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Titel
Willy Brandt. Die Biographie


Autor(en)
Schöllgen, Gregor
Erschienen
Berlin u.a. 2001: Propyläen Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Hiepel, Universität Essen FB 1 - Geschichte

Das Schreiben historischer Biographien ist ein schwieriges Geschäft. Was ist ein Mensch, was treibt ihn um, macht ihn zur Persönlichkeit? Wie ist er im jeweiligen historischen Umfeld zu positionieren? Diese Fragen sind auch mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft mitunter kaum zu beantworten. Das gilt erstaunlicherweise in besonderem Maße für die Biographie einer der herausragendsten Persönlichkeiten der deutschen Zeitgeschichte. Denn Willy Brandt galt als schwierige, sphinxhafte Persönlichkeit, distanziert und unzugänglich, die auch vor engsten Vertrauten ihr Innerstes verschloss. Den Menschen Willy Brandt zu erfassen, bedeutet daher eine Herausforderung der besonderen Art. Andererseits hat das Leben des Politikers Brandt eine kaum zu überschauende Flut von Spuren hinterlassen. Die kommentierte Bibliographie am Ende des vorliegenden Bandes gibt Auskunft darüber.

Als gelernter Journalist war Brandt zeitlebens ein nahezu exzessiv schreibender Mensch, für den Verschriftlichung Selbstvergewisserung und nicht zuletzt Arbeit am eigenen Geschichtsbild bedeutete. Ein enormer Nachlass im Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung ist das Resultat der auf diese Weise produktiven Seite im Leben Willy Brandts. Zugleich ist über Wenige bereits zu Lebzeiten so viel geschrieben und spekuliert worden – zumal Brandt neue und alte Medien durchaus für seine Zwecke zu nutzen verstand. So existieren viele Brandt-Bilder, die sich zwischen den Polen von Diffamierung und Mythologisierung bewegen: Brandt als Emigrant und/ oder Vaterlandsverräter, als Patriot und/ oder Sozialist, als Pragmatiker und/ oder Visionär, Familienvater und/ oder Lebemann.

Der Lebensweg dieser markanten Persönlichkeit umspannt die wechselvolle Geschichte Deutschlands vom Kaiserreich bis zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Er ist eine im nachhinein atemberaubend anmutende Karriere vom unehelichen Lübecker Arbeiterkind zum deutschen Bundeskanzler und dem in aller Welt geachteten Sozialdemokraten – ein Leben voller Brüche, Widersprüchlichkeiten, Zufälle und Unwägbarkeiten. Brandt war häufig genug Getriebener der Geschichte, aber auch zugleich treibende Kraft.

Die Erwartungen an eine Biographie sind angesichts dieser Vorgaben entsprechend hoch gesteckt. Sie werden überdies beim Lesen des Buchtitels in die Höhe geschraubt, will uns Gregor Schöllgen doch nichts weniger als die (!) Biographie Willy Brandts präsentieren. Als einer der Herausgeber der Berliner Ausgabe, einer auf zehn Bände angelegten Edition der Schriften Willy Brandts, ist er bestens mit dem umfangreichen Nachlass vertraut. Darüber hinaus ist er als Verfasser zahlreicher Studien zur Zeit- und internationalen Geschichte bekannt. Wer indes vermutet, dass der Lebensweg Brandts präzise analysiert und in den Zeitkontext eingebettet wird und überdies vielleicht neue Erkenntnisse zur politischen und internationalen Geschichte zu erhalten hofft, wird von diesem Buch enttäuscht werden. Schöllgen hat einen biographischen Essay vorgelegt, der das Persönliche in den Mittelpunkt der Darstellung stellt und gleichsam in laienpsychologischer Manier zu deuten sucht. Das mag reduktionistisch sein, ist aber im Ergebnis durchaus lesenswert. Der Erlanger Historiker nähert sich seinem Gegenstand mit Sympathie, aber auch mit der für eine biographische Betrachtung notwendigen Distanz. Für eine historische Darstellung recht ungewöhnlich ist die Biographie im Präsens verfasst – was offensichtlich ein Gefühl der Nähe zur Person und den Ereignissen in ihrem Leben erzeugen soll.

Insgesamt ist so ein einfühlsames und gut geschriebenes Porträt des Menschen Brandt gelungen. Kindheit- und Jugendskizze, auch die Zeit des Exils, können dabei am stärksten überzeugen. Sie zeigen die Prägekraft des Herkunftsmilieus und dessen Anteil an der Entwicklung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale, die auch den Politiker und Parteimenschen bis ins hohe Alter geprägt haben sollen. Freilich schießt Schöllgen mitunter über das Ziel hinaus, so wenn er Brandts schwierige Kindheit immer wieder deutend heranzieht, um dessen Verhältnis zur deutschen Sozialdemokratie zu charakterisieren, die für ihn eine Art Familienersatz gewesen sein soll. Über etwaigen Liebesentzug der Partei habe er sich daher um so bitterer enttäuscht gezeigt. Die Politik bot Brandt in dieser Lesart zudem die Möglichkeit, den Wunsch nach Nähe zu Menschen zugleich mit Distanz zu verbinden. Auch seine amourösen Abenteuer werden ähnlich gedeutet.

Der Band bietet einen mit kleineren Exkursen versehenen umfassenden chronologischen Durchgang durch das Leben Brandts, angefangen mit der Kindheit bis zum Fall der Mauer und den letzten Tagen im Leben des Altkanzlers. Große Politik, Parteipolitik, Privates und Persönliches werden miteinander vermengt. Schöllgen versucht die einzelnen biographischen Skizzen am Ende zu einem Gesamtbild zu fügen und einem Leben voller Widersprüchlichkeiten eine Kontinuität zu geben. Willy Brandts (partei)politisches Vermächtnis bestand demnach darin, Tradition mit Neuorientierung zu verbinden. Sein bekanntestes Wirkungsfeld, die Politik der Verständigung, war wegen seines unverkrampften Verhältnisses zur deutschen Nation möglich. Als Mensch war Brandt voller Brüche und mit Schwächen und Fehlern behaftet, was ihn – eine Formulierung Walter Scheels aufgreifend – „das Herz des Volkes“ erobern ließ.

Auf dem Weg zu dieser Bilanz erfährt man so recht aber nichts Neues. So wie Brandt sich einmal über die Arbeit der Geheimdienste geäußert hat, es genüge die Presse sorgfältig zu lesen, um einen umfassenden Überblick auch über vermeintlich geheime Vorgänge zu erhalten, so ergeht es auch dem Historiker mit Willy Brandt. Es gibt nichts, was nicht schon vorher dem aufmerksamen Zeitgenossen und historisch Interessierten bekannt gewesen wäre. Auch Briefe und Texte aus dem Nachlass und Gespräche mit Weggefährten können das Bild nur ergänzen, aber keine neuen Erkenntnisse liefern.

Dass man zur Ostpolitik keine Neuigkeiten erwarten darf, ist einleuchtend. Auch über das schwierige Verhältnis Brandts zu seinem innerparteilichen Wegbereiter und Rivalen Herbert Wehner ist bereits genug geschrieben worden. Wo man berechtigterweise neue Erkenntnisse erhoffen kann, führt die Biographie nicht weiter. So wären Überlegungen zu Wandel und Kontinuität eines politischen Weltbildes konstitutiv, das sich aus den zahlreichen politischen Schriften der Exilzeit herausdestillieren ließe und sich in der politischen Praxis der Nachkriegszeit bewähren musste. Was trieb den West- und Europapolitiker Brandt um? Wie sah der „europäische Patriot“ die Aufgabe Deutschlands in Europa? Früher als die Meisten in der SPD befürwortete Brandt die Westintegration der Bundesrepublik. Wie erklärt sich dann die Haltung des Parteivorsitzenden Brandt zur Nachrüstung unter seinem Nachfolger als Bundeskanzler, Helmut Schmidt? Ging es hier wirklich nur um persönliche Rivalitäten und die seit dem Mauerbau tiefsitzende angebliche Enttäuschung Brandts über die Amerikaner? Diese Phase sei „nicht die stärkste und überzeugendste“ im Leben Willy Brandts gewesen – weil im Nachhinein der ,realpolitische’ Weg Helmut Schmidts sich als erfolgreich erwies? Der Historiker sollte in der Rückschau nicht klüger sein wollen als der Zeitgenosse.

Als kritischer Leser würde man gerne die eine oder andere Aussage überprüfen wollen. Das ist leider nicht möglich, da auf Quellenangaben und einen wissenschaftlichen Anmerkungsapparat vollständig verzichtet wurde. Für eine breite historisch interessierte Leserschaft mag das angemessen sein. Diese ist der gut lesbaren Darstellung auch in großer Zahl zu wünschen. Auf eine wissenschaftliche Biographie des großen Politikers und Sozialdemokraten wird das Fachpublikum aber weiterhin warten müssen.

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