J. Wilke: Karl Jaspers und die Massenmedien

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Title
Karl Jaspers und die Massenmedien. Der politische Philosoph im Widerstreit der Öffentlichkeit


Author(s)
Wilke, Jürgen
Series
Presse und Geschichte – Neue Beiträge
Published
Bremen 2018: Edition Lumière
Extent
153 S.
Price
€ 24,80
Reviewed for H-Soz-Kult by
Alexander Gallus, Technische Universität Chemnitz

Jürgen Wilkes Büchlein ist im Stil einer nüchternen Bestandsaufnahme verfasst. Auf 144 großzügig bedruckten und reich bebilderten Fließtext-Seiten taxiert er Karl Jaspers’ Wirken als Akteur in den Massenmedien. Im Mittelpunkt steht dabei die publizistische Tätigkeit nach 1945. Der Fokus ist, wie es – fast ein wenig entschuldigend – im Resümee heißt, „auf seine direkte Medienpräsenz konzentriert“, während „weitgehend unberücksichtigt“ geblieben sei, „in welchem Umfang die Medien in eigenen Beiträgen Karl Jaspers und sein Werk zum Thema machten“ (S. 143). So präsentiert sich diese Bilanz zugestandenermaßen als eine unvollständige. Gleichwohl schafft sie einen wertvollen akteurszentrierten Sockel, von dem aus der Medienphilosoph und -intellektuelle besser als bislang zu sichten ist.

Jaspers habe den Typus eines medienaffinen Experten und Agenda-Setters dargestellt und müsse zu den „Protagonisten einer Medialisierung der Philosophie“ (S. 15) gezählt werden, schreibt der Kommunikationswissenschaftler Wilke eingangs. Das ist so eindeutig formuliert, dass er am Ende ein wenig in Widerspruch zu seiner skeptischer gehaltenen Zusammenfassung gerät. Darin wird stärker auf den von Jaspers selbst empfundenen „Rollenkonflikt“ (S. 143) abgehoben: zwischen dem skrupulösen Philosophen hier und dem lässiger öffentlich urteilenden Zeitdiagnostiker dort. Ihm blieben die „Regeln und Arbeitsweisen der Medien“, heißt es abschließend, häufig „fremd“, er sammelte gelegentlich „negative Erfahrungen“ und blieb doch insgesamt recht „vertrauensselig“ im Umgang mit ihnen (S. 144). Mit diesen Andeutungen verweist Wilke eher en passant auf ein Forschungsdesiderat: eine ebenso quellengestützte wie begrifflich-typologisch weiterführende Geschichte der bundesdeutschen Medienintellektuellen.1

Wir erfahren zunächst, welche Presseorgane Karl Jaspers selbst las und welche ihm sein späterer Hausverlag Piper kostenlos bereitstellte. Aus Jaspers’ Zeitungsausschnitt-Sammlung, die Wilke gesichtet hat, ist abzuleiten, dass er sich um 1930 stärker für kulturelle Themen interessierte, während ab den Jahren um 1950 eine zunehmend politische Färbung erkennbar ist. Zwischen 1945 und 1949 beteiligte er sich dann als Mitherausgeber von „Die Wandlung“ an einem eigenen Zeitschriftenprojekt. Bis zu ihrer Krise im Zuge der Währungsreform 1948 war sie ein lebendiges kulturpolitisches Printprodukt. Am Ende blickte Jaspers enttäuscht auf „Die Wandlung“ zurück, weil sie, wie er 1967 notierte, doch weniger „Kraft“ (S. 37) ausstrahlte, als er anfangs gehofft hatte. Angesichts solcher Skepsis erscheint es angebracht, wenn der Verfasser nochmals an Erfolge der Zeitschrift erinnert, etwa die ersten Veröffentlichungen Hannah Arendts in Deutschland nach 1945.2 Wenn er als dafür entscheidend die „Verbindung“ zu ihrem früheren Heidelberger Doktorvater Jaspers hervorhebt, so ist das nicht falsch, unterschlägt aber die für Arendts „Wandlung“-Mitwirkung mindestens ebenso bedeutsamen freundschaftlichen Bande zu Dolf Sternberger, der die eigentlichen Redaktionsgeschäfte führte.3

In einem sehr kurzen Kapitel würdigt Wilke Jaspers’ „Erklärung“ zum Wechsel an die Universität Basel und in einem etwas längeren den öffentlichen Angriff auf den Philosophen nach einer teilweisen Veröffentlichung seiner Dankesrede zur Verleihung des Goethepreises der Stadt Frankfurt in der „Welt am Sonntag“. Der Bonner Romanist Ernst Robert Curtius beschuldigte Jaspers 1949, er habe das „Ansehen des deutschen Geistes und der deutschen Philosophie durch eine zugleich subalterne und arrogante Zurechtweisung Goethes kompromittiert“ (S. 45). Er löste damit eine ganze Kaskade von Anwürfen aus, der Jaspers mit einer gewissen „Öffentlichkeitsscheu“ (S. 46) begegnete.

Dabei war Jaspers in der frühen Bundesrepublik publizistisch aktiv. Wilke koloriert sein Wirken in und rund um Zeitschriften wie „Studium Generale“, „Merkur“, „Die Gegenwart“, „Frankfurter Hefte“ und „Der Monat“. Letzteren lobte Jaspers in höchsten Tönen, atme dieses Periodikum doch „fühlbar den Geist abendländischer (europäisch-amerikanischer) Kulturgemeinschaft“ und sei in ihm ein wahres „Weltbürgertum am Werke“ (S. 55). Dies ist einem Brief an Herausgeber Melvin J. Lasky vom Dezember 1948 zu entnehmen, wie ihn Wilke im Karl-Jaspers-Nachlass ausfindig machen konnte, der im Marbacher Deutschen Literaturarchiv aufbewahrt wird. Diese wie weitere gelegentlich hervorblitzende Quellenstücke aus diesem Fundus steigern überhaupt den Reiz der Lektüre.

Ab den 1960er-Jahren wuchs ganz allgemein und speziell für Jaspers’ Wirken die Bedeutung von Medien wie „Die Zeit“ und „Der Spiegel“. In der Hamburger Wochenzeitung fiel Jaspers nicht zuletzt im Jahr 1960 durch eine die deutschlandpolitische Debatte beflügelnde mehrteilige Artikelserie zur Frage der staatlichen Einheit auf, die in demselben Jahr auch als Buch unter dem Titel „Freiheit und Wiedervereinigung“ erschien.4 Wir erfahren hier wie auch in anderen Fällen viel über Jaspers’ eigenen Text, vergleichsweise wenig allerdings über die anderen Streitbeiträge und deren Kontext.5

Das verhält sich im Falle der viel größeren Welle an öffentlichen Reaktionen, die Jaspers mit seiner Streitschrift „Wohin treibt die Bundesrepublik?“6 ab 1966 lostrat, anders. Das Tableau bleibt immer noch skizzenhaft, es ist aber erfrischend zu erfahren, wie sich der SPD-Parteiintellektuelle Erhard Eppler in der „Zeit“ unter der Überschrift „Wohin treibt Karl Jaspers?“ über dessen massive Attacke auf den Zustand des bundesdeutschen politischen Systems echauffierte. Der „Spiegel“ hingegen brachte einen Vorabdruck der Schrift in drei Teilen und avancierte fortan zu Jaspers’ Lieblingsblatt, das er mit Lobeshymnen versah. Diese waren so exzessiv, dass sein Verleger Klaus Piper um eine gewisse Dämpfung bat und die „Spiegel“-Macher im Vorabdruck ebenfalls auf eine deutliche Abschwächung drängten, um die Peinlichkeit zu begrenzen. Möglicherweise war Jaspers’ Urteil ab den Jahren, die auf die „Spiegel“-Affäre folgten, so überschwänglich positiv, weil er sich von Rudolf Augsteins Nachrichtenmagazin, wie es sich in den 1950er-Jahren präsentierte, regelrecht abgestoßen gefühlt hatte (und auch persönlich verletzt: vgl. S. 70). Noch Ende des Jahres 1962 klagte er gegenüber Hannah Arendt über den nihilistischen, negativistischen und hochmütigen Charakter des „Spiegel“: „Keine Spur von Anstand, keine Noblesse, kein Gehalt.“ (S. 73)

In den Folgejahren rückten das Magazin und Jaspers sich aber wiederholt gegenseitig ins helle Licht. 1965 pries Augstein den Baseler Philosophen als „moralischen Röntgenapparat“ (S. 80). Viel mehr Durchblick plus Urteilskraft ließ sich in ein Wortbild voller Anerkennung nicht packen. Wilke hantiert vorsichtig mit Werturteilen, doch Jaspers’ Lobpreisung des „Spiegel“ fordert ihn zu einer vergleichsweise spitzen Stellungnahme heraus: „Karl Jaspers rühmte den ‚Spiegel‘ in den höchsten Tönen, die im Nachhinein doch eigentümlich beflissen anmuten, irgendwie mitgerissen von dem intellektuellen Mainstream der sechziger Jahre.“ (S. 87)

In den folgenden Kapiteln vervollständigt Wilke, fast einem Medienbuchhalter gleich, seine Inventarisierung von Jaspers’ medialem Wirken, indem er dessen Reaktion auf Medien- und Interviewanfragen ebenso dokumentiert wie dessen Vorlesungen und Vorträge im Rundfunk, die später zum Teil auf Tonträger gebannt und vertrieben wurden. Überhaupt verstand es Jaspers mit der Zeit immer besser, die Möglichkeiten eines Medienmixes zu nutzen. Er sei ein „Meister der Mehrfachverwertung“ gewesen, dabei „sekundiert von dem ökonomisch versierten Verleger Klaus Piper“ (S. 122). Zu Recht würdigt Wilke die „Rolle des Verlegers“ (S. 123ff.) in einem eigenen Kapitel. Es belegt, wie Piper – zumeist ohne Erfolg – versuchte, manche in seinen Augen überspitzte zeitdiagnostische Thesen seines Autors etwas abzustumpfen. Schön trotzig kommentierte er Jaspers’ These eines drohenden Freiheitsverlusts in der Bundesrepublik 1967 mit den Worten (die Wilke in einem Brief aus dem ebenfalls in Marbach archivierten Bestand des Piper-Verlags fand): „Ich schreibe diesen Brief als deutscher Verleger in völliger Freiheit und werde Ihr Buch in Freiheit drucken und dafür eintreten. Also ist die Freiheit nicht schon zerstört.“ (S. 128)

