H. Peitsch u.a. (Hrsg.): Nachkriegsliteratur als öffentliche Erinnerung

Cover
Titel
Nachkriegsliteratur als öffentliche Erinnerung. Deutsche Vergangenheit im europäischen Kontext


Herausgeber
Peitsch, Helmut; in Verbindung mit Baehrens, Konstantin; Diedrich, Ira; Ernst, Christian; Kapp, Christoph; Panzner, Jacob; Schneider, Ulrike; Voigt, Frank
Erschienen
Berlin 2019: de Gruyter
Anzahl Seiten
X, 454 S.
Preis
€ 49,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Kramer, Institut für Geschichtswissenschaft und Literarische Kulturen, Leuphana Universität Lüneburg

Der Band vergleicht „den Beitrag der Literatur zur ‚Vergangenheitsbewältigung‘ in beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften“ – der Bundesrepublik und der DDR – zwischen 1945 und den Jahren um 1970. Er ging aus einem Arbeitszusammenhang hervor, der an der Universität Potsdam im Umkreis von Helmut Peitschs Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur seit 2001 aktiv war. Unverkennbar trägt er Peitschs Handschrift – dieses Spezialisten für die Diskurse der Nachkriegszeit1, für den die Erforschung der ostdeutschen Literatur schon lange gleichrangig neben derjenigen der westdeutschen stand.2 Über die noch immer ungewöhnliche, durchgängige Reflexion auf den deutsch-deutschen Kontext hinaus wird nun auch der europäische Zusammenhang einbezogen. Allerdings geschieht das nur exemplarisch an ausgewählten Themen; das Buch ist kein Kompendium, sondern bietet Tiefbohrungen in einem weitläufigen Gelände. Dazu trägt auch die Entscheidung der Herausgeber/innen bei, „hegemonial präsente“ (S. 2) Diskurse zu meiden. Namen wie „Böll, Lenz, Grass, Andersch, Koeppen“ (S. 2) kommen deshalb in den Untersuchungen gar nicht erst vor. Auf der anderen Seite fehlen aber auch einige marginalisierte Autoren; Grete Weil wird immerhin einmal en passant erwähnt, H.G. Adler gar nicht. Die Beiträge stammen teils von jüngeren, teils von etablierten Wissenschaftler/innen. Wie in den meisten Sammelbänden stehen auch hier Texte von unterschiedlicher Qualität nebeneinander.

Das Buch gliedert sich in vier thematische Blöcke; den ersten bezeichnen die aufeinander bezogenen Stichworte „‚Gedächtnis‘ und ‚Generation‘“ (S. 15–91). Dabei knüpfen die Herausgeber/innen programmatisch an Maurice Halbwachs’ Theorie des kollektiven Gedächtnisses an. Dessen wichtige Abhandlung „Das kollektive Gedächtnis bei den Musikern“ von 1939 wird erstmals in deutscher Übersetzung vorgelegt (S. 36–64) sowie von Frank Voigt kenntnisreich kontextualisiert und erläutert (S. 17–35). Halbwachs untersuchte, wie die Erinnerung an Klänge und musikalische Klangereignisse funktioniert. Er diskutierte den von Henri Bergson stammenden Begriff des sensomotorischen Schemas und ging über ihn hinaus, indem er einerseits die Notationssysteme hervorhob, die wesentlich zur Erinnerung an musikalische Klänge beitrügen, andererseits die sozialen Rahmen, die sowohl unter den Musikern wie auch in der Gesellschaft insgesamt die Bedeutung der Klänge prägten. Neben dem von Bergson beeinflussten Akzent auf den Erinnerungsbildern findet sich somit in Halbwachs’ Theorie des kollektiven Gedächtnisses eine Betonung der Sprache bzw. der Schrift als soziales Medium.

Die Rekonstruktion von Halbwachs’ soziologischer Theorie ist für den gesamten Band aus zwei Gründen wichtig. Erstens erlaubt dies eine – allerdings nur knapp ausgeführte – Kritik an Jan und Aleida Assmanns Gedächtnis- und Erinnerungstheorie. Sie konzipierten den Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis als einen der Generationenfolge, wodurch er „naturalisiert“ werde (S. 2). Gegen eine solche, zuvor schon von Ulrike Jureit diagnostizierte, „Biologisierung gesellschaftlicher Phänomene“ (S. 6) wenden sich die Herausgeber/innen des Bandes. Diese Kritik betrifft auch den Rekurs auf den Begriff der Generation in der neueren Forschung. In diesem Zusammenhang vergegenwärtigt Konstantin Baehrens (S. 65–91) noch einmal die Elemente von Karl Mannheims vieldiskutiertem Generationsbegriff (Generationslagerung, Generationszusammenhang und Generationseinheit) und hebt hervor, dass er, mit Ausnahme des Alters, nur „sozial determinierte Faktoren“ (S. 76) umfasse. Dies werde von der Generationenforschung zu wenig berücksichtigt. In welchem Maße jedoch der Gebrauch eines kritisch gefassten Begriffs der Generation – im Anschluss an Mannheim und andere – wünschenswert sei, wird dann nicht weiter diskutiert.

Zweitens unterstützt die Akzentuierung der Halbwachs'schen Theorie sozialer Bedingungen des Gedächtnisses auch die Profilierung des für den Band zentralen Begriffs der Vergangenheitsbewältigung, der gegen konkurrierende Begriffe abgegrenzt wird und dem ein weiterer thematischer Block gewidmet ist (vgl. S. 93–228): „‚Vergangenheitsbewältigung‘ bezeichnet einen historisch-kritischen, vom Material zeitgenössischer Diskurse ausgehenden Ansatz, der sich absetzt von der dominanten Verwendung der Begriffe Gedächtnis und Erinnerung in kulturwissenschaftlichen und literaturgeschichtlichen Arbeiten“ (S. 1). Neben der Verankerung im historischen Material heben die Herausgeber/innen im Anschluss an Torben Fischer und Matthias N. Lorenz auch die „Mehrdimensionalität“ (S. 8) des Begriffs als eine Qualität hervor. Durch sie werde die Vielgestaltigkeit der Erinnerung an die deutsche Vergangenheit zwischen 1933 und 1945 in den verschiedenen Bereichen bewahrt – etwa der Politik, der Wissenschaft, der Kunst. Wie die vielfältigen Erinnerungen aufeinander bezogen werden, steht in dem Block „Asymmetrische Verflechtung in der Abgrenzung“ (S. 349–440) zur Debatte. Hier werden Christoph Kleßmanns Überlegungen zur asymmetrischen Verflechtung der beiden deutschen Staaten auf Debatten im künstlerischen Feld angewendet und zusätzlich in den europäischen Kontext versetzt. Die Herausgeber/innen können zurecht feststellen, „dass sich durch die beziehungsgeschichtliche Betrachtung öffentlicher Erinnerung für sicher geglaubte Befunde erinnerungskultureller Forschung als einseitig erweisen und rekontextualisiert werden müssen“ (S. 12). Im vierten thematischen Block – „Authentizität“ (vgl. S. 229–347, als Überschrift in Anführungszeichen) – „rücken Prozesse der Authentifizierung und Legitimierung von Interpretationen der Vergangenheit, die Konstruktion von Autorität im Veröffentlichungskontext in den Blick“ (S. 10).

In vielen Beiträgen werden die programmatischen Überlegungen der Herausgeber/innen bei der Arbeit am Material eingelöst. Das Korpus der untersuchten Schriften, Filme und Debatten bietet einige von der Forschung bislang kaum beachtete Konstellationen. So kann Helmut Peitsch in seiner detaillierten Auswertung von „Bibliographien und Buchausstellungen zum ‚Dritten Reich‘ in den ersten Nachkriegsjahren“ (S. 95–118) zeigen, welche Referenztexte zwischen 1948 und 1971 jeweils in den Vordergrund gerückt wurden. Er rekonstruiert unterschiedliche Linien in Ost und West, hebt aber auch Wandlungen innerhalb dieser Einflusssphären hervor: So entstand erst seit den 1960er-Jahren ein Bewusstsein für den Unterschied zwischen der Verfolgung der Juden und anderer Gruppen. Peitsch gelingt es, die asymmetrische Verflechtung am Material sinnfällig zu machen.

