J. Waterlow: It's only a joke, Comrade!

Cover
Titel
It's only a joke, comrade!. Humour, trust and everyday life under Stalin 1928–1941


Autor(en)
Waterlow, Jonathan
Erschienen
Oxford 2018: CreateSpace
Anzahl Seiten
XXI, 285 S.
Preis
€ 18,18
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Immo Rebitschek, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

In den letzten Jahren ist eine Vielzahl kulturhistorischer Arbeiten erschienen, die auf der Suche nach Ambivalenzen und Freiräumen in Diktaturen neue Wege gehen. Jonathan Waterlows Buch ist unkonventionell und zugleich bereichernd für unser Verständnis vom Alltag unter Stalin. Gegenstand und Analyseinstrument zugleich ist der Humor. Dazu werden Figuren, Sprüche und Lieder, allgemein kulturelle Produkte untersucht, die sowjetische Bürger zu Stalins Lebzeiten als witzig empfanden und auch als solches kommunizierten. Wie und warum lachten Menschen im Stalinismus und was verraten diese Witze, die Produktion und Rezeption von Humor, über das soziale Umfeld und die gesellschaftliche Realität?

Obgleich es kommentierte Anthologien von anekdoty und politischen Witzen in der Sowjetunion gibt1, betrachtet Waterlow erstmals systematisch deren sozialpsychologische Funktion und bezieht zugleich Erzähler und Erzählerinnen in ihren sozialen Kontexten mit ein. Grundlage dafür sind unter anderem die Gespräche des „Harvard Interview Projects“, in dem US-amerikanische Soziologen sowjetische Flüchtlinge und Emigranten 1950/51 systematisch zu ihrem Alltag unter Stalin befragten. Weiterhin wurden Strafakten und Ermittlungsunterlagen wegen „Antisowjetischer Agitation“ sowie Tagebucheinträge sowjetischer und ausländischer Zeitgenossen herangezogen.

Leitthema ist dabei das so genannte „crosshatching“. Damit bezeichnet Waterlow den Prozess, über den Menschen das ideologische Dauerfeuer und die teils irrsinnigen Ansprüche der Regimerhetorik mit der Alltagsrealität und ihren eigenen Grenzen vereinbarten und mischten. Diese Suche nach den Grauzonen, in denen sich Zustimmung und Dissens miteinander verschränken, bewegt die Diktaturforschung schon länger, doch Waterlow zeigt hier einen soziopsychologischen Prozess, der aktiv vom Individuum ausging. Menschen erzählten Witze, um diese Freiräume zu schaffen, auszutesten und ihre eigenen alltäglichen Widersprüche in einem politisierten und extremen Umfeld zum Ausdruck zu bringen. Das Überschreiten von Normen sei dabei kein Akt des Widerstandes, sondern der soziopsychologischen Erleichterung gewesen.

Zur Erläuterung dieser These präsentiert der Autor ein hervorragend strukturiertes Leseprogramm. Jedes Kapitel wird nicht nur mit Blick auf seine Funktionen, sondern auch mit Bezug zum Leserinteresse vorgestellt. Wer gute Pointen sucht, bekommt dafür direkte Kapitelhinweise. Davon abgesehen ist das Buch in drei Teile geteilt, in denen zuerst geklärt wird, was für Witze erzählt wurden, welche Gefahr sich daraus ergab und letztlich warum und zu welchem Ende Männer, Frauen und Kinder in der Sowjetunion dieses Risiko eingingen.

Im ersten Teil wird schnell klar, dass auch die stalinistische Diktatur reichlich Stoff für Pointen bot. Je fulminanter der Machbarkeitswahn, die Bedrohung und die Leistungsrhetorik, umso größer die Angriffsfläche und das psychologische Bedürfnis, die Entbehrungen des eigenen Alltags dem gegenüberzustellen. Dies reichte von symbolhaften Handlungen, wie dem Umhängen eines Stalinportraits auf die Toilette, bis hin zu spöttischen Bemerkungen über Sergei Kirovs Ermordung. Angesichts der Brotrationierung und den überschwänglichen Wohlstandsparolen des Regimes bot der plötzliche Tod eines hohen Parteifunktionärs häufig Anlass für die Bevölkerung, belustigt über das Ableben weiterer Führungsmitglieder (inklusive Stalins) zu fantasieren. Mit einem einzelnen Sprachakt kehrten sie die Hierarchien um und erniedrigten die Parteiführer mit frivolen Anspielungen und Spekulationen über den ausschweifenden Lebensstil der Nomenklatura. Gerade der Stalin-Kult habe eben nicht nur Begeisterung produziert, sondern den vožd (und sein omnipräsentes Abbild) in eine sprichwörtliche Zielscheibe verwandelt. Ohne dass Waterlow die Wirkmacht des Kults in Frage stellt, gelte es zumindest, sie neu zu kontextualisieren. Menschen setzten „Kontrapunkte“ im sowjetischen „Massenfest“2, indem sie die Inhalte des Rituals aufnahmen und umdeuteten (S. 57). Diese Selbstermächtigung zeuge von „stiller Subversion“ in einem Kommunikationsraum, der nur formal dem Regime gehört habe.

Ebenso stellten Menschen die Absurditäten und Extreme des Alltags in ihren Witzen heraus und erhielten, so Waterlow, auf diese Weise ein Stück „mentaler agency“ (S. 83) zurück. Menschen scherzten über die Omnipräsenz und die Paranoia der Geheimpolizei und zogen mitunter verblüffende Parallelen zum Dritten Reich. Sie witzelten über den Machbarkeitswahn in Wissenschaft und Politik, indem sie pointiert auf ihr einziges Paar Schuhe hinwiesen. Hunger und materielle Entbehrungen standen häufig im Mittelpunkt. Sie halfen dabei, nahezu jedes ideologische Leitnarrativ auf subtile Weise zu durchkreuzen. Die Losungen und Wendungen der Tagespolitik seien eben nicht kommentarlos aufgesogen worden, sondern mit Humor an die eigene alltägliche Realität angepasst worden. Dieser Akt sei Ausdruck eines psychologischen Grundbedürfnisses gewesen, mit dem Menschen neben ihrer Empörung auch ihre (enttäuschten) Hoffnungen auf ein besseres Leben artikulierten. Nicht selten wurde dabei die sowjetische Realität an den revolutionären Idealen der vorherigen Generation gemessen oder gar mit vorrevolutionären Motiven konfrontiert. Männer und Frauen griffen den sprachlichen Duktus des Regimes auf und vermengten kulturelle Wertsysteme, die offiziell unvereinbar schienen: wie Lenin, der im Himmel über Stalin lacht.

Wie das Regime kulturell und institutionell auf diese Erscheinungen reagierte, wird im zweiten Teil diskutiert. Den Bolschewiki war die politische Natur des Humors noch aus der Zeit des Untergrunds bekannt. Entsprechend hätten sie versucht, in den 1930er-Jahren dieses Thema produktiv zu besetzen und mit eigener Satire pädagogisch wertvolle Kalauer zu produzieren. Jede Art von kultureller Produktion sei letztlich eine Waffe im Klassenkampf gewesen, wobei die erlaubten Pointen mit den politischen Wetterwechseln der Zeit nur selten Schritt halten konnten. Zugleich fürchteten Kulturfunktionäre und Sicherheitsorgane den „Virus“ unkontrollierbaren Humors. Im Zuge der Massenoperationen gerieten daher selbst die harmlosesten Witzeleien in das Fadenkreuz des Paragraphen 58. Die Grenzen zwischen Humor und „antisowjetischer Agitation“ wurden nunmehr ununterscheidbar. Die Auswertung der Strafakten offenbart, dass die Beamten sehr willkürliche und unterschiedliche Vorstellungen vom Sagbaren hatten. Entscheidend für das Strafmaß sei aber letztlich nicht das Inhalt des Witzes sondern der soziale Hintergrund der Erzähler gewesen.

Das letzte Kapitel widmet sich den sozialpsychologischen Anreizen und dem Nutzen des Witzeerzählens. In einer Zeit der Extreme seien Witze erzählt worden, um Kategorien und Muster zur Orientierung zu liefern. Humor habe als Navigationshilfe und zugleich als Werkzeug der Selbstermächtigung gedient. Indem Menschen sowohl mit ihrer eigenen Rolle als auch mit den Selbstbeschreibungen des Regimes spielten, lösten sie psychologische Anspannungen und vergegenwärtigten sich als Individuum; kreierten so einen Moment mentaler Souveränität über die Realität. Im Sinne des „crosshatching“ konnten so erst Utopie und Realität im Alltag vereinbar erscheinen. Neben der unbestreitbaren therapeutischen Wirkung hatten Witze auch eine soziale Funktion. Menschen knüpften mit dem Tausch von Anekdoten, auch in einer Atmosphäre übergreifender Paranoia, soziale Bande. Diese Form der Vergemeinschaftung sei durch das gemeinsame Eingehen eines Risikos und die gemeinsame Ambivalenz gegenüber den Normen des Regimes im Alltag gestärkt worden. Waterlow sieht darin zu Recht ein starkes Argument gegen die These von der „atomisierten Gesellschaft“. Unter größtem existenziellem Druck, zwischen Leistungskult und der Angst vor Verhaftung, sei der anthropologische Reflex eben nicht die Flucht in die Isolation, sondern die Hinwendung zur Gruppe. Fraglich ist aber, inwiefern die Bildung informeller Netze im Alltag (blat) noch in diese Kategorie der „Vertrauensgruppen“ gehört, zumal wirtschaftliche Abhängigkeiten eine gänzlich andere Vertrauensbasis kreierten.3

Der Autor holt mit stilistischer Leichtigkeit das Maximum aus seinen Quellen heraus und gibt der sowjetischen Bevölkerung unter Stalin ein bemerkenswertes Maß an Eigeninitiative zurück. Die Formel des „crosshatching“ wird an einigen Stellen mit immer neuen anthropologischen Perspektiven überfrachtet, hilft aber dabei, die Sphären des Privaten und Offiziellen stärker in Zusammenhang zu betrachten. Anstatt dem Sowjetbürger Schizophrenie zu unterstellen, demonstriert Waterlow, dass Menschen die ideologische Zeichenwelt um sie herum mit Ambivalenz wahrnahmen, adaptierten und ihrem eigenen Erfahrungshorizont anpassten. Damit eröffnet das Buch eine wichtige Perspektive auf das Alltagserleben in einer Diktatur und hinterfragt überzeugend Analysekategorien von Anpassung und Widerstand auch für die Stalin-Zeit.

Anmerkungen:
1 David Brandenberger (Hrsg.), Political Humor under Stalin. An Anthology of Unofficial Jokes and Anecdotes, Bloomington 2009; Miša Mel’ničenko, Sovetskij anekdot. Ukazatel sjužetov, Moskva 2015.
2 Malte Rolf, Das sowjetische Massenfest, Hamburg 2006.
3 James Heinzen, The Art of the Bribe. Corruption under Stalin, 1943–1953, New Haven 2016.

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