E. Gajek u.a. (Hrsg.): Reichtum in Deutschland

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Titel
Reichtum in Deutschland. Akteure, Räume und Lebenswelten im 20. Jahrhundert


Herausgeber
Gajek, Eva Maria; Kurr, Anne; Seegers, Lu
Reihe
Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 57
Erschienen
Göttingen 2019: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
367 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexandra Przyrembel, Geschichte der Europäischen Moderne, FernUniversität in Hagen

Seit der Finanzkrise 2007 hat die Geschichte des Kapitalismus Konjunktur: Dabei bearbeiten neuere Studien ein breites Spektrum unterschiedlichster Themen und experimentieren mit unterschiedlichsten methodischen Ansätzen. Im Gefolge dieser (Neu-)Justierung des Kapitalismus für das 19. und 20. Jahrhundert stehen seit einigen Jahren mit der Sozialfigur des „Reichen“ nun auch die vermeintlichen und tatsächlichen Profiteure des Kapitalismus im Zentrum des historischen Forschungsinteresses einer jüngeren Generation von Historikern und Historikerinnen. Abgesehen von einigen wenigen Monographien zu einzelnen Familien (etwa den Thyssens), die sich auch konzeptionell mit der Kategorie „Vermögen“ sowie den Netzwerken und Lebenswelten der in materieller Hinsicht besonders Privilegierten beschäftigten, handelt es sich bei dem Thema Reichtum um ein neueres Forschungsfeld.1 Der marxistische Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczynski hatte diese Gesellschaftsschicht Mitte der 1970er-Jahre noch als die „Hölle des Kapitals“ bezeichnet.2 Es mag dieser moralischen Deutungsgeschichte des Reichtums in den 1960er- und 1970er-Jahren geschuldet sein, dass die Geschichtswissenschaft erst in jüngster Zeit die oberen „Zehntausend“ als Forschungsgegenstand entdeckt.

Mit dem vorliegenden Sammelband verfolgen die Herausgeberinnen das Ziel, mögliche Perspektiven und Themenfelder einer historischen Reichtumsforschung zu sondieren. Die 16 Beiträge des Sammelbandes präsentieren die Innen- und Außenansichten von Reichtum und Vermögen im 20. Jahrhundert entlang von vier thematischen Schwerpunkten: I. Akteure, Lebenswelten, Netzwerke; II. Räume, Mobilität, Orte; III. Öffentlichkeiten, Repräsentationen, Wahrnehmungen; und schließlich IV. Zahlen, Vermessungen, Sichtbarmachungen. Mit punktuellen Erkundungen der österreichischen Geschichte und einzelnen Beiträgen zur transnationalen Verflechtungsgeschichte der – in Bezug auf das Reisen oder das Kapital – „mobilen“ Vermögenden untersucht der Band die Kontinuitäten und Brüche von Reichtum und Vermögen im 20. Jahrhundert für die deutsche Geschichte. Der kreative Umgang mit historischen Materialien zeichnet die Beiträge ebenso aus wie die Vielfalt historischer Perspektiven. Methodisch sind sie zwischen Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte angesiedelt. Die ausgewerteten Materialien zeigen anschaulich, dass Reichtum immer wieder ausgehandelt und in Szene gesetzt wird. Auch ein neuer Blick in NS-Akten erweist sich für die Frage nach der Verteilung von Vermögen unter den Geschlechtern als weiterführend. Auf Grundlage der im Jahr 1938 von dem NS-Regime gesetzlich verankerten „Vermögensanmeldungen“ zeigt Sonja Niederacher, in welcher Weise sich die so ermittelten Vermögensverhältnisse auf die Restitution nach 1945 auswirkten. Diese übernahm die bereits vor dem Krieg angelegte geschlechterspezifische Asymmetrie der Vermögensverteilung.

Die Brisanz einer historischen Reichtumsforschung wird besonders in den Beiträgen deutlich, in denen die Autorinnen und Autoren das Wechselverhältnis von Reichtum und politischer Macht in Augenschein nehmen. Denn die sozialen Aushandlungsprozesse über das, was unter legitimem oder illegitimem Reichtum verstanden wird, erfolgten entlang politischer Parameter. Am Beispiel von Unternehmerfamilien in Bielefeld bzw. Dresden untersuchen Jürgen Finger und Martin Reimer die Transformationen von Reichtum unter dem NS-Regime bzw. in der DDR. Die sich verändernde Betriebskultur im Familienunternehmen Oetker, die Anpassung an das NS-Regime, die genutzten Handlungsräume (bis hin zur Aufnahme in die Waffen-SS) und die sich hieran anpassenden Formen bürgerlicher Geselligkeit sowie des Mäzenatentums (wie beispielsweise das Stiftungswesen) verweisen auf die Verflechtung bürgerlicher und neuer (während des NS-Regimes) herausgebildeter Praktiken von Reichtum.

Während die Bielefelder Oetkers in der Bundesrepublik an ihren Wohlstand anknüpfen konnten, erlebte das Dresdner Wirtschaftsbürgertum mit den Enteignungswellen in der DDR gravierende finanzielle Einbußen. Martin Reimer weist nach, dass sich die Koppelung von Reichtum „an das ökonomische Kapital der handlungstragenden Akteure“ nach 1945 aufgelöst hat (S. 119). Auch hier zeigt sich, dass seit dem 19. Jahrhundert spezifische Formen von Geselligkeit zu einem Signum des bürgerlichen Wertehimmels geworden waren. Diese überdauerten Regimewechsel: Es wurden Salons geführt, Kunstsammlungen angelegt und auch spezifische Formen des Wohnens kultiviert. Der Sinn für Exklusivität blieb manchen Vermögenden in der DDR erhalten, gleichwohl die Kategorie Reichtum als gesellschaftliches Phänomen einen fundamentalen Bedeutungswandel erfahren hatte. Die Ambivalenz von „Distinktion und Verstecken“ (S. 339) im Staatssozialismus zeigt sich beispielsweise in der Biographie des in der DDR lebenden Wirtschaftshistorikers Jürgen Kuczynski. Die DDR kannte demnach keine „Superreichen“, brachte aber ihre eigenen „Reichen“ (wie etwa die Band Puhdys) hervor. Allerdings war auch für den gehobenen Lebensstil, wie Jens Gieseke in seinem Beitrag über die Reichen in der DDR zeigt, die „unmittelbare Gebrauchswertorientierung“ der zentrale Referenzpunkt (S. 339).

In den letzten Jahren war oftmals die Rede von Netzwerken. Dass Reichtum und Vermögen umkämpfte Ressourcen sind, zeigen die Artikel, die sich spezifischen gesellschaftlichen Eliten – dem Adel oder auch den Privatbankiers – zuwenden und die Relevanz verwandtschaftlicher Netzwerke als Ressource herausarbeiten. Eine Erweiterung der Definition von Reichtum nimmt Ingo Köhler in seinem Beitrag über den vernetzten Reichtum von Privatbankiers im langen 19. Jahrhundert vor. Er zeigt, dass die Bildung von Netzwerken insbesondere auch über Heiratspolitiken eine zentrale Ressource der Banker darstellte. Der Austausch in Clubs und die Inszenierung von Reichtum bei Empfängen oder auch die Praktiken des Wohnens spiegelten den für diese Gesellschaftsschicht so typischen „Konnex von Privatheit und Geschäft“ (S. 57). Dass die Bildung von Vermögen auf einer reflektierten Geld- und Anlagepolitik basiert, zeigt Torsten Riotte in seinem Beitrag über den Hochadel. Trotz gravierender Vermögensverluste nach dem Ersten Weltkrieg verfügten die Welfen auch nach 1918 über hinreichend Finanzmittel, um weitere Investitionen zu tätigen. Keineswegs sei dem Adel die „Marktrationalität wirtschaftlicher Unternehmungen grundsätzlich fremd gewesen“ (S. 56). In diesen Beiträgen über die gesellschaftlichen Eliten im frühen 20. Jahrhundert wird gezeigt, dass Reichtum eine überaus umkämpfte Ressource darstellte. Und die gegenwärtige Debatte über die Hohenzollern verweist auf die politische Brisanz dieser Beobachtung.3

Die transnationale Dimension der Geschichte des Reichtums wird von den Herausgeberinnen für diesen Sammelband als eine der möglichen Forschungsperspektiven (etwa für das ausgehende 20. Jahrhundert) benannt. Dass Vermögende aufgrund ihrer materiellen Privilegien, ihrer vielfältigen Ressourcen und nicht zuletzt eines exklusiven Freizeitverhaltens bereits Ende des 19. Jahrhunderts transnational agierten, zeigt Michael Schellenberger in seinem Beitrag über den fluiden Kulturraum, den die Vermögenden in Hamburg und New York mit ihren Reisen oder auch gemeinsamen Kunstprojekten schufen. Die Annäherung der Reichtumskulturen zwischen den beiden Hafenstädten war insbesondere auch möglich geworden durch diesen Fortschritt des Reisens. Auch Simone Derix schlägt in ihrem Beitrag vor, Reichtum als transnationale Kategorie – und hier vor allem auf der Folie der räumlichen Mobilität – zu deuten. Die exklusiven Reiseziele von Vermögenden waren im frühen 20. Jahrhundert ein beliebter Topos von Zeitungsartikeln oder Romanen. So widmeten die Geschwister Erika und Klaus Mann sowie F. Scott Fitzgerald dem exklusiven Tourismus an die Riviera literarische Texte. Dass auch finanzielle Ressourcen „wandern“ (und dass hierüber bereits vorhandenes Vermögen vermehrt wird), zeigt Christopher Kopper in seinem Beitrag über die transnationalen Vermögensanlagen.