Mitunter verweisen zwei Artikel aufeinander. Beispielsweise untersucht Ulrike Schneider die „Thematisierungen des Holocaust“ in der DDR-Literaturzeitschrift „Neue Deutsche Literatur“ (S. 147–169), dem offiziellen Organ des Schriftstellerverbandes, zwischen 1953 und 1970; sie weist nach, dass das Thema – entgegen einer verbreiteten Meinung in der Forschung – schon vor 1970 regelmäßig aufgerufen wurde. An drei Beispielen (Peter Duhr, Rolf Schneider, Günther Brandenburger) arbeitet sie „differente Verarbeitungsformen“ (S. 165) heraus. Wie die „Aufarbeitung der Vergangenheit“ in einer westdeutschen, marxistisch orientierten wissenschaftlichen Zeitschrift seit 1959 in Gang gesetzt wurde, rekonstruiert Jan Loheit (S. 210–228) mit Blick auf „Das Argument“ – dieser Institution linker Theoriearbeit: „Dass die Faschismustheorie, die in ihrem Umkreis entstand, über Jahre tonangebend war, ist heute so gut wie vergessen“ (S. 211).

Die internationale Verflechtung des Arbeitszusammenhangs zeigt sich zunächst an den beteiligten Personen des Bandes. An Universitäten der englischsprachigen Welt sind Hiltrud Arens, Stephen Brockmann und Bill Niven tätig. Hinzu kommen Jürgen Doll (Paris) und Magdalena Saryusz-Wolska (Łódź). Auch die Texte der vor einigen Jahren verstorbenen Germanisten Silvia und Dieter Schlenstedt, die die Literaturwissenschaft in der DDR mitgeprägt hatten, tragen zum Gelingen des Unternehmens bei. Viele der erforschten Gegenstände sind zudem international oder transkulturell strukturiert. So hinterlässt die 2007 verstorbene Simone Barck einen Aufsatz, in dem sie die Geschichte des von Wassili Grossman und Ilja Ehrenburg in der UdSSR schon seit 1943 zusammengestellten „Schwarzbuchs“ über die Ermordung der Juden rekonstruiert (S. 231–245). Sie skizziert das umfangreiche Unternehmen der Sammlung von Dokumenten und Zeitzeugenberichten durch das Jüdische Antifaschistische Komitee ebenso wie dessen komplizierte Publikationsgeschichte. Stalins Antisemitismus verhinderte seit 1947 nicht nur die Veröffentlichung in der UdSSR; der Diktator ließ 1952 auch dreizehn Angehörige des Komitees erschießen. Erst 1994 erschien eine Auswahl der Sammlung bei Rowohlt. Im russischen Staatsarchiv liegen noch 180.000 unausgewertete Dokumente aus dem zusammengetragenen Bestand (vgl. S. 242), die auf ihre Erforschung warten.

Insbesondere dort, wo der Band vernachlässigte Themen aufspürt und sie in den „asymmetrischen“ Produktions- und Rezeptionszusammenhang des deutsch-deutschen sowie des europäischen Kontextes versetzt, verbindet sich seine konzeptionelle Stärke mit der Arbeit am Material: etwa in Silvia Schlenstedts Darstellung der von Paul Dessau initiierten deutsch-deutschen Kollektivkomposition „Jüdische Chronik“ von 1960/61 (S. 394–406); in Anne Bodens Untersuchung der Rezeption des „Tagebuchs des Dawid Rubinowicz“ um 1960 in Polen, der DDR und der Bundesrepublik (S. 373–393); in Bill Nivens Abhandlung über die Rezeption des Buchenwald-Romans „Nackt unter Wölfen“ in der Bundesrepublik (S. 407–416).

In dem breiten Spektrum der Forschungen, die sich unter dem Aspekt der Erinnerung mit der Nachkriegsliteratur befassen, votiert der Band somit für eine Überarbeitung des theoretischen Instrumentariums und setzt diese Orientierung in mehreren richtungsweisenden Einzelbeiträgen selbst um. Positiv hervorzuheben ist gerade der Blick auf bislang vernachlässigte Themen und Konstellationen im deutsch-deutschen sowie im europäischen Kontext.

Anmerkungen:
1 Vgl. bereits seine Habilitationsschrift: Helmut Peitsch, „Deutschlands Gedächtnis an seine dunkelste Zeit“. Zur Funktion der Autobiographik in den Westzonen Deutschlands und den Westsektoren von Berlin 1945 bis 1949, Berlin 1990.
2 Vgl. ders., Nachkriegsliteratur 1945–1989, Göttingen 2009; rezensiert von Stephen Brockmann, in: H-Soz-Kult, 03.06.2010, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher–14035 (02.07.2019).