M. Abeßer: Den Jazz sowjetisch machen

Cover
Titel
Den Jazz sowjetisch machen. Kulturelle Leitbilder, Musikmarkt und Distinktion zwischen 1953 und 1970


Autor(en)
Abeßer, Michel
Reihe
Beiträge zur Geschichte Osteuropas 52
Erschienen
Köln 2018: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
532 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sarah Matuschak, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Redaktionsnotiz: Aufgrund eines technischen Fehlers wurde diese Rezension zunächst unter falscher Autorschaft veröffentlicht. Wir bitten hierfür herzlich um Entschuldigung. Die Redaktion von H-Soz-Kult.

„Heute spielst du Jazz und morgen verkaufst du deine Heimat!“1 Die Parole saß und ließ niemanden daran zweifeln, dass die Zeiten von Jazzmusikern wie Leonid Utesov und Petr Leščenko passé waren. Stalins Kulturgendarm Andrej Ždanov hatte nach dem Krieg eine Kunstgattung nach der nächsten auf Linie gebracht – den feindlichen Jazz ließ er im Zuge des aufkommenden Kalten Krieges gleich ganz im Boden versenken. Kaum war der Diktator unter der Erde, drangen jedoch die Klänge von Saxophon und Trompete wieder durch die Straßen, um in den folgenden Jahren sogar die sowjetischen Bühnen zu erobern.

Was aber war dieser neue Jazz? Das ist die Frage, die Michel Abeßer in seinem Buch „Den Jazz sowjetisch machen“ beschäftigt. In den dreißiger Jahren hatte man unter „džaz“ einen Kessel Buntes aus Orchester, Big Band, Liedern, Tanz und Sketchen subsummiert, der wenig gemein hatte mit jener ernsthaften Kunstmusik, die in den Vereinigten Staaten aufgeführt wurde (S. 39ff.). Der Jazz freilich, der in den fünfziger und sechziger Jahren zu neuer Blüte kam, war anders, und das Abeßer zufolge deswegen, weil er nicht in irgendwelchen Funktionärszimmern entstanden sei, sondern auf dem Tanzparkett von Klubs und Jugendcafés des Komsomol (S. 10). Es war die kulturelle Liberalisierungspolitik Nikita Chruščevs, die zuließ, dass junge Jazzenthusiasten, der Komponistenverband und die Partei auf Augenhöhe darum stritten, wie sich der Jazz entwickeln solle (S. 10f.).

Doch Vorsicht! Hier soll keine Geschichte des Jazz geschrieben werden. Darum haben sich schon andere verdient gemacht.2 Um die Musik an sich geht es nicht, und das sei auch nicht notwendig, schreibt Abeßer, weil der Jazz weniger durch ästhetische Merkmale sowjetisiert worden sei, sondern durch die Einübung bestimmter sozialer Praktiken (S. 30). Ihre Beschreibung gewähre einen Einblick in das gesellschaftliche Leben einer Epoche und lasse uns erkennen, wie Kunst im Tauwetter Gesellschaft zu verändern vermochte (S. 11).

Warum aber soll man sich ausgerechnet dem Jazz zuwenden, wenn man Neues über den gesellschaftlichen Wandel nach Stalins Tod erfahren will? Der Jazz, so Abeßer, habe sich überhaupt erst durchsetzen können, weil die Estrada, die in den fünfziger und sechziger Jahren eine nie gekannte Blüte erlebte, ökonomischen Kriterien unterworfen wurde, die einen Markt für neue Musik schufen (S. 52). Davon erzählt das Buch.

Chruščevs marktwirtschaftlicher Sozialismus war ein Januskopf. Während man oben alles daransetzte, die Kunst unter staatlicher Obhut zu bewahren, schoss von unten eine lebhafte Parallelwirtschaft aus dem Boden (S. 59). Auf Repressionen konnte das Regime nur noch ausnahmsweise zurückgreifen. Deshalb mussten staatliche Kontrolle und Schattenwirtschaft Wege finden, miteinander umzugehen. In just jener Koexistenz fand der Jazz seinen Ort und seine Verbreitung.

Wir erfahren, wie sich die Zensurinstanzen auf Partei und Staatsebene in ihrem Versuch, die Kulturpolitik weiterhin zentral zu regulieren, gegenseitig auf die Füße traten und so für Chaos und Ineffizienz sorgten (S. 61–74). Die Förderung der Konsumgüterindustrie ab 1953 veränderte die Freizeit und Alltagskultur von Millionen Bürgern radikal. Schallplatten mit westlicher Unterhaltungsmusik erreichten die sowjetischen Haushalte, und so kam auch der amerikanische Jazz in die Wohnzimmer (S. 79–88).

Dass er alles andere als ein Randphänomen war, zeigte sich spätestens während der Weltjugendfestspiele von 1957, als die jungen Jazzenthusiasten auf internationale Profis trafen und deutlich wurde, dass sich nun auch die Experten des Komponistenverbands des Themas annehmen mussten. Mehr und mehr wurde der Jazz in den Folgejahren professionalisiert und als ernsthafte, technisch anspruchsvolle Kunstmusik in den sowjetischen Unterhaltungskanon integriert (S. 190–233).

