R.J. Evans: Das europäische Jahrhundert

Cover
Titel
Das europäische Jahrhundert. Ein Kontinent im Umbruch 1815–1914


Autor(en)
Evans, Richard J.
Erschienen
Anzahl Seiten
1.022 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hartmut Kaelble, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Richard Evans legt eine deutsche Übersetzung seiner englischen Synthese zur Geschichte des 19. Jahrhunderts in der Penguin History of Europe (2016) vor. Evans ist einer der führenden Deutschlandexperten unter den britischen Historikern. Er hat wichtige Bücher über die Frauenbewegung, über Cholera und über die Todesstrafe in Deutschland im 19. Jahrhundert, zuletzt eine zusammenfassende Darstellung der NS-Zeit geschrieben, lehrt jetzt in Cambridge und hat acht Jahre an dieser Synthese gearbeitet.

Dieses Buch trifft nicht auf ein unbeackertes Feld im deutschen Sprachbereich. An jüngeren Synthesen zur Geschichte Europas im 19. Jahrhundert mangelt es nicht. Hagen Schulzes 1998 erschienener „Phoenix Europa“ gehört ebenso dazu wie die europäischen Überblicke zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Andreas Fahrmeir (2010), von Wolfgang von Hippel und Bernhard Stier (2012) und zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Jörg Fisch (2002), Manfred Görtemaker (2002) und Johannes Paulmann (2019), auch die Geschichte Europas von Michael Salewski (2000).1 Aus guten Gründen wird zudem die Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts von Jürgen Osterhammel als eine Art europäischer Geschichte im globalen Zusammenhang verstanden und auch von Richard Evans als erstrangige Referenz genannt. Evans' Buch ist allerdings seit langem die erste aus dem Englischen übersetzte Synthese zur Geschichte Europas im 19. Jahrhundert. Zuletzt erschien vor rund 40 Jahren der Überblick von Eric Hobsbawm, damals oft als Gegenentwurf zum Handbuch der europäischen Geschichte von Theodor Schieder verstanden. Evans trifft heute auf dem deutschsprachigen Markt auf mehr Konkurrenz als damals Hobsbawm. Er verzichtete allerdings darauf, eine Einleitung für die deutschsprachige Ausgabe zu schreiben und sich mit den anderen deutschsprachigen Synthesen auseinanderzusetzen, die er mit Sicherheit kennt. Man hätte gerne gewusst, wie er über sie denkt.

Evans' Buch markiert auch eine stärkere Internationalität von Europasynthesen im deutschsprachigen Raum. In den letzten Jahren dominieren nicht mehr wie bisher deutsche Autoren, sondern es erschienen auch zwei sehr gute Bücher von britischen Autoren, neben Evans die beiden Bände von Ian Kershaw über Europa im 20. Jahrhundert und darüber hinaus zwei ganz anders konzipierte, beeindruckende französische Synthesen einerseits von Etienne François und Thomas Serrier, die soeben auf Deutsch erschienen ist, und andererseits von Christophe Charle und Daniel Roche, deren Übersetzung allerdings noch aussteht.2

Evans möchte in drei Hinsichten einen neuen Ansatz verfolgen. Er möchte erstens keine Addition der Geschichten von europäischen Nationalstaaten wie manche andere Synthesen zur Geschichte Europas, sondern Europa als eine Region beschreiben, die zwar keine festen Außengrenzen besaß, aber “gesellschaftlich, wirtschaftlich, politisch und kulturell zahlreiche gemeinsame Merkmale aufweist“ (S. 14). Damit erhalten nationale Sonderentwicklungen, der deutsche Sonderweg, die exception française, auch der eigene britische Weg keine besondere Aufmerksamkeit. Einen ähnlichen Ansatz verfolgen auch andere Synthesen zu diesem europäischen Jahrhundert. Evans möchte zudem bestimmte Themen besonders eingehend verfolgen: das wachsende Gewicht des Staates und der politischen Öffentlichkeit, den wirtschaftlichen und technischen Fortschritt und seinen Preis, die Veränderungen der sozialen Ungleichheit, die Macht der europäischen Imperien und die wachsende Macht des Menschen über die Natur. Er setzt in der Einleitung als Grundthese des Buches den Übergang von der Ehre und dem Ruhm zur Macht als vorherrschendes Ziel (S. 20), zwängt allerdings seine Synthese dann doch nicht in eine einzige Leitthese. Er möchte schließlich ein Handbuch nicht für Studenten oder Forscherkollegen, sondern für ein breiteres Publikum schreiben. Er verzichtet deshalb ganz auf Anmerkungen und gibt am Ende nur eine kurze Literaturliste für den interessierten englischen Leser, die sicher nicht alles enthält, was er in den acht Jahren gelesen und in den vielen Jahren seiner Lehre über das Europa des 19. Jahrhunderts aufgenommen hat.

