D. Caroli: Day Nurseries and Childcare in Europe

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Title
Day Nurseries & Childcare in Europe, 1800–1939.


Author(s)
Caroli, Dorena
Published
Extent
XXVII, 342 S.
Price
€ 117,69
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Mirjam Staub, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Die Hintergründe, die zur Etablierung der ersten Betreuungseinrichtungen für Kleinkinder geführt haben, waren divers. Die Einrichtungen galten als Mittel zur Reduktion der Kindersterblichkeit, sollten verhindern, dass Säuglinge ausgesetzt werden, oder wurden auch aus philanthropischen Motiven gegründet, um den befürchteten Sittenzerfall der ärmeren Bevölkerungsschichten zu stoppen. Trotz diesen verschiedenen Begründungszusammenhängen ist festzustellen, dass sich Betreuungseinrichtungen für Kleinkinder ab Mitte des 19. Jahrhunderts überall in Europa verbreiteten. Dorena Caroli beleuchtet mit ihrer Arbeit die Entstehung und Verbreitung von Kinderbetreuungseinrichtungen, die als Teil des entstehenden „archipelago of several thousands of homes“1, wie dies Jeroen J.H. Dekker 2009 nannte, verstanden werden können. Ihre Monographie lässt sich somit einordnen in eine Reihe von Studien, die sich mit dem Phänomen der gefährdeten Kinder auseinandersetzen und dabei die Entstehung und Ausbreitung verschiedener Einrichtungen zum Schutz und zur Rettung von Kindern ins Zentrum stellen.2 Caroli schafft mit ihrem Werk einen Überblick über die Entstehung und Verbreitung von Kleinkinderbetreuungseinrichtungen in verschiedenen Ländern Europas, dessen Aussagekraft allerdings aufgrund unklarer Vergleichskriterien und einer differenten Verarbeitungstiefe der gewählten Fälle beeinträchtigt wird.

Caroli macht in ihrer international angelegten Studie die Anfänge und die Veränderungen von Betreuungseinrichtungen für Kinder im frühen Kindesalter allerdings nicht nur am Phänomen der verstärkten Wahrnehmung einer vermeintlichen Gefährdung von Kindern fest. Vielmehr sie verbindet diese auch mit der Geschichte des Stillens, der Säuglingspflege und derjenigen der Erziehungs- und Bildungseinrichtungen für Vorschulkinder. Dabei erhebt sie den Anspruch, diese Geschichte unter transnational vergleichender Perspektive zu untersuchen.