Gestützt wurde dieses Engagement durch zahlreiche Institutionen der Schattenwirtschaft, wie der sogenannten Börse, einem informellen Ort der Vermittlung von Musikengagements. Bezeichnenderweise befanden sich diese Einrichtungen vor den Gebäuden der Konzertorganisationen und wurden von deren Funktionären toleriert, weil auch sie nur so ihren Bedarf an Musikern zu decken vermochten. Abeßer macht deutlich, dass es ausgerechnet die daraus erwachsenden Klientelbeziehungen waren, die das starre Kultursystem am Laufen hielten (S. 237–259). Das symbiotische Verhältnis von Jugendkultur und staatlichen Einrichtungen zeigte sich auch in den Jazzclubs und Jugendcafés, die niemand geringeres als der Komsomol unterhielt. Dort entstanden zahlreiche Estrada-Ensembles, die sich vor allem am Jazz orientierten und Laien eine Bühne boten, damit sie sich jenseits von Verwaltung und Zensur präsentieren konnten. Cafés wie das „Molodežnoe“ waren elitäre Orte – auf dem Parkett wie auf der Bühne. Hier verkehrten Intellektuelle und Ausländer, das Programm reichte von Lesungen über Tanz bis zu improvisierten Jazzeinlagen (S. 274–353). Der überwiegende Teil der jungen Musikenthusiasten entstammte der wachsenden sowjetischen Mittelklasse, die meisten von ihnen waren Studenten. Um sich vom Normalbürger abzusetzen, trugen sie westliche, eng geschnittene schwarze Anzüge und schmale Krawatten, sie spielten in der Regel mindestens zwei Instrumente und präferierten improvisierten Instrumentaljazz. Fröhlichen Tanzabenden mit quirliger Unterhaltungsmusik standen sie höchstens distanziert gegenüber (S. 353–380).

Es handelte sich bei den Jazzmusikern der fünfziger und sechziger Jahre also um Kinder aus der sowjetischen, urbanen Mittelschicht. Der Jazz war damit ein Elitenphänomen (S. 230). Das ist umso interessanter, weil der Jazz in seinen Ursprüngen die Musik der versklavten schwarzen Bevölkerung Amerikas gewesen war. Im Sozialismus wurde er Teil privilegierter Jugendkultur. Was aber kann eine Gesellschaftsgeschichte leisten, die sich mit der Musik einer kleinen, elitären Gruppe befasst?

Dass sich der Jazz Abeßer zufolge „nicht strikt in die gängigen kulturpolitischen Zäsuren der Chruščev- und frühen Brežnevzeit“ (S. 12) gefügt habe, weil er auf dem Tanzparkett und nicht in Gremien weiterentwickelt worden sei, scheint vor diesem Hintergrund plausibel. Doch spricht die Tatsache, dass sich der Jazz auf den Tanzböden des Komsomol entwickelte, eher für eine enge Verflechtung staatlicher und gesellschaftlicher Initiativen. Abeßer betont selbst, dass es Zensur, Konzertwesen und Experten gewesen seien, die zur Aufwertung des Jazz beigetragen hätten (S. 476). Politischen Vorgaben aber konnten sich weder Konzertagenturen noch der Komponistenverband entziehen. Die Liberalisierung des Kulturlebens durch Chruščev machte es überhaupt erst möglich, dass der Jazz wieder eine Bühne fand, und genau den gleichen Effekt hatten auch die staatlichen Gegenbewegungen in den Jahren 1956 und 1962. So recht überzeugen will also die Behauptung von der autarken Entwicklung nicht.

Auch wenn der Jazz Abeßer nur als „Sonde“ dient (S. 480): Eine Gesellschaftsgeschichte, die beschreiben will, wie der Jazz sowjetisch wurde, hätte gut daran getan, auch ein Gefühl dafür zu vermitteln, welchen spezifisch eigenen Klang diese Musik erzeugte. Am Ende geht es doch um Musik, und die erschöpft sich nicht in sozialen Praktiken (S. 30). Jazz ist nicht nur Repräsentation, er ist in erster Linie Klang und Rhythmus. Abeßer räumt das auch ein, wenn er betont, dass „die dem Jazz zugeschriebene Bedeutung […] nicht minder wichtig (sei) als dessen tatsächlicher Klang“ (S. 480). Was aber waren die klanglichen Charakteristika des „sovetskij džaz“? Das eine oder andere Werkbeispiel hätte hier vielleicht geholfen, um zu verstehen, was die Faszination für den Jazz eigentlich bedeutete und welche Novität er im sowjetischen Leben darstellte.

Die Stärke des Buches liegt unzweifelhaft in der Sensibilität Abeßers für die kulturelle Komplexität und Widersprüchlichkeit der Tauwetter-Periode. Es sind die vielen kleinen Geschichten, die der Autor in akribischer Archivarbeit ausgegraben hat, die uns ein Gefühl für das gesellschaftliche Leben geben und auf verblüffende Weise zeigen, wie vielfältig die Kultur der fünfziger und sechziger Jahre tatsächlich war.

Am Ende hätte man sich dann aber doch ein pointiertes Schlusswort gewünscht, das Antworten auf Fragen gibt. Abeßer aber schreibt im Sowohl-als-Auch-Modus und lässt den Leser mit den daraus resultierenden Widersprüchen allein. Und dennoch: Wer wissen will, was der sowjetische Jazz war und wie er die Gesellschaft veränderte, in der er entstand, dem sei Abeßers Buch sehr empfohlen.

Anmerkungen:
1 Segodnja ty igraeš’ džaz, a zavtra – Rodinu prodaš’! Der Slogan erschien auf verschiedenen Propagandaplakaten in den späten vierziger Jahren.
2 Zum Beispiel: Vladimir Fejertag, Džaz ot Peterburga do Leningrada, Sankt Peterburg 1999; Aleksandr Medvedev / Ol’ga Medvedeva (Hrsg.), Sovetskij Džaz. Problemy, sobytija, mastera, Moskau 1987; S. Frederick Starr, Red and Hot. The Fate of Jazz in the Soviet Union 1917–1980, New York (NY) 1983; Jurij Vermenič, …I ves’ ètot džaz, Sankt Peterburg 2004.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension