Die im 20. Jahrhundert einsetzende Massenmotorisierung hat weltweit für gravierende Veränderungen gesorgt. Besonders in den Städten und industriellen Ballungsräumen sind die Kapazitäts- und Leistungsgrenzen vielfach ausgereizt. Es wird die Verkehrsnot, der Verkehrskollaps oder gar der Mobilitätscrash beklagt: „Freier Stau für freie Bürger“? Welche Auswege gibt es aus dieser Mobilitätsfalle? Gibt es sie überhaupt? Seit dem Zweiten Weltkrieg versuchen sich Verkehrsexperten an diesen Fragen und basteln an praktikablen Lösungen herum. Der simple Denkansatz lautet: Der Verkehr soll reibungslos fließen. Doch in der Umsetzung sind die Experten bisher immer wieder gescheitert. Ihre Vorstellungen vom Verkehrsfluss sind bis heute ein Traum geblieben.
Barbara Schmucki deutet überzeugend, fundiert und anregend diesen „Traum vom Verkehrsfluss“. Sie erzählt eine vergleichende Geschichte des Stadtverkehrs in West- und Ostdeutschland am Beispiel der Städte München und Dresden. Dabei operiert sie auf drei Ebenen:
Zuerst geht sie auf die Praxis des städtischen Verkehrs ein. In einer quantitativen Analyse wird die Struktur der städtischen Verkehrssysteme von München und Dresden auf der Basis von Leistungsdaten vorgestellt. Zugleich werden die urbanen Strukturen im jeweils nationalen Kontext bewertet und verallgemeinerte Aussagen angeboten. Das Strukturbild beruht auf der Analyse der „endogenen“ und „exogenen“ Konkurrenz der Verkehrsmittel, d.h. einmal untersucht Barbara Schmucki die Konkurrenz zwischen den Verkehrsmitteln des „öffentlichen Verkehrs“ (Tram, Bus und U-Bahn) und zum anderen nimmt sie die Konkurrenz zwischen dem Motorisierten Individualverkehr (MIV) und dem Öffentlichen Personen Nahverkehr (ÖPNV) unter die Lupe.
Auf der zweiten Ebene fokussiert das Buch die Vorstellungen und Leitbilder der deutsch-deutschen Verkehrsplanung. Es werden die wissenschaftlichen Diskurse sowohl in der deutsch-deutschen als auch internationalen Scientific Communities vorgestellt. Diese Verknüpfung ist allemal notwendig, da die entscheidenden Impulse für die Diskussionen um die Leitbilder der Verkehrsplanung aus den Vereinigten Staaten kamen. Folgender Wandel in den Leitbildern wird von Barbara Schmucki beschrieben und analysiert: die verkehrsgerechte Stadt (1945-1955), die autogerechte Stadt (1955-1971), der stadtgerechte Verkehr (1971-1980) und der menschengerechte Verkehr als eine Neuorientierung der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart.
Wie die Leitbilder der Verkehrsplanung schließlich mit der tatsächlich realisierten Verkehrsstruktur in den beiden Städten München und Dresden in Beziehung gesetzt wurden, verdeutlicht die dritte Ebene. Hier geht es Schmucki vorrangig darum, die Bedingungen in Ost- und Westdeutschland zu untersuchen, die für die Umsetzung der Verkehrsleitbilder verantwortlich waren. Sie lotet die konkreten Auswirkungen der Leitbildvorstellungen im kommunalen Bereich aus und zeigt so anschaulich das konkrete Spannungsfeld zwischen Idealvorstellung und den realen Bedingungen vor Ort in beiden Städten.
Für die Analyse wurden zudem verschiedene Quellengattungen benutzt: Neben der klassischen Verwendung von Archivmaterial und Fachliteratur setzte Schmucki in großem Umfang statistisches Material ein. Hier ist hervorzuheben, dass sie die Basisdaten für West- und Ostdeutschland erst aufwendig vereinheitlichen musste, um überhaupt eine Vergleichbarkeit herzustellen. Da, wo der quantitative Zugriff schließlich versagte bzw. die Analyse nicht weiterbrachte, ging sie erfreulicherweise unorthodoxe Wege und bezog Fotografien in ihre Analyse mit ein, um so die Veränderungen in der Verkehrsverteilung im städtischen Raum besser hervortreten zu lassen.
Die Autorin war sich dabei der methodischen Probleme durchaus bewusst. Ausdrücklich weist sie darauf hin, dass Fotos nur Ausschnitte eines bestimmten Gegenstandes unter einem bestimmten Blickwinkel zu einer bestimmten Zeit sind, d.h. sie unterliegen bereits einer eingehenden Beeinflussung und müssen deshalb durch eine präzise Kontextualisierung operationalisierbar gemacht werden (S. 31). Im Buch sind Gruppen von vergleichbaren Bildern zu finden, die eindrucksvoll die angesprochenen Veränderungen im städtischen Raum dokumentieren. Auf diese Weise wurde das Verkehrsgeschehen auf dem Karlsplatz/Stachus in München und auf dem Postplatz in Dresden von der Jahrhundertwende bis 1990 analysiert (S. 79-82).
Eine Kernaussage der vorliegenden Studie ist, dass der Stadtverkehr und damit die Verkehrsplanung sowohl im Westen als auch im Osten Deutschlands - trotz unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen - den gleichen Idealen folgten. Der Blick von der kapitalistischen Verwaltungs- und Straßenbahnstadt München auf die sozialistische Verwaltungs- und Straßenbahnstadt Dresden verdeutlicht eine erstaunliche Parallelität. Besonders wird das bei der Entwicklung der Verkehrsplanung ersichtlich. Die Verkehrsplaner verstanden sich über die ideologischen Barrieren hinweg als eine Scientific Community. Barbara Schmucki bemerkt hierzu resümierend: „Als Ingenieure sahen sie die Planung des Verkehrs als eine wertfreie mathematisch-technische Aufgabe an. Deshalb lasen die Planer in der DDR und der BRD die gleichen Publikationen und tauschten ihre Erkenntnisse auf Tagungen aus. Darüber hinaus orientierten sich beide Gruppen am Vorbild der USA.“ (S. 401)
Diese Parallelen tauchen aber nicht nur im wissenschaftlichen Diskurs der Verkehrsplanung auf, sondern auch auf der Ebene des tatsächlichen Verkehrs und der verkehrspolitischen Maßnahmen. Solche Parallelen lassen sich beispielsweise in den Generalverkehrsplänen von München und Dresden ausmachen. Darin wurden fast zeitgleich ähnliche Ziele formuliert. Ein anderes Beispiel wäre die Modernisierung des öffentlichen Verkehrs durch die Verkehrsbetriebe. Letztere stellten für Schmucki eine überaus sinnvolle Vergleichsbasis dar, weil beispielsweise die öffentlichen Verkehrsbetriebe in der DDR trotz der zentralstaatlich ausgerichteten Wirtschaftsstruktur von den Kommunen direkt abhängig waren. Freilich gab es hierbei deutliche Unterschiede und einige Entwicklungen sind aufgrund der spezifischen Rahmenbedingungen in der DDR einfach nicht vergleichbar, aber es gibt doch eine Reihe von erstaunlichen Ähnlichkeiten bzw. Übereinstimmungen im Bereich der Vorstellungen, Planung und bei deren Umsetzung.
Interessant ist aus der Fülle der angebotenen Forschungsergebnisse auch der Befund, dass die Motorisierung über die Motorräder erfolgte. Während der fünfziger Jahre waren beispielsweise in München rund die Hälfte aller Fahrzeuge Motorräder. Dieses Verhältnis verschob sich in München zwar am Ende der fünfziger Jahre zugunsten des Autos, aber in Dresden blieb das Motorrad weiterhin ein wichtiger Faktor im Motorisierungsprozess. Dort betrug der Motorradanteil bis in die siebziger Jahre hinein noch etwa 30 Prozent. Durch die Einbeziehung des Mopeds würde dieser beachtliche Anteil freilich noch weit höher ausfallen (S. 61).
Zusammenfassend möchte ich festhalten, dass die Studie von Barbara Schmucki eine gelungene, interessante und aufschlussreiche Verknüpfungsgeschichte von lokalen, regionalen und überregionalen Prozessen darstellt. Der Autorin ist es gut gelungen, solche doch recht unterschiedlich daherkommenden und nicht immer freundlich miteinander umgehenden Fachdisziplinen wie die Technik-, Wirtschafts-, Sozial- und Politikgeschichte zu einer Synthese zusammenzuführen: Empfehlenswert!