Die zwei Teile, entlang derer Caroli ihre Arbeit aufbaut, widerspiegeln die These, welche sie ihrer Untersuchung zu Grunde legt. Die Autorin geht davon aus, dass die erste 1844 in Paris gegründete Kleinkinderbetreuungseinrichtung – die sie gemäß Originalbezeichnung „crèche“ nennt – als Modell Einfluss hatte auf die Gründung und Gestaltung von Betreuungseinrichtungen in verschiedenen anderen Ländern in Europa. Entsprechend behandelt sie im ersten Teil die Entstehungszusammenhänge und Veränderungen der „crèches“ in Frankreich mit dem Ziel, Charakteristiken dieses Modells in Einrichtungen anderer Länder wiederzufinden (S. xviii). Allerdings unterlässt es Caroli, das französische Modell so zu konkretisieren, dass eine eindeutige Vergleichsfolie für die weitere Untersuchung entstünde. In Frankreich habe das Problem der hohen Kindersterblichkeit aufgrund bisheriger unzulänglicher Betreuungslösungen sowie das Engagement verschiedener französischer Mediziner zur Stärkung des Stillens dazu geführt, dass neue Einrichtungen zur Betreuung und medizinischen Versorgung von Säuglingen und Kleinkindern gegründet wurden. Es war mit Firmin Marbeau (1798–1875) allerdings kein Mediziner, sondern ein Anwalt im Staatsdienst und Philanthrop, welcher in Paris 1844 die erste sogenannte „crèche“ eröffnete. Die Verbreitung und die Veränderung der „crèches“ in Frankreich wird entlang von Veränderungen im kontextuellen Umfeld nachgezeichnet. Dazu verwendet Caroli Quellen wie Dekrete und Gesetzesreformen oder wissenschaftliche Publikationen zu neuen Erkenntnissen der Hygiene, der Säuglingspflege oder -ernährung. Deutlich wird dabei, dass um den Zweck und das Ziel der „crèches“ auf verschiedenen Ebenen gerungen wurde. Diskussionen an internationalen Kongressen und in verschiedenen Publikationen zeugen von der Uneinigkeit insbesondere über die Frage, inwiefern es sich bei dieser Einrichtung um ein medizinisches oder ein pädagogisches Projekt handle, wobei Caroli in ihrer weiteren Arbeit hauptsächlich die medizinische Seite der Diskussionen in den Fokus rückt. Den Kontext der Debatten rund um die Lösung der Sozialen Frage, welcher sowohl die Kinderbetreuungseinrichtungen als auch die Kindergärten und Horte für Schulkinder entscheidend beeinflusste, thematisiert sie kaum. Möglicherweise ist dies dem Umstand geschuldet, dass sie weniger spezialisierte internationale Kongresse, wie die Weltausstellung 1900 in Paris, nicht in ihre Untersuchung einbezieht. Dort wurde das französische System der Kinderbetreuungseinrichtungen vor allem im Zusammenhang mit der Lösung der Sozialen Frage diskutiert.3

Das zweite Kapitel im ersten Teil, das den Fall Italien behandelt, hebt sich durch vertiefte Recherchen und detaillierte Ausführungen von den restlichen Kapiteln ab. Auffallend ist, dass in Italien zwar Bezüge zum französischen Modell festgestellt werden können, allerdings finden sich diese lediglich auf der Ebene (medizinischer) Diskussionsforen. Weder in Bezug auf die weiteren Begründungszusammenhänge noch in Bezug auf die zahlenmäßige Verbreitung der Kinderbetreuungseinrichtungen ist die Geschichte in Italien mit derjenigen in Frankreich vergleichbar, Caroli erzählt erstere dennoch sehr ausführlich, was in Bezug auf die Untersuchung ihrer These jedoch wenig zielführend erscheint. Erst zwischen 1890 und dem ersten Weltkrieg entstanden mehr „presepi“ in Italien, was Caroli mit einem veränderten politischen Kontext erklärt. Das sogenannte Crispi Gesetz von 1890 stellte Wohlfahrtseinrichtungen unter staatliche Kontrolle und Aufsicht. Gleichzeitig kam mit „nipiologia“ eine neue Disziplin auf, die sich im Gegensatz zur französischen „puériculture“ und der deutschen Pädiatrie nicht nur auf die Säuglings- und Kleinkinderpflege bezog, sondern die Forschungsperspektiven weiter öffnete und etwa auch den Mutterschutz auf gesetzlicher Ebene umfasste. Gerade durch diese Offenheit des Fokus sei „nipologia“ in den 1920er-Jahren allerdings zunehmend von der faschistischen Staatsorganisation ONMI (Nationale Organisation zum Schutz von Mutterschaft und Kindheit) unterwandert worden (S. 118). Das Gebiet der Kinderbetreuungseinrichtungen, der Mutterschutz und das Stillen wurden mit der politischen Strategie zur Reinhaltung der eigenen „Rasse“ verbunden.