Evans' Synthese ist halb chronologisch, halb thematisch aufgebaut. Sie beginnt mit einem Kapitel „Das Erbe der Revolution“ zur politischen Geschichte Europas im ersten Drittel des 19. Jahrhundert vom Ende der napoleonischen Kriege bis zur Revolution von 1830. Das Ringen zwischen liberalen Kräften und monarchischer Repression wird sehr anschaulich geschildert und dabei am Ende dem griechischen Aufstand eine große Bedeutung für die Stärkung der liberalen Seite zugeschrieben. Im zweiten, wirtschafts- und sozialhistorischen Kapitel „Widersprüche der Freiheit“ werden ausführlich die Bauernbefreiung und ihre bis in die zweite Hälfte des Jahrhunderts reichenden Folgen, dann die wachsende Bevölkerung und die mitwachsende Nahrungsmittelproduktion der Landwirtschaft, allerdings auch die Hungerkatastrophen der 1840er-Jahre, das Anwachsen der Textilindustrie, der Kohle- und Eisenindustrie, der Aufbau des Transportsystems thematisiert. Am Ende finden sich, eher nicht klassisch, ein Abschnitt über Zünfte und neue Gewerkschaften, überschrieben mit „Entstehung der europäischen Arbeiterklasse“ und ein Abschnitt über die soziale Frage vor allem in den Romanen und Schriften der damaligen Zeit.

Das dritte, politikgeschichtliche Kapitel „Der europäische Frühling“ (1830–1870) behandelt zuerst die Frühsozialisten und die nationalen Bewegungen, dann sehr ausführlich und eindrücklich die Revolution von 1848, geht erst auf den Krimkrieg, danach auf nationale Bewegungen und Einigungen der 1850er- bis 1870er-Jahre ein und schließt mit einem Abschnitt über die Pariser Kommune. Das vierte, wieder eher wirtschafts- und sozialhistorische Kapitel „Die soziale Revolution“ (ca. 1830–1914) behandelt ebenfalls sehr ausführlich den langsamen Niedergang des Adels, den Glanz der britischen Wirtschaft und den Aufstieg der chemischen und elektrotechnischen deutschen Industrie am Ende des Jahrhunderts, die erfolgreiche Stadtplanung, den Aufstieg des hybriden Bürgertums, die Verbürgerlichung der Mittelschicht und der Arbeiter und die Kriminalität. Das weniger klassische, kultur- und wissenshistorische fünfte Kapitel „Eroberung der Natur“ befasst sich über das ganze Jahrhundert hinweg mit der zunehmenden Beherrschung der Natur durch den Menschen, der Zurückdrängung der Wildnis, dem erleichterten Reisen, der Standardisierung der Zeit, der Zurückdrängung der Seuchen, der Zähmung des Sexualtriebs, der Bekämpfung von Schmerzen und Geisteskrankheiten, der Zivilisierung des Strafens. Das eher klassische kulturhistorische Kapitel „Das Zeitalter der Gefühle“ behandelt die Romantik, Religion, Christen, Muslime und Juden, Schulen und Universitäten, Geschlechterbilder, Freizeit, Literatur, Malerei und Musik. In Kapitel 7 „Aufstieg der Demokratie“ geht es zuerst um die Frauenbewegung, danach kurz um den Wohlfahrtsstaat, ausführlicher um die sozialistischen Parteien, kurz um Wahlen, wieder sehr ausführlich um den Liberalismus im späten 19. Jahrhundert, aber auch um die populistische Gefährdung der Demokratie. In Kapitel 8 „Die Auswirkungen des Imperialismus“, der dem Buch seinen Namen gab, werden zuerst aktuell der europäische Kunstraub in den Kolonien, dann die Entdeckungsreisen geschildert, die Wiederauferstehung des europäischen Kolonialismus nach seinem Niedergang in den Amerikas und das Zeitalter des Imperialismus seit den 1870er-Jahren, auch der afrikanische und asiatische Widerstand dagegen und die Rivalitäten zwischen den Kolonialmächten. Das Kapitel leitet dann zu den Balkankriegen und zu dem Ausbruch der Katastrophe des Ersten Weltkrieges über.

Sollte man Richard Evans lesen, wenn man andere Synthesen schon gelesen hat? Er geht in der Breite seiner Themen deutlich über andere deutschsprachige Synthesen zu Europa im 19. Jahrhundert hinaus. Die Vielfalt der Themen ist seine wichtigste Stärke. Er bedient zudem auch die erwarteten Themen, lässt aber vereinfachende historische Vorstellungen an ihren Widersprüchen auflaufen, bleibt dicht an der historischen Realität, setzt nicht nur den acht Kapiteln jeweils eine kurze Biographie voran, sondern lässt auch anderswo Menschen und Situationen lebendig und spürbar werden. Es gelingt ihm darüber hinaus, Europa als einen gemeinsamen Raum darzustellen. Er durchwandert diesen Raum Europa – und nicht nur die großen Länder – bei fast jedem Thema souverän trotz der vielen Sprachbarrieren und schwer erschließbaren Forschungsstände. Er gibt nicht der Versuchung nach, die Eigenarten jedes Landes als eine eigene Welt darzustellen. Auch Großbritannien erscheint dabei als ein normaler Teil Europas, das fast nur in seiner Industrieproduktion und als Seemacht aus dem europäischen Rahmen fiel. Diese Geschichte Europas ist daher nicht aus einem sich als außenstehend gebenden Blick von der britischen Insel geschrieben. Evans versteht es schließlich, viele Grundannahmen über das 19. Jahrhundert, etwa über die Macht des Adels, über die Fortschritte der Landwirtschaft und der Stadtplanung, über die Revolution 1848, über die Gründung des Bismarck-Reichs, über die Zivilisierung des Strafens und die Bekämpfung von Krankheiten, über den Liberalismus und die Anfänge der Demokratie aufzulockern und umzuinterpretieren. Diese Thesen werden allerdings nicht auf dem Präsentierteller serviert. Man muss sie mit etwas Geduld suchen. Es gibt keine Zusammenfassung, in der er die Hauptergebnisse seiner Interpretation der Geschichte Europas des 19. Jahrhunderts vorstellt. Aber die Lektüre dieser klugen, hervorragend recherchierten, anschaulichen, Mythen zerbröselnden, eigenwilligen, anregenden Synthese lohnt sich zweifelsohne.

Anmerkungen:
1 Vgl.: Hagen Schulze, Phoenix Europa. Die Moderne. Von 1740 bis heute, Berlin 1998, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-2225 (03.09.2019); Andreas Fahrmeir, Revolutionen und Reformen. Europa 1789-1850, München 2010, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-15011 (03.09.2019); Wolfgang von Hippel / Bernhard Stier, Europa zwischen Reform und Revolution 1800–1850, Stuttgart 2012, https://www.connections.clio-online.net/publicationreview/id/reb-18218 (03.09.2019); Jörg Fisch, Europa zwischen Wachstum und Gleichheit. 1850–1914, Stuttgart 2002, http://www.sehepunkte.de/2003/02/2140.html (03.09.2019); Manfred Görtemaker, Geschichte Europas 1850–1918, Stuttgart 2002, http://www.sehepunkte.de/2003/02/2140.html (03.09.2019).
2 Ian Kershaw, Höllensturz. Europa 1914–1949, München 2016; ders., Achterbahn. Europa 1950 bis heute, München 2019; Etienne François / Thomas Serrier (Hrsg.), Europa. Die Gegenwart unserer Geschichte, Darmstadt 2019; Christophe Charle / Daniel Roche (Hrsg.), L’Europe. Encyclopédie historique, Aix-en-Provence 2018.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension