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Title
Psychopathen in Purpur. Julisch-claudischer Caesarenwahnsinn und die Konstruktion historischer Realität


Author(s)
Sittig, Florian
Series
Historia, Einzelschriften 249
Published
Stuttgart 2018: Franz Steiner Verlag
Extent
576 S.
Price
€ 84,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
David Hamacher, Abteilung für Alte Geschichte, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Das Bild der frühen römischen Kaiserzeit ist geprägt von Herrschern, die im Verdacht stehen, verrückt gewesen zu sein – so zumindest liest es sich bei den antiken Autoren: Tiberius habe an Verfolgungswahn gelitten, Caligula sich für einen Gott gehalten, Claudius einen labilen Charakter besessen und Nero sich mehr zum Schauspieler als zum Regenten berufen gefühlt. Die Vorstellung vom wahnsinnigen Kaiser ist (nach wie vor) wirkmächtig und populär. In seiner 1894 veröffentlichten Studie zum Prinzipat des Caligula hat erstmals Ludwig Quidde einen Kausalzusammenhang zwischen der soziopolitischen Rolle und der mentalen Disposition des römischen Herrschers formuliert und den Begriff des „Caesarenwahnsinn“ in der Prägung einer psychopathologischen „Berufskrankheit“ in die Forschung eingeführt.1 In jüngerer Zeit sind die in den antiken Quellen beschriebenen devianten oder transgressiven Verhaltensweisen der Kaiser jedoch weniger als Anzeichen einer wie auch immer gearteten psychischen Störung, sondern vielmehr als Ausdruck einer Konfrontation unterschiedlicher Herrschaftsauffassungen und -praktiken verstanden worden, die sich aus den inneren Widersprüchen des von Augustus begründeten Prinzipatssystems geradezu folgerichtig ergab.2

Die von Florian Sittig nun vorgelegte Untersuchung, bei der es sich um die (576 Seiten starke) gekürzte Fassung seiner Dissertation handelt, baut auf ebendiesen Vorarbeiten auf und möchte dabei die als Alternative formulierte Frage überwinden, ob die im Verdacht des Caesarenwahnsinns stehenden Kaiser tatsächlich psychotisch waren oder nach ihrem Tod lediglich in dieser Weise diffamiert wurden (und somit zu rehabilitieren sind). Den Rückgriff auf das Wahnsinnsnarrativ, das in der römischen Geschichtsschreibung insbesondere für die Darstellung der Vertreter der iulisch-claudischen Kaiserdynastie verwendet wird, versucht Sittig in Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen am Übergang von Republik zu Prinzipat zu erklären und geht somit ausdrücklich von einer über den jeweiligen Einzelfall hinausgehenden Funktionalität der entsprechenden Zuschreibungen aus.

Die dem Vorhaben zugrundeliegenden theoretischen wie methodischen Überlegungen werden im ersten Teil der Arbeit (S. 13–137) ausführlich erläutert. In Anlehnung an Michel Foucaults Konzept der Diskursanalyse versteht Sittig das Sprechen über den kaiserlichen Wahnsinn als „kommunikativen Akt […], dessen Regeln sich anhand von Intertextualitäten nachvollziehen lassen, also als eine soziale Praktik, durch die der Vergangenheit ein gültiger Sinn für die Gegenwart abgerungen wird“ (S. 65).3 Der Herausforderung, das komplexe Theoriemodell Foucaults auf einen althistorischen Gegenstand praktisch anzuwenden, begegnet Sittig offen, indem er erklärt, „keine Diskursanalyse im orthodoxen Sinne“ (S. 64) durchführen zu wollen, sondern „lediglich“ eine Reihe ihrer Prämissen aufzugreifen, die er hiernach auch transparent darlegt. Eine fundierte Auseinandersetzung mit verschiedenen antiken Wahnsinnskonzepten (mythologisch, medizinisch, philosophisch, juristisch), in denen sich die diskursive Grundlage des Themas fassen lässt, beschließt die Präliminarien.

Der Hauptteil der Arbeit (S. 141–446) widmet sich dann der systematischen Behandlung des kaiserlichen Wahnsinns „zwischen Narrativ und Diskurs“. Ist hiermit zum einen auf die Ebene der Geschichtsschreibung verwiesen, in deren Erzählung das Motiv des verrückten Herrschers literarisch genutzt werden konnte, um im Nachhinein eine bestimmte Deutung der Geschichte zu forcieren, nimmt Sittig gleichfalls die Ebene der zeitgenössischen Akteure in den Blick, auf der man über den Wahnsinn sprechen konnte, um konkrete politische Ziele zu erreichen und neue Handlungsspielräume zu erschließen. Anhand von fünf idealtypischen Symptomen wird das in den Quellen tradierte Bild des psychotischen Kaisers in seiner Konstruktion wie Funktionalität erörtert. „Fremdbestimmtheit“, „Grausamkeit“, „Tyrannenfurcht“, „Habgier“ und „Hochmut“ dienen dabei als Ausgangspunkte zu teilweise recht tiefschürfenden Detailstudien, die zumindest in manchen Fällen hätten gekürzt werden können, ohne dass der Darstellung etwas an Substanz verloren gegangen wäre. Nichtsdestoweniger ist selbst in solchen Passagen der rote Faden der Argumentation stets erkennbar, wobei es Sittig versteht, am Ende eines jeden Kapitels die zentralen Ergebnisse der vorangegangenen Analyse prägnant zusammenzufassen und mit Blick auf die Fragestellung einzuordnen. Eine kapitelübergreifende Synthese wird am Ende der Arbeit geboten (S. 449–475).

Wie in der Zusammenschau der Fallstudien ersichtlich wird, kommt dem Wahnsinnsnarrativ jenseits seiner Lesart als bloße Tyrannentopik, das heißt als Instrument antimonarchischer Agitation, gerade im soziopolitischen Kontext eine Relevanz zu, die eng mit der Diskrepanz zwischen dem (republikanischen) Anspruch und der (monarchischen) Wirklichkeit des Prinzipatssystems verknüpft ist. So erkennt Sittig das Potenzial der entsprechenden Zuschreibungen insbesondere in ihrer konstruktiven Dimension als Beitrag zur diskursiven Harmonisierung unterschiedlicher und sich teilweise widersprechender Vorstellungen von Herrschaft. Besonders anschaulich lässt sich dieses Potenzial in Situationen des Herrschaftsübergangs greifen, die stets als neuralgisch zu gelten hatten und dementsprechend von einer regen Kommunikation zwischen dem neuen Kaiser und den Vertretern der Senatsaristokratie begleitet waren. In dieser Hinsicht stellte das Narrativ des wahnsinnigen Kaisers „eine Art sozialen Kit dar, durch den Differenzen zwischen Akteuren und Widersprüche zwischen Diskursen überdeckt werden konnten, um einen reibungslosen Start des neuen Herrschers zu garantieren“ (S. 471).

Was hierunter im Einzelnen zu verstehen ist, zeigt sich beispielsweise in Sittigs Ausführungen zum Wahnsinn als „dritter Weg“ zwischen consecratio und damnatio. Stellte sich mit dem Tod eines Kaisers stets die Frage, welchen Status man dem Verstorbenen zuzugestehen gedachte, bot das Narrativ des verrückten Herrschers im Zweifelsfall die Möglichkeit, die Bewertung des Vorgängers bewusst „in einer gewissen Schwebe“ (S. 414) zu halten und somit den Konsens zwischen dem jeweiligen Nachfolger und den Senatoren zu gewährleisten. Insbesondere in der Konstellation einer Herrschaftsweitergabe innerhalb der eigenen Familie war es so denkbar, sich von einem „schlechten“ Vorgänger zu distanzieren, indem man dessen defizitäres Verhalten als persönlich und damit nicht als familiär oder gar systemisch bedingt qualifizierte, ohne dass mit der Erklärung des Wahnsinns (als Krankheitsbild) zwangsläufig auch eine juristische oder moralische Verurteilung ausgesprochen war.

Gerade in der Sondierung dieser konstruktiven Dimension der entsprechenden Zuschreibungen kann der außerordentliche Vorzug der Untersuchung gesehen werden. Souverän entwickelt Sittig seine Argumentation anhand des umfangreichen wie vielfältigen Quellenmaterials, das angesichts der allgemeinen Einführung ins Thema sowie zahlreichen Ausblicken keineswegs auf die Zeit des Frühen Prinzipats beschränkt bleibt. Mitunter eher selektive Literaturhinweise fallen nur dadurch ins Auge, dass die Forschung im Allgemeinen sehr gründlich rezipiert wird.4 Allein einige Flüchtigkeitsfehler im Bereich der Orthographie und Interpunktion sowie Sittigs hin und wieder durchdringende Neigung, Fremdworte zu verwenden, wo sich mit Blick auf den Lesefluss durchaus auch weniger komplexe Formulierungen hätten finden lassen, schränken den insgesamt positiven Gesamteindruck ein wenig ein.5 Alles in allem ist es Sittig gelungen, mit seiner breit angelegten und zugleich detaillierten Studie zum „Caesarenwahnsinn“ der iulisch-claudischen Kaiser einen substanziellen wie anregenden Beitrag zur gegenwärtigen Forschungsdiskussion zu liefern, der das in den antiken Quellen verbreitete Motiv des verrückten Herrschers in seiner narrativen Funktion herausstellt und dabei gerade sein Potenzial zur Überbrückung der inneren Widersprüche des jungen Prinzipatssystems veranschaulicht.

Anmerkungen:
1 Ludwig Quidde, Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn, Leipzig 1894. Erstmalig Erwähnung findet der Begriff als Kapitelüberschrift in Gustav Freytags Roman „Die verlorene Handschrift“ (Leipzig 1864; Buch 4, Kapitel 7: „Der Hummeln Cäsarenwahnsinn“). Friedrich Wiedemeister, Der Cäsarenwahnsinn der Julisch-Claudischen Imperatorenfamilie geschildert an den Kaisern Tiberius, Caligula, Claudius, Nero, Hannover 1875, bereitete ihm hiernach als Sammelbegriff für die erblich bedingten „Gehirnerkrankungen“ der Vertreter der iulisch-claudischen Dynastie den Weg in die medizinhistorische Forschung.
2 Zu nennen wären hier nur exemplarisch: Aloys Winterling, Caligula. Eine Biographie, München 2003; ders., Cäsarenwahnsinn im Alten Rom, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2007, München 2008, S. 115–139; Christian Witschel, Verrückte Kaiser? Zur Selbststilisierung und Außenwahrnehmung nonkonformer Herrscherfiguren in der römischen Kaiserzeit, in: Christian Ronning (Hrsg.), Einblicke in die Antike. Orte – Praktiken – Strukturen (Münchner Kontaktstudium Geschichte 9), München 2006, S. 87–129.
3 Michel Foucault, L’ordre du discours. Leçon inaugurale au Collège de France prononcée le 2 décembre 1970, Paris 1971.
4 Der an einigen Stellen gebotene Ausblick auf Trajan (u.a. S. 461f.) kommt etwa ohne Gunnar Seelentag, Taten und Tugenden Traians. Herrschaftsdarstellung im Principat (Hermes Einzelschriften 91), Stuttgart 2004, aus; Lisa Cordes, Kaiser und Tyrann. Die Kodierung und Umkodierung der Herrscherrepräsentation Neros und Domitians (Philologus Supplemente 8), Berlin u.a. 2017, ist Sittig zwar bekannt, bleibt trotz ihrer für das Thema vielversprechenden Ansätze aber (wohl aufgrund des Publikationsdatums) weitgehend unberücksichtigt.
5 Ins Gewicht fallen solche Fehler dort, wo sie das Verständnis der Satzaussage erschweren, wie etwa in der folgenden Passage: „In ähnlicher Weise trifft dies auch auf die consecratio zu: Als Totengericht, durch das die Senatoren am Ende einer Herrschaft, [sic] dass [sic] Verdikt über die Kaiser sprachen, bestätigte das Verfahren die legitimatorische Kompetenz des Senats. Im Gegensatz dazu ließ auch sie sich aber, bezogen auf den Nachfolger des Verstorbenen, als ein Vorgang deuten, in dem das Gremium, [sic] mit der Sakralität eine außerhalb seiner Verfügung stehende Legitimationsquelle der Herrschaft anerkannte“ (S. 441). Die Komplexität mancher Formulierungen zeigt das folgende Beispiel: „Für die römischen [sic] Historiographie ist der Wahnsinn mehr als nur ein Gegenentwurf zur Vernunft, der nach Art einer Antithese das Rhema der These hervorhebt. Er ist vielmehr deren polymorphes Äquivalent, das alle Lücken überbrückt, die die Begrenztheit ihrer wie jeder spezifischen Vernunft zwangsläufig in die Ratio ihrer Nar-Ratio reißt, und auf diese Weise den Prozess der intersubjektiven Sinngebung jenseits strenger Logik überhaupt erst ermöglicht“ (S. 475).

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