Terror des NS-Regimes auf dem Schirm. Die Liebe zu verschiedenen Arten der Diktatur, der sowjetischen, der italienischen oder nationalsozialistischen, war ein Merkmal der historischen Avantgarden. Nietzsche-Leser liebten das Politische als Sammelplatz der Gefahr, Schmitt bildete keine Ausnahme. Nur: Er wollte einen Staat, der die Gefahr „hegt“. Wer von den „Helden der linken Theoriegeschichte“ (von Benjamin bis Adorno und Horkheimer) hat eigentlich die parlamentarische Demokratie verteidigt? Die demokratische Sphäre des Ausgleichs in der Pluralität politischer Parteien galt ihnen einfach als langweilig. Das deutsche Bürgertum befand sich, so Lennartz, „in Schmitts Zeit in einer doppelten Frontstellung zwischen den Werten der alten Elite und dem Versprechen auf radikale Veränderung. In der Kritik der Mitte sind sich Linke und Rechte immer einig.“ (S. 23) Wenn das auch nicht für das ganze deutsche Bürgertum gilt, für die meisten radikalen Intellektuellen trifft es zweifellos zu. „Intensitätssemantik“ beherrschte das Feld der Avantgardedenker und Schmitt kombinierte sie mit dem Ordnungswunsch des starken Staats.
Schmitts Polaritätsschema von „Freund und Feind“ war ein Intensitätsmodell. Als leere Matrix konnte sie jeder Machthaber nach Belieben auszufüllen. Schmitt machte es 1933 dem NS-Staat leicht, seine Matrix der Feindschaft in die Praxis der ethnischen Säuberung überführen zu lassen, als er in seiner Schrift über „Staat, Bewegung, Volk“ als Merkmal der „Freunde“ das deutsche Volk in seiner „Artgleichheit“ eintrug. Viel Unheil in der Leere der Intensitätssemantik.
Nie aber, klagt Lennartz zu Recht, sei Schmitts Oeuvre „einer dichten Beschreibung typischer Merkmale“ seiner Texte unterzogen worden. Dabei habe er schon in der „Politischen Romantik“5 den Grundzug seiner Ästhetik erläutert: Dem „ewigen Gespräch“ wollte er den sekundenkurzen Moment als „übermächtiges, irrationales, gespenstisches Ereignis“ entgegensetzen, dessen Prachtentfaltung erst richtig im Ausnahmezustand genossen werden kann. Das konnte in den 1920er-Jahren faszinieren, in der Bundesrepublik habe der alte Staatsrat sein Leben im Sauerland als „missmutiger Melancholiker“ (S. 113) fristen müssen. Statt des Einbruchs apokalyptischer Ereignisse hatte Schmitt sich inzwischen auf langlebige Ordnungsstrukturen von „Land und Meer“6 eingelassen. Das Epische der späteren Prosa Schmitts reizt Lennartz nicht.
Ich denke, dass Lennartz das Reizvolle des Avantgardisten, der ins Lager der Juristen einfiel, richtig einschätzt. Zumindest könnte er sich auf Urteile von Zeitgenossen der Zwanziger Jahre berufen. Ernst Niekisch erklärte 1936 in seinem „Reich der niederen Dämonen“7 die Attraktion der Schmittschen Schriften aus den 1920er-Jahren damit, dass sie die verdeckten Elemente des Bürgerkriegs hinter den Fassaden der Republik enthüllten. Jetzt, 1936, sei er als Funktionär des NS-Staates intellektuell langweilig und praktisch lebensgefährlich geworden. Ein Grund, dass auch Lennartz sich mit dem Werk der späten 1930er- und der 1940er-Jahre nicht mehr befasst.
Über Lennartz' Einschätzung der Reizlosigkeit von Schmitts epischerer Prosa kann man diskutieren, ich teile sie nicht. Seine geopolitischen Schriften nach 1936 bleiben politisch brisant und lassen, was ihren Reiz an Boshaftigkeit betrifft, nichts zu wünschen übrig. Lennartz dagegen fühlt sich ein. „Selbst der totale Staat wird langweilig, Intensität und Alltag gehen nicht zusammen.“ (S. 40) Lässt sich dieses Gefühl der Langweile auf die Bevölkerung unter der Überwachung des NS-Staats und der Zugriffe der Gestapo übertragen? Die jüdische Bevölkerung Deutschlands lebte im chronischen Alarmzustand. Diese Niederungen waren von der Kommandohöhe geopolitischer Theorie leicht auszublenden.
Eine andere Dimension der Ästhetik erschließt Lennartz überzeugend, wenn er Schmitts „Begriffs-Realismus“ (ein Terminus, den er selbst in seinen Tagebüchern nach 1945 prägte) zu einem Brennpunkt seiner weiteren Analyse macht. In der Prägung markanter Begriffe schafft Schmitt „neue Blickachsen“, die er durch lange Perioden legt, um große Textvolumina zu ordnen und verborgene Hintergründe „plötzlich“ in Erscheinung treten zu lassen. „Land und Meer“, eine Schrift von 1942, die Lennartz nicht behandelt, wäre ein solcher Fall. Einleuchtend ist auch die Beschreibung von Schmitts Einsatz von Denkbildern, die luzide scheinen, aber über Kurzschlüsse eine unübersehbare Kette von Assoziationen auslösen, die begrifflich nicht mehr eingefangen werden können. Lennartz vergleicht Schmitt in dieser Hinsicht mit Michel Foucault und Giorgio Agamben, bei denen er ebenfalls „Analogien als Kurzschluss“ beobachtet.
Den „Dezisionismus“ Schmitts löst Lennartz aus dem historischen Kontext, indem er in ihm, als er ihn zum ersten Mal erwähnt, die „Offenheit der Rechtssprache“ würdigt, die dem Richter einen Spielraum bei seinem Urteil als einem Willensakt gibt. Die Kapitel zum Dezisionismus, zum Begriff des Politischen und zur Politischen Theologie demonstrieren dann, dass es vergeblich ist, die Energie des ästhetischen Reizstoffes von der politischen Gewalt des Durchbrechens von den Normen des Liberalismus zu trennen. Es wird einmal mehr klar, dass Schmitts Feind keinesfalls der Sozialismus oder Kommunismus war. Es war der Liberalismus, der aus Schmitts Perspektive die Bürgerkriegszone hinter dem Schleier des Demokratischen verbarg. Es erschien ihm reizvoll, den Traum von Georges Sorel weiter zu träumen, dass der Kriegszustand endlich einmal splitternackt aus den Kulissen tritt.
Schmitt liebte die Romantik der Härte, sein Denken gehört in das Reich des politischen Existenzialismus, die den Ernst des Lebens nur in Todesgefahr erkennen will. Das dritte Kapitel über die „Intensität des Politischen“ fasst den Kerngehalt von Schmitts Denken in folgendem Satz zusammen: „Die liberale Semantik der Humanität dient den Interessen der Siegermächte und verdeckt den Umstand, dass Konflikt unvermeidbar ist.“ (S. 49) Seltsamerweise erkennt Lennartz die Feind-Konstellation vor allem in der Außenpolitik, während sich die Stoßrichtung des „Begriffs des Politischen“ auf die „innerstaatliche Feinderklärung“ konzentriert. Lennartz irrt meiner Ansicht nach, wenn er behauptet, Schmitts Freund-Feind-Schablone lasse keine Rückschlüsse auf die Innenpolitik zu. Es ging Schmitt weniger um die Ruhrbesetzung durch Frankreich oder um die Engländer als maritime Gefahr, sondern um den inneren Bürgerkrieg und ab 1933 um den artungleichen Feind, der eliminiert werden sollte.
Lennartz stellt eine extreme Spannung zwischen Schmitts Sicherheitsbedürfnis einerseits und seiner Lust an der Intensität des Politischen als Ereignis andererseits fest – wie sollte diese Spannung ausgehalten werden, es sei denn in Selbstdestruktion oder der Lust an der imperialen Eroberung neuer Räume für das Deutsche Reich, der Schmitt sich in seinen völkerrechtlichen Publikationen während des Krieges hingibt. In zunehmendem Maß verschmelzen in Lennartz’ Argumentation die Elemente ästhetischer Reize mit den Praktiken der realen Politik. Es stimmt schon, wenn er feststellt: „Ohne gewaltsamen Konflikt geht dem menschlichen Leben das tragische Element verloren, das die Vorbedingung für die stählerne Romantik der Konservativen Revolution ist.“ (S. 60) Schmitt wollte in den Dreißiger Jahren Souffleur im Ohr des Machthabers sein und nach 1945 das Spektakel des Verhängnisses vom sicheren Ufer so betrachten, als ob er nie involviert gewesen sei. Ins „Tragische“ hat er sich selbst nie verschlungen.
Lennartz' Buch kann Denkanstöße auslösen, die in den „Fuchsbau“ von Schmitts Texten führen. Ein Buch, das Argumentationen aus unterschiedlichen politischen Perspektiven auslösen könnte, wenn man nicht das Ästhetische ohnehin für „toxisch“ hält.
Anmerkungen:
1 Christian Geyer, Demokratie als Lebensform wird von Staats wegen nicht verlangt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.2.2019, S. 11.
2 Thomas Thiel, Das Palaver der Patienten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.2.2019, S. 9.
3 Karl Heinz Bohrer, Granatsplitter. Erzählung einer Jugend, München 2012.
4 Karl Heinz Bohrer, Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, München 1978.
5 Carl Schmitt, Politische Romantik, Leipzig 1919.
6 Carl Schmitt, Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung, Leipzig 1942.
7 Ernst Niekisch, Das Reich der niederen Dämonen, Hamburg 1953, S. 200ff.