Cover
Titel
IBM. The Rise and Fall and Reinvention of a Global Icon


Autor(en)
Cortada, James W.
Reihe
History of Computing
Erschienen
Cambridge, MA 2019: The MIT Press
Anzahl Seiten
752 S.
Preis
$ 45.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Homberg, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

James W. Cortada zählt seit vielen Jahren zu den renommiertesten Historikern der Computergeschichte. Als ehemaliger Angestellter der International Business Machines Corporation (IBM), der bis 2012 über 38 Jahre lang in verschiedenen leitenden Positionen im Bereich Vertrieb, Beratung und Management arbeitete, hat er in vielen Publikationen Computergeschichte immer wieder auch und vor allem als die Geschichte „seines“ Unternehmens geschrieben (S. 619–621).1 Dabei zählt der US-amerikanische Historiker zum kleinen Kreis der Forscher, denen das IBM-Archiv schon einmal seine Tore zur Recherche öffnete. Die Arbeiten an seinem neuesten, monumentalen Buch, einer Firmengeschichte der IBM, begann James Cortada nach seiner Pensionierung, was zwei praktische Konsequenzen hatte: So benötigte er, erstens, keine Genehmigung zur Publikation seiner Ergebnisse mehr, verlor aber, zweitens, auch seinen exklusiven Zugang zum Archiv des Konzerns. Seine Überlegungen sind daher vor allem das Ergebnis exzessiven Quellenstudiums in den US National Archives, in der New York Public Library und im Charles Babbage Institute; zugleich zählen gedruckte Quellen wie auch Oral-History-Interviews mit zentralen Protagonisten der Konzerngeschichte, wie Thomas Watson Jr. oder Frank Cary, zum Korpus der Studie. Cortadas Monographie kann als Zusammenschau seiner Forschungen gesehen werden, doch weist sie zugleich an vielen Stellen über eine Synopse bisheriger Ergebnisse hinaus. Anders als in vielen seiner Publikationen zur US-amerikanischen Computerindustrie geht es Cortada darum, die Geschichte IBMs als „globale Marke“ und so die Bedeutung des Konzerns über die USA hinaus zu beleuchten – ein lohnendes Vorhaben, zumal IBM sicher zu den wirkmächtigsten und zugleich kontroversesten multinationalen Konzernen des 20. Jahrhunderts zählte und in den 1990er-Jahren in über 150 Ländern vertreten war (S. 440, S. 508).

In vier chronologisch geordneten Blöcken, bestehend aus insgesamt 20 Kapiteln, schildert der Autor IBMs Weg zur Weltmarke entlang der wichtigsten Wegmarken der schillernden Firmengeschichte, die Computerhistoriker Jeffrey R. Yost anlässlich des einhundertsten Jubiläums vor einigen Jahren doppelsinnig als „IBM Century“ beschrieb.2 Das Buch ist sehr klar gegliedert; die Abschnitte lassen sich auch einzeln lesen, wobei Cortadas Deutungen in der Regel vor allem in den Schlussabschnitten der Kapitel zum Vorschein kommen. Ein detaillierter bibliographischer Essay und ein Index runden die Studie ab.

Das Buch tritt an, die Geschichte des Konzerns „von seinen Ursprüngen bis zur Gegenwart“ zu erzählen und dazu sowohl die Geschichte einzelner Akteure, Ideen und Produkte, des Managements und der Herstellung wie auch des Marketings und der Logistik des globalen Vertriebs aus unternehmenshistorischer Perspektive zu untersuchen. Zugleich soll neben der Perspektive des Konzerns auch diejenige der Kunden vorkommen, die das Personal, Know-how und die Waren der Firma über die Dekaden akquirierten. Dabei ist die Konzerngeschichte der IBM, so Cortada, keineswegs eine ungebrochene Erfolgsgeschichte, sondern vielmehr eine Geschichte voller Spannungen, Rückschläge und Widerstände: „This is a tale of constant stress and tension. [...] [IBM] faced competitors, changing technologies, government lawsuits, national economic policies, wars, and those hostile to ‚big business.‘“ (S. xv). So war IBM, wie Cortada ausführt, ein ikonisches Beispiel der sich in den USA und Westeuropa nach 1945 herausbildenden globalen Konzerne, „developed and evolved with a heavy American stamp, but [...] also international“ (S. xvi).

