Das römische Erbrecht ist ein faszinierendes Forschungsfeld, da es wie kaum ein anderes Rechtsgebiet die Besonderheiten der römischen Rechtsordnung klar zu Tage treten lässt und zugleich interessante Einblicke in die römische Sozialgeschichte gewährt. Es ist das besondere Verdienst von Christoph Paulus, diesen Zusammenhang vor nicht ganz 30 Jahren in seiner Münchener Habilitationsschrift in den Fokus der Fachöffentlichkeit gerückt zu haben.1 Diese Untersuchung wird nun mit kleinen Änderungen neu aufgelegt.
Im ersten Teil des Buches geht Paulus mit großer Sensibilität für die historischen Besonderheiten auf die Bedeutung des Todes, auf die Jenseitsvorstellungen der Römer und auf die daraus folgende Funktion des Testaments in der römischen Antike ein, wobei der Zeitraum der Untersuchung ca. 100 v.Chr. – 250 n.Chr. umfasst. Unter Auswertung literarischer, aber auch einiger epigraphischer Quellen wird hier auf gerade einmal 80 Seiten eine umfassende Vorstellung davon vermittelt, wie sich das Denken der Römer von unserer modernen Perspektive unterscheidet. Das Bestreben der Mitglieder der römischen Oberschicht, nach ihrem Tode in der Nachwelt möglichst sichtbar fortzuleben, zeigt sich nicht nur in aufwendigen Grabmälern, die noch heute in den Museen zu bewundern sind, sondern auch in langen und detaillierten Testamenten, in denen zahlreichen Personen letztwillige Zuwendungen gemacht wurden. Dabei wurden zwar – ähnlich wie heute – zunächst die engeren Verwandten bedacht. Oft blieb für diese aber nicht mehr als der Pflichtteil übrig, weil gleichzeitig – ganz im Gegensatz zur heutigen Testierpraxis – auch zahlreiche Nichtverwandte, Freunde und sogar Geschäftspartner bedacht wurden. Selbst unbekannte, aber einflussreiche Personen wurden als Erben oder Vermächtnisnehmer eingesetzt, so in der Kaiserzeit oftmals der Kaiser selbst. Den Hintergrund dieser Testiersitten deutet Paulus überzeugend als ein testamentarisches Abbild des personalen Geflechts, in dem sich ein Mitglied der römischen Gesellschaft befand. Ein Römer, der zu Lebzeiten mit zahlreichen Personen geschäftliche und freundschaftliche Kontakte gepflegt hatte, versuchte, dieses Netzwerk in der Abfassung seines Testaments nachzuempfinden, damit es auch nach seinem Tode sichtbar blieb.
Die ebenfalls gebräuchliche Praxis der Römer, den Inhalt der Testamente schon zu Lebzeiten offen zu legen, auf die Paulus leider nur kurz eingeht (S. 80f.), führte gleichzeitig dazu, dass der Erblasser sich im Hinblick auf künftige Zuwendungen Loyalität oder sogar Gehorsam sichern konnte.
Der zweite, umfangreichere Teil des Buches beschäftigt sich mit verschiedenen Testamentsklauseln, anhand derer sich die Testiersitten und die damit verfolgten Zielsetzungen zeigen lassen. Dabei geht Paulus zunächst auf die relativ häufig anzutreffenden testamentarischen Bestimmungen ein, die den Princeps als (Mit-)Erben vorsehen. Damit verfolgten die Erblasser unterschiedliche Strategien. Die Einsetzung des Kaisers konnte größere Sicherheit für eine Ausführung auch der übrigen Testamentsbestimmungen geben, indem sich nun ein einflussreicher Miterbe mit um den Nachlass und insbesondere die Ausfolgung der Legate und Fideikommisse kümmerte. Andererseits erwarteten einige Principes auch ihre Einsetzung seitens bestimmter Personen und zogen anderenfalls deren Nachlass ein, während andere Principes selbst die ihnen freiwillig zugewandten Erbschaften nicht annahmen, wenn dadurch Kinder des Erblassers benachteiligt wurden. Auch wenn diese Phänomene durchaus bekannt sind, so fügt Paulus ihnen doch eine interessante Dimension hinzu, indem er sie als Fortsetzung einer auch aus der Republik bekannten Testiersitte deutet, wo ebenfalls schon Erbeinsetzungen einflussreicher Personen bekannt sind (S. 95ff.).
Aufschlussreicher noch für die römische Sozialgeschichte sind die anderen Arten von Testamentsklauseln, die Paulus sinnvoll nach ihrer jeweiligen Zwecksetzung gruppiert. Darunter fallen vor allem Bestimmungen, mit denen der Erblasser auf das Verhalten der bedachten Personen nach seinem Tode Einfluss zu nehmen suchte. Hauptsächlich spielen hier Testamentsklauseln eine Rolle, die bedingte Verfügungen enthalten, etwa Erbeinsetzungen für den Fall, dass eine Heirat stattfindet oder nicht stattfindet, Freilassungen für den Fall, dass Sklaven ein bestimmtes Verhalten an den Tag legen, und sonstige bedingte Verfügungen, die teilweise als nichtig, meist aber als wirksam angesehen werden. Dies gilt besonders auch für die zahlreichen Klauseln, mit denen der Erblasser die Errichtung eines Grabmals sicherte.
Diesen Teil durchzieht – ebenso wie das gesamte Buch – Paulus‘ These, dass die römischen Juristen sich hauptsächlich um die Durchsetzung des Unsterblichkeitswunsches des Verstorbenen bemühten. Diese Deutung erscheint mir angreifbar, was allerdings auch Paulus selbst konzediert (S. 265). Die Umsetzung des Erblasserwillens durch die römischen Juristen dient nämlich zunächst der Privatautonomie des Erblassers, was auch heute noch der wesentliche Sinn und Zweck des testamentarischen Erbrechts ist. Die Unterschiede zur modernen Rechtsvorstellung werden daher meines Erachtens nicht deutlich, wenn man sich nur auf den „Unsterblichkeitswunsch“ fokussiert. Auch heutzutage ließe sich in die Orientierung der Gerichte am tatsächlichen Willen des Erblassers die Umsetzung eines Unsterblichkeitswunsches hineinprojizieren. Dagegen treten Einsichten in die spezifisch römische Konzeption der Testamente vor allem an den Stellen hervor, wo Paulus anschaulich das weitgespannte Beziehungsgeflecht eines Römers skizziert, das sich in seiner Testamentsgestaltung postmortal fortsetzt (S. 192–264). Interessant wäre in diesem Zusammenhang eine Ausweitung der Untersuchung auf die testamentarische Praxis der Spätantike gewesen, als christliche Jenseitsvorstellungen eine Abkehr vom heidnischen Unsterblichkeitswunsch ermöglicht hatten. Leider beschränkt sich das Buch auf die klassische Zeit.
Eine besondere Verstärkung erhalten die eingangs getroffenen Aussagen Paulus‘ zur sozialen Bedeutung des Testaments bei den vielfältigen Verfügungen, die aus Dankbarkeit gegenüber den Erben getroffen wurden (S. 192–223). Geradezu in einem wirtschaftlichen Austauschverhältnis stehen dabei die Zuwendungen, die als Entgelt für geleistete Dienste gewährt wurden. So war es üblich, Freigelassenen oder Sklaven, die für den Erblasser tätig gewesen waren, als Entlohnung eine Erbeinsetzung oder ein Vermächtnis zukommen zu lassen – bei Sklaven unter gleichzeitiger Erteilung der Freiheit. Am deutlichsten tritt der „Austauschcharakter“ der römischen Erbeinsetzungen bei den Testamentsklauseln hervor, in denen Personen explizit nur dann als Erben eingesetzt werden, wenn sie ihrerseits den Erblasser in ihrem Testament einsetzen. Die Lösungen der römischen Juristen, die vor allem in der Zeit vor dem allgemeinen Verbot dieser Arten von Erbeinsetzungen vertreten wurden, stützen Paulus‘ These. Gleiches gilt auch für die interessanten Gestaltungen, mit denen römische Erblasser ihre Verwandten – Kinder, Eltern, Ehegatten – mit Vermächtnissen und Erbeinsetzungen bedachten (S. 223–252). Durch jeweils aufschlussreiche Exegesen zeigt Paulus die römischen Testiergewohnheiten deutlich auf. Ob man dies als Unsterblichkeitswunsch deuten sollte, erscheint mir nicht zwingend; der Wunsch einer Versorgung der Angehörigen nach dem Tod dürfte als Erklärung hinreichend sein.
Besonders aufschlussreich für die römische Vorstellung vom Erbrecht sind auch die Ausführungen zur „Ehre der Erbeinsetzung“ (honos institutionis, S. 259–264). Mit der Erbeinsetzung war nicht nur die Vermögensmehrung als solche, sondern auch der Ausdruck einer sozialen Wertschätzung verbunden. Leider arbeitet Paulus auch hier nur mit wenigen Beispielen, obwohl die Thematik eine größere Betrachtung verdienen würde. So ließe sich beispielsweise auch anhand des von Paulus zu Beginn des Buches erwähnten Briefes von Plinius dem Jüngeren (epist. 5,1) sehr klar zeigen, dass für die Römer oft nicht der Wert der Zuwendung, sondern die Tatsache der Zuwendung als solche von Bedeutung war.
Die feinsinnigen Exegesen des Buches und die aufschlussreichen Zusammenhänge mit der römischen Sozialgeschichte machen Lust auf mehr. Die meisten Fragenkomplexe werden in diesem Buch nämlich nur angerissen und anhand einiger Beispiele diskutiert. Zu fast jedem Thema könnte man größere und umfassendere Untersuchungen anstellen. Leider hat Paulus selbst seine Schaffenskraft in den Jahren nach der Veröffentlichung seiner Habilitationsschrift hauptsächlich dem modernen Recht gewidmet. Es bleibt jedoch zu hoffen, dass die Neuauflage seines Buches Anlass für weitere Forschungen in diese Richtung gibt, welche den vielfältigen Zusammenhängen zwischen römischer Rechts- und Sozialgeschichte nachgehen. Die Fachwissenschaft wird dabei freilich nach wie vor auf die ursprüngliche Fassung der Arbeit von 1992 zurückgreifen, da in der Neuausgabe viele wichtige Passagen zu Detailfragen des Erbrechts und der Quellenauslegung fehlen.2 Für eine breitere Öffentlichkeit ist die Neuauflage jedoch etwas leichter zugänglich, da die meisten Quellen übersetzt worden sind.3 Dem Buch ist daher eine weite Verbreitung zu wünschen.
Anmerkungen:
1 Christoph Paulus, Die Idee der postmortalen Persönlichkeit im römischen Testamentsrecht. Zur gesellschaftlichen und rechtlichen Bedeutung einzelner Testamentsklauseln, Berlin 1992.
2 Im Einzelnen sind dies folgende Seiten der Originalfassung: S. 107–110, 124f., 189–193, 197f., 205–207, 209–213, 217–219, 238–241, 250f., 256–260, 262f., 266f., 290f., 294–299, 304–309.
3 Deutsche Übersetzungen fehlen allerdings auf S. 18, 211, 263, ohne dass dafür ein Grund erkennbar ist.