Dieser kursorische Überblick zu einigen der zentralen Themenfelder verweist auf das breite Spektrum einer historischen Reichtumsforschung. Die Autoren und Autorinnen historisieren das Forschungsfeld Reichtum für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die „Moral-Politik“ und Stigmatisierung des Reich-Seins, wie sie auch die Serien des „Spiegel“ in den 1960er- und 1970er-Jahren geprägt hatte, scheint überwunden. Vor dem Hintergrund der für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts markanten Brüche erweisen sich die nationale Fokussierung des Sammelbandes auf die Verflechtung von Politik und Reichtum sowie die hieraus entstehenden Reibungen jenseits moralischer Narrativer dennoch als weiterführend. Gerade in den Beiträgen zur DDR-Geschichte wird die Ambiguität von Reichtum als sozialer Kategorie deutlich. Die Vielfalt der konsultierten Quellen unterstreicht zudem anschaulich, dass Reichtum immer wieder neu ausgehandelt wird.

Wenn eines der Ziele einer historischen Reichtumsforschung sein könnte, Reichtum/Vermögen als politische Kategorien zu verstehen, dann könnten folgende drei Perspektiven weiter berücksichtigt werden: Möglicherweise könnte sich erstens die wissenshistorische Rahmung der historischen Reichtumsforschung als hilfreich erweisen. Dass die Wissensgeschichte eine der zentralen Referenzpunkte des Themenkomplexes Reichtum darstellt, zeigt der Beitrag der Soziologin Dorothee Spannagel. Sie schlägt eine Periodisierung der sozialwissenschaftlichen Forschung zum Thema Reichtum seit den 1950er-Jahren vor. Hiernach markiere das von Helmut Schelsky aufgestellte Postulat einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ in den 1960er-Jahren einen zentralen Wendepunkt in der soziologischen Beschäftigung mit Reichtum. Eine Verortung der geschichtswissenschaftlichen Beschäftigung mit Reichtum und Vermögen vor dem Hintergrund der Debatten in den Nachbardisziplinen sowie den unterschiedlichen Konjunkturen historischer Themen (wie etwa der Bürgertumsforschung) könnte möglicherweise zu einer weiteren Schärfung der Fragestellungen und Begriffe führen.

Es mag ein Allgemeinplatz sein, dass Reichtum eine relationale Kategorie ist. Die Frage aber, wie sich Reichtum zu anderen Kategorien verhält und wie sich „der Habitus der Vermögenden“ (S. 173) wandelt, konnte zuletzt sehr anschaulich in der Ausstellung „Generation Wealth“ der amerikanischen Fotojournalistin und Anthropologin Lauren Greenfield erkundet werden.4 Hierin, also in der Transformation von Körpervorstellungen und Inszenierungspraktiken des Reichtums könnte ein zweites Forschungsfeld liegen. Und schließlich drittens: Eine transnationale oder gar globalhistorische Perspektivierung von Reichtum erschiene darüber hinaus wünschenswert, vor allem auch im Hinblick auf Reichtum als materielle Ressource.5

Anmerkungen:
1 Simone Derix, Die Thyssens. Familie und Vermögen. Familie – Unternehmen – Öffentlichkeit. Paderborn 2016; siehe bereits: Dolores L. Augustine, Patricians and Parvenus. Wealth and High Society in Wilhelmine Germany, Oxford 1994.
2 Bernt Engelmann / Günter Wallraff, Ihr da oben – wir da unten. Krupp, Thurn und Taxis, Henkel [...], Berlin 1975, S. 9.
3 Stephan Malinowski, Die Selbstversenkung. Forderungen der Hohenzollern, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.7.2019, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/was-ist-von-den-forderungen-der-hohenzollern-an-den-staat-zu-halten-16294868.html (19.11.2019).
4 Siehe den Katalog zur Ausstellung: Lauren Greenfield, Generation Wealth. Mit einem Vorwort von Juliet Schor, Berlin 2017.
5 Maxine Berg, Luxury and Pleasure in Eighteenth-Century Britain, Oxford 2005.