Im zweiten Teil behandelt Caroli die Situation in England, Deutschland (bzw. Preussen) und Russland. Allerdings lässt Caroli den/die Leser/in im Dunkeln darüber, wie sich die Auswahl dieser Länder begründen lässt. Die Beschreibung dieser Länder als „characterised by very different religious and cultural traditions“ (S. xxi), scheint für eine Begründung ihrer Auswahl wenig fruchtbar, zumal sie diese verschiedenen Traditionen nur teilweise in die Analyse der Entstehungszusammenhänge von Betreuungseinrichtungen einfließen lässt. Den Fall England baut sie als Spezialfall im Vergleich zu den anderen Ländern auf, was nicht nur aufgrund der wohlfahrtsstaatlichen Ausgangslage Sinn macht, sondern auch wegen der stärkeren pädagogischen Ausrichtung der Krippen mittels Ansätzen der Sinnesbildung, die zur Förderung und Aktivierung bereits der kleinsten Kinder angewendet wurden. Für Deutschland und Russland zeigt sie zwar ebenfalls Besonderheiten auf, die Analyse der Entwicklungen fallen hierzu jedoch weniger vertieft und thematisch nur teilweise anschlussfähig zur restlichen Untersuchung aus, da Caroli den Fokus auf neue Narrative legt, wie die Vereinnahmung der Betreuungseinrichtungen durch den Nationalsozialismus in Deutschland oder die Mütter im Gulagsystem der Sowjetunion. Es sind dies zwei unbestritten wichtige und untersuchungswerte Themen, die allerdings vertiefterer Analysen bedürften, wie Caroli in ihrem Fazit selber feststellt.

Mit der Entscheidung, die Geschichte der Betreuungseinrichtungen für Kleinkinder entlang struktureller, organisatorischer Linien und mit Fokus auf meist männliche Mediziner zu untersuchen, nimmt Caroli in Kauf, dass weibliche Akteurinnen kaum zur Sprache kommen. Weder untersucht sie die Rolle der Frauen, welche hauptsächlich die Kinderbetreuungseinrichtungen geleitet und entsprechend geprägt, sich dadurch ein neues Tätigkeitsfeld gesichert haben und ebenso neue Ausbildungsmöglichkeiten für Frauen geschaffen haben, noch fragt sie nach der Rolle der adressierten Mütter, welche ihre Kinder in diese Einrichtungen brachten oder dies gerade nicht taten. Mit einem Fokus auf die Rolle von Frauen hätte sie den historischen Akteur/innen genauso gerechter werden können, wie wenn sie die Untersuchung weniger als Fortschrittsgeschichte geschrieben hätte, in der Mütter immer mehr profitiert hätten (S. 36). Ein etwas kritischerer Umgang mit historischen Quellen und eine konsequente Quellenüberprüfung ad fontes hätten zudem zu einem differenzierteren Verständnis geführt, welches Widersprüchlichkeiten, differierende Begründungszusammenhänge und nicht medizinische Kontexte hätte sichtbar machen können. Mit ihrer Untersuchung setzt Caroli dennoch einen wichtigen Anfangsstein für eine weiterzuführende transnational vergleichende Geschichte der Kinderbetreuungseinrichtungen, was als Forschungsdesiderat nicht nur mit Fokus auf Europa unterstützt werden kann. Zu deren Ausführung wäre allerdings zunächst eine Schärfung der Vergleichskriterien vonnöten.

Anmerkungen:
1 Jeroen J.H. Dekker, Children at risk in history. A story of expansion, in: Paedagogica Historica, 45 (2009), S. 17–36, hier S. 23.
2 Mirjam Staub, Institutionalisierung der Betreuung und Erziehung von Schulkindern. Die Anfänge der Horte für Schulkinder in der deutschsprachigen Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert, Zürich 2020 (im Druck); Michelle Schärer / Eléonore Zottos, À petits pas… Historie des Crèches à Genève 1874–1990, Lausanne 2014; Markus Furrer u.a. (Hrsg.), Fürsorge und Zwang. Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz 1850–1980, Basel 2014; Jeroen J.H. Dekker, The will to change the child. Re-education homes for children at risk in nineteenth century Western Europe, Frankfurt am Main 2001.
3 Friedrich Zollinger, Weltausstellung in Paris 1900. Bestrebungen auf dem Gebiete der Schulgesundheitspflege und des Kinderschutzes. Bericht an den hohen Bundesrat der schweiz. Eidgenossenschaft, Zürich 1901, hier S. 263f.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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