Minutiös rekonstruiert der Autor die Wendepunkte der Firmenhistorie, die Geburtsphase des Lochkartenbusiness in den 1880er-Jahren und die Gründung des Konzerns kurz vor dem Ersten Weltkrieg wie auch dessen Wachstum bis 1945 (Kapitel I), den Übergang vom Lochkarten- zum Computerkonzern und die Globalisierung IBMs zwischen 1945 und 1985 (Kapitel II), die Krisen der 1980er- und 1990er-Jahre und die Jahre des Personal Computer-Fiaskos (Kapitel III) sowie die Neuausrichtung der Konzernstrategie an der Schwelle des 21. Jahrhunderts und die Umstellung auf den boomenden Bereich der IT-Services in Form von Beratungs- und Programmierdienstleistungen (Kapitel IV).

Cortada gelingt es, die vieluntersuchte Geschichte des Konzerns3 neu zu akzentuieren und einen eigenen Blick zu entwickeln, wenn er im Kapitel zur Genealogie der Gründerväter die moderne, in seinen Worten „magische“ Konstellation (S. 5f.) der Gründung der IBM herausstellt, die den Unternehmer und Börsenmakler Charles R. Flint, den „Erfinder“ der Lochkarten Hermann Hollerith und den Manager Thomas J. Watson Sr. zusammenbrachte. Unter Watson entwickelte sich eine Konzernphilosophie zentralisierter Administration und eines „command-and-control“ Managements (S. 458) sowie eine Kultur globaler Kommunikation (THINK), die das IBM-Ökosystem auch in der Folge prägte und sowohl ein wichtiger Schlüssel des von Cortada beschriebenen „Siegeszugs“ des Konzerns bis in die 1970er-Jahre als auch seines „Niedergangs“ in den 1980er- und 1990er-Jahren wurde (S. 70-73). Überzeugend schildert der Autor zudem, wie der Konzern bereits in den 1930er-Jahren zu einem wirklichen „Global Player“ wurde. Umsatz und Zahl der Mitarbeiter steigerten sich – auch in der Phase der „großen Depression“ – kontinuierlich und so reichten bis 1938 die Filialen von Japan über China quer durch Europa bis nach Jugoslawien und von Indien über Südafrika nach Brasilien (S. 110–117).

Die „Teilung“ des IBM-Imperiums nach 1945 unter Watsons Söhnen – Thomas J. Watson Jr., der mit den US-Geschäften betraut war, und Arthur K. Watson, der die neu gegründete IBM World Trade Corporation führte – war alsdann, wie Cortada zeigt, von Kompetenzrangeleien, Richtungs- und Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Konzerns begleitet, die die Geschichte IBMs vor allem in den 1950er- und 1960er-Jahren prägten (S. 194–197). Dennoch baute die Firma ihre globale Präsenz weiter aus und musste sich so als „Monopolist“ sowohl gegen Kartellklagen in den USA als auch – als Symbol des US-amerikanischen „Imperialismus“ – gegen eine sich formierende Phalanx nationalistischer Kritiker und deren protektionistische Bestrebungen im Ausland erwehren (S. 325–353). Dabei durchkreuzte IBM immer wieder auch den Eisernen Vorhang, wenngleich Exporte in die UdSSR in der Ära des Kalten Krieges zusehends schwieriger wurden und Hochtechnologieembargos dem Expansionskurs enge Grenzen setzten (vgl. das Kapitel zu „communist computers“, S. 353–378). Ab den ausgehenden 1970er-Jahren zeichnete sich dann eine rasch wachsende globale Konkurrenz im PC- und IT-Service-Bereich ab (S. 298–302, S. 379–438, S. 471–500, S. 601–617).

Cortadas Buch hat da starke Passagen, wo es dem Autor gelingt, die Konzernperspektive zu verlassen und in kritischer Distanz über die Geschichte des globalen Computermarkts und die Rolle IBMs in dieser Branche zu berichten; gelungene Kapitel thematisieren so die Veränderung der Unternehmenskultur und die Selbst- und Fremdbilder des Konzerns (S. 233–282, S. 445f.) wie auch die wegweisende Rolle des Konzerns im Prozess des Wandels von Managementstilen (S. 465f.). Passagenweise gilt diese auch für den Abriss der globalen Wirkungsgeschichte des Konzerns, „IBM on the Global Stage“ – wenngleich dieser relativ knapp ausfällt (S. 283–325). Dagegen ist die Erzählung da schwach, wo die Nähe des Autors zum Gegenstand der Untersuchung unverkennbar das Narrativ dominiert, etwa wenn Cortada darüber sinniert, ob die Computerserie IBM/360 „One of the Greatest Products in History?“ gewesen sei (S. 203–232). Auch zeigen sich Schwächen, wenn der Autor in die Erzählung einer von den sozialen Verwendungskontexten der Technik abgekoppelten Geschichte von „Innovationen“ und „Pionieren“ verfällt, die zwar keine hagiographischen Tendenzen verrät, aber doch vor allem die Ebene der hochrangigen Führungskräfte und Entscheidungsträger in den Blick rückt; hier bleibt seine Erzählung hinter dem inzwischen erreichten state of the art einer Gesellschaftsgeschichte der Computerisierung als einer „People’s History of Computing“4 und dem Anspruch, die Nutzerperspektive stärker zu berücksichtigen, zurück. Überdies zeigen sich die Probleme eines Buchs, das aus der Perspektive eines (ehemaligen) Teils der IBM-Familie geschrieben ist, „who personally embraced IBM‘s optimistic corporate culture, privileged to be one of those iconic DPD [Data Processing Division] salesmen“ (S. 620). Die Emphase, mit der zum Beispiel die „meritokratische“ Ordnung des Konzerns (S. 588–590, S. 250–253) und die Förderung einer Kultur der „Diversity“ unter der Ägide von Watson Jr. beschworen werden, verdeckt, dass Frauen auch bei IBM lange Jahre vor allem im Bereich der Datenverarbeitung und kaum im Bereich des Managements zum Einsatz kamen, und dass gerade Letzteres zudem auch über die 1950er-Jahre hinaus überwiegend eine Domäne weißer, protestantischer Männer nord- und westeuropäischer Abstammung blieb. Auch wird die Beteiligung des Konzerns an Rüstungsvorhaben – wie dem computergestützten Verteidigungssystem SAGE – allzu positiv beschrieben, ohne die kostspieligen Rückschläge der Systementwicklung zu problematisieren (S. 167–175). Und schließlich kommen die engen Verbindungen des Konzerns zur US-Regierung, die IBM durch Rahmenabkommen zwischen den 1930er- und 1960er-Jahren immer wieder stützte, aber auch die Rolle der Arbeitnehmervertretungen im privaten Sektor eher kursorisch zur Sprache. Hier wäre eine genauere Analyse durchaus erhellend gewesen, zumal die Anschlüsse an die allgemeine Geschichte in aller Regel eher kurz und auch die Einordnung in die historischen Kontexte der Erzählung bisweilen ziemlich dünn geraten, wenn der Autor beispielsweise mit spärlichen Pinselstrichen das Panorama der „großen Depression“ zeichnet (S. 91–93).

Das größte Manko der Studie liegt derweil in ihrer – über weite Strecken – US-zentrierten Perspektive, die parallele wie gegensätzliche Entwicklungen in anderen (Welt-)Regionen nur marginal berücksichtigt; das mag auch daran liegen, dass Cortadas Quellenbasis zu vielen Regionen, in denen IBM – wie in Indien – zum Teil bereits ab den 1930er-Jahren aktiv war, ausgesprochen dünn ist. Die Chancen und (Anpassungs-)Probleme des Konzerns in diesen Regionen kommen so kaum zur Sprache. Der Rückzugs des Konzerns 1978 aus Indien etwa, der vor dem Hintergrund des sich zuspitzenden Nord-Süd-Gegensatzes und der Kritik am Medien- und Kulturimperialismus der USA dieser Jahre zu lesen wäre, wird im Rahmen eines rund 3 ½ Seiten zählenden Kapitels lediglich angedeutet; auch andere Auseinandersetzungen um die Rolle des Konzerns in Lateinamerika, Afrika oder Europa bleiben blass, etwa wenn Cortada dem Handel mit dem südafrikanischen Apartheidsregime, in das Firmen wie IBM (oder auch der britische Computerkonzern ICL) zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren das technische Inventar zur Registrierung und Überwachung der lokalen Bevölkerung exportierten5, nur wenige Zeilen widmet (S. 321). So verschenkt der Autor die Chance, ausgehend vom Fall IBMs systematische Überlegungen zur ambivalenten Rolle multinationaler Konzerne im globalen Süden anzustellen, deren Image auch und gerade durch die Nähe zu repressiven Regimen zusehends Kratzer bekam. Zugleich „absorbiert“ die IBM-Perspektive den Blick auf die Geschichte anderer Konzerne im globalen Süden, die sich – wie Coca Cola – vergleichbaren Auseinandersetzungen gegenüber sahen.6 Indem Cortada indes auch weiter von der These einer „Diffusion“ des – „westlichen“ – Fortschritts auszugehen scheint, wie er sie schon andernorts vertreten hat7, verpasst er es zuletzt, die regionalen Dynamiken der globalen Konzernentwicklung durch eine stärker komparatistische Anlage des Buches bzw. eine Berücksichtigung der Entanglements zwischen den Regionen abzubilden.

Abseits dieser Kritikpunkte gebührt James W. Cortada allerdings das nicht geringe Verdienst, die über 100 Jahre zählende Geschichte des Konzerns hin zu einer „globalen Marke“ rekonstruiert und aus der Fülle an bestehenden Forschungen (vgl. dazu den bibliographischen Essay am Ende des Buches, S. 677–686) in eine konzise, in weiten Teilen spannend lesbare Erzählung gegossen zu haben, die im Detail viel Neues zu Tage fördert und vor allem durch die Erläuterungen aus der Innenperspektive der Firmenpraxis zu überzeugen weiß. Mit seinem Buch ist dem Autor ein Standardwerk gelungen, an dem sich kommende Arbeiten messen lassen müssen.

Anmerkungen:
1 James W. Cortada, Before the Computer: IBM, NCR, Burroughs, and Remington Rand and the Industry they created 1865–1956, New Haven 1993; ders., The Digital Hand, New York 2003; ders., All the Facts: A History of Information in the United States since 1870, New York 2016; ders., Change and Continuity at IBM. Key Themes in Histories of IBM, in: Business History Review 92 (2018), 1, S. 117–148, sowie (selbst-)kritisch: Studying IBM's History When You Are Part of It, in: IEEE Annals in the History of Computing 40 (2018), 4, S. 64–68.
2 Jeffrey R. Yost, The IBM Century. Creating the IT Revolution, Piscataway, NJ 2011. Vgl. dazu auch Alfred D. Chandler Jr., Inventing the Electronic Century: The Epic Story of the Consumer Electronics and Computer Industries, Cambridge, MA 2005.
3 Saul Engelbourg, International Business Machines. A Business History, New York [1954] 1976; Robert Sobel, IBM. Colossus in Transition, New York 1981; Franklin M. Fisher u.a., IBM and the US Data Processing Industry, New York 1983; Emerson W. Pugh, Building IBM. Shaping an Industry and Its Technology, Cambridge, MA 1995.
4 Joy Lisi Rankin, A People’s History of Computing in the United States, Cambridge, MA 2018; Jürgen Danyel / Annette Schuhmann, Wege in die digitale Moderne. Computerisierung als gesellschaftlicher Wandel, in: Frank Bösch (Hrsg.), Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970–2000, Göttingen 2015, S. 283–320. Zu dieser Forderung vgl. zudem bereits programmatisch: Nathan Ensmenger, Power to the People. Toward a Social History of Computing, in: IEEE Annals of the History of Computing 26 (2004),1 , S. 94–96.
5 Zur Kritik vgl. exemplarisch Gert Slob, Computerizing Apartheid, Amsterdam 1990. Aus historischer Perspektive vgl. zudem: Keith Breckenridge, The Biometric State. The Global Politics of Identification and Surveillance in South Africa, 1850 to the Present, Cambridge 2014; Paul N. Edwards / Gabrielle Hecht, History and the Technopolitics of Identity. The Case of Apartheid South Africa, in: Journal of Southern African Studies 36 (2010), 3, S. 619–640.
6 Vgl. dazu kürzlich: Amanda Ciafone, Counter-Cola. A Multinational History of the Global Corporation, Oakland 2019.
7 James W. Cortada, The Digital Flood. The Diffusion of Information Technology Across the U.S., Europe and Asia, New York 2012, S. 42.

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