Es ist ein Allgemeinplatz, daß konservatives Denken stetem Wandel unterworfen ist. Der Konservative reagiert auf die Herausforderungen der Moderne und versucht den Fortschritt zu “entschleunigen”. Seitdem sich “Erfahrungsraum” und “Erwartungshorizont” für den neuzeitlichen Menschen auseinandergetreten sind, ist es schwierig geworden, am Überkommenen festzuhalten. Politisch bedeutete das für den Konservativen, daß er sich sukzessive vom Ständestaat, vom bürokratisch-absolutistischen Staat (den er vehement bekämpfte) und von der konstitutionellen Monarchie (die er anfangs ebenfalls bekämpfte) verabschieden mußte. Ohne Kompromisse zu schließen und Inhalte seiner ideologischen Gegner zu adaptieren, wäre der Konservatismus lange obsolet geworden. Weil den Konservatismus eine fehlende Festsetzung absoluter Werte von seinen definitorischen Gegnern unterscheidet, müssen konservative Theorien stets im unmittelbaren Bezug auf ideologische Herausforderungen verstanden werden, die den Konservativen seinerseits dazu zwingen, die emanzipatorische Linke mit den Waffen der Moderne zu bekämpfen – politisch, organisatorisch, intellektuell.
Je schneller sich der Zeitgeist wandelt, um so größer die Herausforderung für konservative “Bremser”. Die leidenschaftliche Gegnerschaft zum Liberalismus hat im Kaiserreich und in der Weimarer Republik die Entstehung eines deutschen “Normalkonservatismus”, der liberaldemokratische Grundregeln des Parlamentarismus akzeptiert hätte, verhindert. Erst in der Bundesrepublik ist es gelungen, dem angelsächsischen Vorbild nachzueifern. Im Rückblick wird klar, daß der deutsche Konservatismus von seinen Mythen, Irrationalismen und metaphysichen Übersteigerungen befreit werden mußte, um überhaupt “politikfähig” zu werden. Die “deutsche Katastrophe” besorgte dies gründlich. Doch welche Ideen waren für den “Eigenweg” der politischen Rechten im Deutschland des “vergangenen Reiches” (Hildebrand) verantwortlich?
“Ordnungen der Ungleichheit” nennt der Hamburger Soziologe Stefan Breuer seine kenntnisreiche Untersuchung über die Weltbilder innerhalb der politischen Rechten vom Kaiserreich bis ins “Dritte Reich”. Die Kategorie eines auf Ungleichheit hinauslaufenden Stufendenkens überzeugt grundsätzlich und war in der Tat der gemeinsame Nenner verschiedener rechter Ideen. Von diesem Ausgangspunkt lassen sich in Breuers Worten “höchst unterschiedliche Ordnungen generieren, so daß die Intention, Ordnung durch Ungleichheit zu stiften, durch den Pluralismus der Ordnungsvorstellungen konterkariert wird” (13): Ob man innenpolitisch ständestaatliche Modelle favorisierte, ob man für eine aggressive imperialistische Weltpolitik eintrat, die auf “Beziehungen der Ungleichheit zwischen Staaten” zielte (147), oder ob es um die Geschlechterbeziehung ging – immer wandten sich hierarchische Ordnungsmodelle radikal gegen liberaldemokratische Forderungen nach individueller Freiheit, Gleichheit und politischer Partizipation. Die rechten Konzepte der Ungleichheit präpariert Breuer aus einem beeidruckend umfassenden Fundus an Quellen heraus.
Dabei steht ein Ensemble von Rechtsintellektuellen im Vordergrund, nicht die konservativen Machteliten in Politik und Wirtschaft. Hier geht es weniger um Bismarck oder Hindenburg, sondern eher um Richard Wagner, Paul de Lagarde oder Oswald Spengler. Vom Sammelbegriff des Konservatismus nimmt Breuer überhaupt Abschied – zu groß war der Traditionsbruch, den die industrielle Moderne bei den rechten Ideologen bewirkt hatte. Ehemals konservative Grundwerte wie Familie, Religion und Heimatverbundenheit hatten diesen Wandel nicht unbeschadet überstanden, büßten ihre Verbindlichkeit vielfach ein. Breuer analysiert die Ideen der nachkonservativen “zweiten Rechten” streng weberianisch mithilfe von idealtypischen Kategorien, die er an Schlüsselbegriffen festmacht wie “Boden”, “Blut”, Volk/Nation, politische Herrschaft, Wirtschaft, Bevölkerung, Kultur/Zivilisation, Religion und Antisemitismus. Damit konstruiert Breuer “einen intellektuellen Raum”, dessen “Typentableau” Grundpositionen markiert: nationalreligiöser Fundamentalismus (Wagner), neuer und alter Nationalsimus, völkischer Nationalismus (Hitler), planetarischer Imperialismus (Jünger), Neoaristokratismus (Nietzsche), ästhetischer Fundamentalismus (George-Kreis). Diese Herangehensweise macht vor allem eines deutlich: Diejenigen, die sich dem rechten Lager angehörig fühlten, hatten allenfalls gemeinsame Feindbilder – westliche “Zivilisation”, Liberalismus, Parlamentarismus. Ihre Auflehnung gegen die Moderne war paradox; genuin moderne Phänomene wie der Nationalismus, das imperialistische Weltmachtstreben und der technische Fortschritt regten nämlich ihrerseits rechte Intellektuelle zu ausufernden Plänen, zum “social engineering” an. Konzepte zur Gewinnung von Lebensraum, zu rassistischer Bevölkerungspolitik oder zur “gemeinwirtschaftlichen” Neuordnung integrierten technizistische Visionen und völkisch-rassistische Wahnsysteme, die kaum mehr konservativ zu nennen sind. Die “zweite Rechte” war, wie Breuer konstatiert, “gegenüber den Prozessen der Modernisierung nicht mehr bloß auf Abwehr eingestellt”, sondern wies Strömungen auf, “die das Ziel aller Rechten, die Steigerung der Ungleichheit, teils in, teils mittels der Modernisierung zu verwirklichen” suchten (374).
So sehr man von Breuers Systematik und offenkundiger Gelehrsamkeit eingenommen ist – die Lektüre dieses Kompendiums rechter Weltanschauungen verlangt eine gewisse Zähigkeit des Lesers, um sich durch den zitationsreichen Text zu arbeiten. Einiges an Vorwissen ist erforderlich, um den zum Teil arg esoterischen Diskursen der rechten Ideenproduzenten zu folgen. Bisweilen hätte man sich eine Ausleuchtung des historischen Kontextes oder knappe biographische Erläuterungen gewünscht. Wie so viele Beispiele der “intellectual history” krankt auch Breuers Methodik an der defizitären Bezugnahme auf die politische Wirkung von Ideen. Ist jede Idee wichtig, weil sie einmal gedacht wurde? Neben der (verdienst- und niveauvollen) Interpretation von Begriffsfeldern und Schlüsseltopoi wünscht sich der Leser Überlegungen zur Relevanz des hier Behandelten. Zu wenig erfährt man über Diskursnetze, über Bezüge zu öffentlichen Debatten und über das Einsickern von Ideen im Bereich der Machteliten. Die sozialen und kulturellen Voraussetzungen für die “Produktion” bzw. Empfänglichkeit von Ideologie fristen in Breuers Fragehorizont ebenfalls ein Schattendasein.
Einen Erkenntnisgewinn bedeutet Breuers Einbeziehung des Nationalsozialismus. Dabei wird offensichtlich, wie eklektizistisch sich nationalsozialistische Ideologen aus dem Gemischtwarenladen der intellektuellen Rechten bedienten. “Das nationalsozialistische Regime entwickelte keine einzige neue Idee”, so Breuer, “sondern wählte nur aus den Angeboten aus, die seit längerem kursierten.” (260) Die Wirkungsmacht des Nationalsozialismus war allerdings (und das kann Breuer nur andeuten) nicht in erster Linie einer politischen Idee geschuldet, sondern beruhte auf Massenmobilisierung. Dennoch: Was den geistigen Nährboden für den Zivilisationsbruch der “braunen Diktatur” bereitete, darüber klärt Breuers ideengeschichtliche Studie auf.