Am 14. Februar 1966 verurteilte das Oberste Gericht der Russländischen Sowjetrepublik die beiden Schriftsteller Julij Daniėl’ und Andrej Sinjavskij zu fünf und sieben Jahren Haft wegen „antisowjetischer Agitation und Propaganda“. Sie hatten unter Pseudonymen unerlaubt im westlichen Ausland literarische Erzählungen veröffentlicht, die nach Auffassung des Gerichts die Sowjetunion und ihre Gesellschaftsordnung verunglimpften. Die Unterstützungskampagne für die Angeklagten in diesem – auch international – Aufsehen erregenden Moskauer Prozess gilt in der Forschungsliteratur zur sowjetischen Dissidenz als Initialzündung für die Formierung der Bürger- und Menschenrechtsbewegung.
Welches Schicksal Daniėl’ und Sinjavskij nach ihrer Verurteilung erwartete, davon hatten weder sie selbst noch ihr Unterstützerkreis genauere Vorstellungen. Straflager für politische Gefangene gehörten für die „Tauwetter“-Generation zu den Erinnerungen an die Stalin-Zeit, nicht aber in die 1960er-Jahre. Zu ihrer eigenen Überraschung fanden sich Daniėl’ und Sinjavskij nach ihrem Transport ins Lager nicht von Dieben, Mördern oder anderen gewöhnlichen Kriminellen umgeben, sondern fast ausschließlich von „Staatsverbrechern“. Nach dem Strafgesetzbuch der RSFSR waren dies Verurteilte wegen Hochverrats, wegen sogenannter konterrevolutionärer Verbrechen, der Gründung antisowjetischer Organisationen, später auch der „Verleumdung des sowjetischen politischen und gesellschaftlichen Systems“.
Wie das Beispiel Julij Daniėl’s und Andrej Sinjavskijs verdeutlicht, waren für sie und ihre Zeitgenossen post-stalinistische Lager für politische Gefangene weitgehend unbekanntes Terrain. Das Gleiche gilt heute für die historische Forschung. Manuela Putz legt mit ihrer – an der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen entstandenen – Dissertation eine erste umfassende Untersuchung des „Politlagers“ als Kultur- und Kommunikationsraum vor.
Im Zentrum ihrer Arbeit stehen der Lagerkomplex ŽCh-385 in der autonomen Republik Mordvinien – nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 zunächst der einzige verbleibende Ort des Strafvollzugs für politische Häftlinge –, zudem der 1972 im Permer Gebiet geschaffene Lagerkomplex VS-389. Ferner dienten die Gefängnisse von Čistopol’ und Vladimir der Internierung politischer Gefangener.
Manuela Putz‘ Studie umfasst verschiedene Untersuchungsebenen: die Lagerkultur und das Alltagsleben der Insassen, das persönliche Umfeld der Häftlinge, die Kommunikationsräume zwischen „drinnen“ und „draußen“, die entstehenden dissidentischen Netzwerke, die sich um Lagerfreundschaften und Lagerbesuche entspannen. Wichtige Aspekte sind außerdem die grenzüberschreitenden Verbindungen sowjetischer Oppositioneller mit dem westlichen Ausland, etwa durch Kontakte zu Medien oder Menschenrechtsorganisationen. Durch diese Kontakte konnten sich sowjetische Andersdenkende in einen globalen Menschenrechtsdiskurs einschreiben und diesen mitprägen – mit Lager-Narrativen als zentralem Element. Schließlich verweisen ausführlich dargestellte Regularien, Strafregime und Praktiken des Strafvollzugs auf die Ebene der Staatsmacht sowie ihre Haltung gegenüber Dissidentinnen und Dissidenten. Sprachlich prägnant, in „dichter Beschreibung“ verwebt Manuela Putz die verschiedenen Ebenen miteinander, zeigt Wechselbeziehungen und gegenseitige Beeinflussungen auf. Überzeugend arbeitet sie heraus, in welch hohem Maß Hafterlebnis und Haftverarbeitung die Selbstwahrnehmung und das politische Handeln sowjetischer Oppositioneller seit der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre prägten.
Ein besonderes Verdienst der Historikerin liegt darin, ihren Untersuchungszeitraum nicht erst mit der Protestbewegung im Zuge des Falls Daniėl’ und Sinjavskij anzusetzen, sondern zunächst die in der Dissidenzforschung wenig beachteten Jahre 1956 bis 1965 in den Blick zu nehmen. Zwar markierte der XX. Parteitag einen offiziellen Bruch mit dem Stalinismus, kurz darauf traten aber die engen Grenzen der Liberalisierung offen zutage, als sowjetische Truppen im November 1956 den Aufstand in Ungarn blutig niederschlugen und eine Verhaftungswelle in der Sowjetunion allein in den Jahren 1957 und 1958 über 3.000 Menschen erfasste. Diese Inhaftierten der „Tauwetter-Intelligenzija“ nahmen nach Putz eine Scharnierstelle zwischen der Lagerkultur in der Stalinzeit und der Hafterfahrung Andersdenkender seit der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre ein.
Bereits in den späten 1950er-Jahren entstanden innerhalb des sowjetischen Strafvollzugssystem Praktiken der Rechtsverteidigung, die im Protest gegen die Verhaftung Julij Daniėl’s und Andrej Sinjavskijs erstmals auch außerhalb der Lager zur Geltung kamen: Unter dem Einfluss des Mathematikers Aleksandr Esenin-Vol’pin, der als ehemaliger Strafgefangener „im kulturellen Zeichensystem politischer Haft verankert war“ (S. 136), beriefen sich Oppositionelle von nun an auf geltendes Recht, beispielsweise auf die von der sowjetischen Verfassung garantierten, in der Praxis aber nicht gewährten (staats-)bürgerlichen Rechte und Freiheiten oder die Einhaltung der Strafprozessordnung. Anders als Häftlinge nachfolgender Generationen hatten Gefangene aus den Reihen der „Tauwetter-Intelligenzija“ in den späten 1950er- und frühen 1960er-Jahren jedoch keine Resonanzräume für ihre Erfahrungen. Diese boten sich erst, nachdem durch Samizdat1 und Tamizdat2 eine inoffizielle Öffentlichkeit geschaffen worden war und sich über die Grenzen des Eisernen Vorhangs hinweg Kommunikationskanäle etabliert hatten, die das Schicksal politischer Häftlinge auch im Westen bekannt machten.
Putz zeigt, wie maßgeblich prägend für die entstehende Bürger- und Menschenrechtsbewegung das Konzept des „Politgefangenen“ war. Es lässt sich seit Ende der 1960er-Jahre unter inhaftierten Intellektuellen im Mordvinischen Lagerkomplex ŽCh-385 nachweisen. In ihrer Auseinandersetzung mit der Lageradministration entwickelten sie ein Set von „Verhaltens- und Gefühlsnormen“ (S. 188), das sich über Angehörige und Unterstützerkreise in der Menschenrechtsszene verbreitete und zur Richtschnur politischen Handelns wurde. Hatten Intellektuelle Mitte der 1960er-Jahren noch durch Briefe, Eingaben und Petitionen oder als Angeklagte vor Gericht den Dialog mit der Staatsmacht gesucht, so verstieß spätestens seit den frühen 1970er-Jahren jegliche Kooperation mit Vertretern staatlicher Behörden gegen die dem Ehrenkodex von Lagerhäftlingen entlehnten ungeschriebenen Regeln der Protestkultur.
Die Autorin zeichnet nach, wie die sowjetische Regierung im Zuge der sich verhärtenden Auseinandersetzungen mit Andersdenkenden ab Anfang der 1970er-Jahre den Strafvollzug verschärfte. Sie erließ neue Leitlinien und errichtete 1972 den Lagerkomplex VS-389 im Permer Gebiet als weiteren Haftort für „besonders gefährliche Staatsverbrecher“. Die sich radikalisierenden Konflikte zwischen Lagerverwaltung und Häftlingen wurden zunehmend über den Körper der Gefangenen ausgetragen, seitens der Häftlinge durch Arbeitsverweigerung und Hungerstreiks, seitens des Lagerpersonals durch Disziplinierungsmaßen wie Isolationshaft oder, im Falle eines Hungerstreiks, mit brutaler Gewalt erzwungene künstliche Ernährung.
Die multiperspektivische detaillierte Rekonstruktion verschiedener Wirkungszusammenhänge rund um den Themenkomplex der politischen Haft zwischen „Tauwetter“ und Perestroika gelingt Manuela Putz dank eines beeindruckenden Quellenkorpus: Die Autorin führte über 30 Interviews mit ehemaligen Gefangenen, teilweise auch mit deren Ehefrauen und Kindern. Hinzu kommen Samizdat-Sammlungen, archivierte Interviews, veröffentlichte Erinnerungen und mehrere Dutzend Nachlässe. Neben Ego-Dokumenten und inoffiziellem Schrifttum zieht Putz auch Quellen aus staatlichen Archiven heran, etwa aus Beständen der Justizbehörden und – vereinzelt – der Lageradministration.
Faszinierend sind die von Manuela Putz ausgewerteten Quellen auch deshalb, weil sie aus unterschiedlichen Zeitabschnitten stammen: In der Haft verfasste Tagebücher, Notizen, Briefe oder Kassiber spiegeln eine andere Be- und Verarbeitungsebene der Hafterfahrung wider als Erinnerungstexte, die nach der Entlassung – und teilweise Emigration ins westliche Ausland – verfasst wurden. Im Oral-History-Interview bewerten – bisweilen dieselben – Menschen ihre Jahrzehnte zurückliegenden Erlebnisse im Lichte der heutigen Zeit und ihrer aktuellen Lebenssituation anders. Zwar ließen Inhaftierung und politischer Kampf um die Rechte „Politgefangener“ Aktivisten der Dissidenz zu Ikonen des Widerstands aufsteigen. Auf lange Sicht fanden sie aber keinen inneren Frieden mit ihrer Hafterfahrung, auch Jahrzehnte nach der Entlassung gab es „kein Entkommen“ (S. 273). Bewältigungsversuche zeigen sich beispielsweise in Form von – bisweilen obsessiver – Schreib- und Dokumentationstätigkeit oder dem Bemühen um Gedenkorte. Mit großer Sensibilität analysiert die Autorin Lagererinnerungen als Trauma-Erzählungen, lotet den „Raum des Sagbaren aus“, der dominiert wird vom Mythos des Lagers als Ort tapferer Helden und wahrer Freiheit. In diesem Narrativ finden sich Erlebnisse von Ohnmacht, Gewalt, Erniedrigung und Todesangst nur in Andeutungen.
So konkret, anschaulich und farbig Manuela Putz Haftbedingungen, Lageralltag, grenzübergreifende Netzwerke, dissidentische Lebenswelten und die sich darin bewegenden Individuen beschreibt, so unscharf bleiben bisweilen ihre methodischen Konzepte. Dieser einzige Kritikpunkt an der sonst glänzenden Studie bezieht sich beispielsweise auf den zentralen Begriff der „Subjektkonstituierung“, der sich als roter Faden durch die Darstellung zieht. Aus der Einleitung und dem Argumentationsgang wird ersichtlich, dass Putz historische Subjekte und ihre Handlungen in einem Referenzrahmen sozialer Praktiken und Diskurse betrachtet. Unklar bleibt aber, welchen Subjektbegriff die Autorin ihren Betrachtungen zugrunde legt und auf welche theoretischen Konzepte der Subjektkonstitution sie sich stützt. Den in der Haft entstandenen „Gefühlsnormen“, „Gefühlsregimen“ und „emotionalen Gemeinschaften“ misst Manuela Putz eine enorme Wirkungsmacht bei, die weit über den begrenzten Raum des Straflagers hinausgegangen sei. Wie genau solche „Gefühlsnormen“ oder „Gefühlsregime“ aussahen, welche Emotionen sie erzeugten oder welche sie ansprachen, bleibt in der Darstellung ebenfalls etwas konturlos.
Abgesehen von diesen Einschränkungen ist die Lektüre des Buches überaus gewinnbringend, nicht nur für die Forschung zur sowjetischen Dissidenz, sondern allgemein zur Geschichte der Sowjetunion nach Stalins Tod.
Anmerkungen:
1Samizdat bezeichnet im Selbstverlag herausgegebenes nicht zensiertes Schrifttum.
2Tamizdat bedeutet wörtlich „Dortverlag“. Der Ausdruck bezeichnet im Westen gedruckte Schriften, die illegal in die Sowjetunion gebracht und dort verbreitet wurden.