Ein letztes Kapitel vor dem Resümee würdigt die Frage, wie sich Jaspers theoretisch mit der Rolle von Medien und Öffentlichkeit auseinandersetzte. Wenngleich er das Thema schon in einem Kapitel von „Die geistige Situation der Zeit“ aus dem Jahr 1931 streifte, in einem gleich mehrfach nachgedruckten Rundfunkbeitrag von 1962/63 eigens fragte „Werden wir richtig informiert?“ und in seiner „Kleinen Schule des philosophischen Denkens“ aus derselben Zeit dem Stichwort der Öffentlichkeit ein Kapitel widmete, blieb es in seinem Gesamtwerk doch randständig. Insgesamt besaß er ein normativ-aufklärerisches Verständnis von öffentlicher Meinung, kein sozialpsychologisches, wie der ehemalige Noelle-Neumann-Schüler Wilke fast klagend notiert. Jaspers selbst habe, wie es im Anklang an das Werk von der „Schweigespirale“ heißt7, kaum an „Isolationsfurcht“ gelitten und sei deshalb „prädestiniert“ gewesen, „als Avantgardist im Prozess Öffentlicher Meinung zu fungieren“ (S. 142).

Gegen Ende seiner kleinen, insgesamt gelungenen Schrift bietet der Autor noch durch ein Zitat aus der „Kleinen Schule“ eine aktuelle Pointe zur Frage nach dem Umgang mit Staatsgeheimnissen an. So wäre, schrieb Jaspers darin, „eine Gesetzgebung zu wünschen, nach der unter anderem jeder Beamte berechtigt und moralisch verpflichtet ist, verfassungswidrige und gesetzeswidrige Vorkommnisse, die ihm in seinem Bereich zur Kenntnis kommen, nicht nur auf den Dienstweg zu leiten, auf dem sie sekretiert werden und sich verflüchtigen, sondern öffentlich bekannt zu machen“ (S. 141). Mancher Whistleblower und Wikileaks-Fan mag sich angesichts solcher Worte ermutigt sehen, Jaspers demnächst als intellektuellen Kronzeugen in den Zeugenstand zu rufen.

Anmerkungen:
1 Es ist zu hoffen, dass große Teile des Opus-Magnum-Projekts „Medien-Intellektuelle. Intellektuelle Positionen und mediale Netzwerke in der Bundesrepublik (1949–1990)“, das Axel Schildt leider nicht mehr fertigstellen konnte, posthum erscheinen werden; vgl. als Überblick: URL: http://www.zeitgeschichte-hamburg.de/contao/index.php/forschung-perspektiven-der-juengsten-geschichte-1945-1990/items/medien-intellektuelle-intellektuelle-positionen-und-mediale-netzwerke-in-der-bundesrepublik-1949-1990.html (14.01.2020).
2 Vgl. auch Hannah Arendt, Sechs Essays, Schriften der Wandlung 3, Heidelberg 1948; siehe nun zudem, mit detaillierten Erläuterungen und Kommentaren versehen, dies., Sechs Essays. Die verborgene Tradition. Kritische Gesamtausgabe, Band 3, hrsg. von Barbara Hahn, Barbara Breysach und Christian Pischel, Göttingen 2019.
3 Siehe nun Hannah Arendt / Dolf Sternberger, „Ich bin Dir halt ein bißchen zu revolutionär“. Briefwechsel 1946 bis 1975, hrsg. von Udo Bermbach, Berlin 2019.
4 Karl Jaspers, Freiheit und Wiedervereinigung. Über Aufgaben deutscher Politik, München 1960.
5 An solchen Stellen fällt besonders auf, dass die Literaturauswahl einige nicht leicht nachvollziehbare Lücken belässt. Um zwei Beispiele zu nennen: So fehlt jegliche Bezugnahme auf Christina von Hodenbergs „Konsens und Krise“ und bleibt die erste substanzielle wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Geschichte der „Zeit“, wie sie vor einigen Jahren Christian Haase und Axel Schildt vorgelegt haben, unerwähnt: Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945–1973, Göttingen 2006; Christian Haase / Axel Schildt (Hrsg.), DIE ZEIT und die Bonner Republik. Eine meinungsbildende Wochenzeitung zwischen Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung, Göttingen 2008. Auf Jaspers selbst wird in beiden Werken, wenngleich am Rande, Bezug genommen. Solche Ausblendungen verwundern insofern, als es sich bei Jürgen Wilke um einen der besten Kenner der bundesdeutschen Mediengeschichte handelt. Vgl. ders (Hrsg.), Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1999.
6 Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen, Gefahren, Chancen, München 1966.
7 Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann, Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung, unsere soziale Haut, München 1980.

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