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Titel
Zwischen Basel und Marseille. Das Burgund der Rudolfinger (9.–11. Jahrhundert)


Herausgeber
Nowak, Jessika; Rüdiger, Jan
Reihe
Itinera - Beiheft zur SZG 46
Erschienen
Basel 2019: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
173 S.
Preis
CHF 48 / € 48
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Bernd Schneidmüller, Historisches Seminar, Universität Heidelberg

In ihrer Einleitung formulieren Jan Rüdiger und Jessika Nowak einen Schlüsselsatz, der als methodisches Bekenntnis zu einer vornationalen Geschichte Europas gelesen werden kann: „Ein Perspektivenwechsel, auch ein imaginierter, tut ja oft gut, und die Welt des 11. Jahrhunderts sieht von Lausanne her vielleicht etwas anders aus als von Speyer.“ (S. 15). Konkret geht es hier um das Begreifen Heinrichs, der in der römisch-deutschen Geschichte als Heinrich III., in der burgundischen nach seiner Erhebung 1038 in Solothurn als Heinrich I. gezählt werden kann. Der Name Burgund erfüllte seit der Wende von der Antike zum Mittelalter die europäische Historie mit immer neuen Verständnishorizonten. Die Aufbrüche und Untergänge burgundischer Geschichte im mittelalterlichen Jahrtausend ließen sich bei einiger Lust am Kontrafaktischen als verpasste Entwicklungskorridore jenseits etablierter nationalgeschichtlicher Teleologien verstehen.

Der hier vorgelegte gelungene Versuch fokussiert ein aus der Desintegration des fränkischen Großreichs im 9. Jahrhundert hervorgegangenes regnum, das seine Dauer zwischen 888 bis 1032 dem facettenreichen Zusammenwirken der welfischen Königsfamilie der Rudolfinger mit ihren adligen wie geistlichen Eliten verdankte. Dieses politische Gebilde zwischen Basel und Marseille lag beiderseits der Rhône, die Otto von Freising im 12. Jahrhundert – neben Rhein und Po – als einen der drei Hauptströme Europas ansprach. Geprägt von älteren Traditionen entfaltete sich dort über vier Generationen monarchische Eigenständigkeit. Sie wurde durch den Herrschaftsantritt der salischen Kaiser 1032 beendet und im folgenden Jahrtausend in den Grenzzonen nationaler Geschichte zerrieben. Ohne politische, kulturelle oder soziale Nachhaltigkeit dienten Lotharingien oder Burgund als kontingente Produkte karolingischer Reichsteilungen zur gelehrten Betrachtung im Sinne von „Was wäre, wenn …“.

Dieser Sammelband will staatliche Überformungen wegräumen und ältere Erinnerungsorte einer vornationalen Geschichte für heutige Schweizer, Franzosen oder Deutsche neu entdecken. Hier bietet „Burgund geradezu ein alternatives Regionalmittelalter“ (S. 18) und weist neue Wege „zur politischen Kultur des tribalen Westrandes Eurasiens“ (S. 16 f.). Fraglich bleibt, ob „tribal“ ein hilfreiches Adjektiv zur Beschreibung mittelalterlicher Kontingenz ist?

Es entspricht aktueller methodischer Vorsicht, dass die acht Beiträge dieser Sammlung dezidiert keine neuen Meistererzählungen entwerfen. Vielmehr wechseln sich gelungene Zusammenfassungen größerer Studien und quellennahe Neuinterpretationen detaillierter Beziehungsgeflechte ab. Hervorzuheben ist, dass hervorragende Sachkenner die Ergebnisse ihrer grundlegenden französischsprachigen Werke in deutscher Sprache zusammenfassen und auf die Fragestellung des Sammelbands zuspitzen.

François Demotz (Burgund – zwischen Tradition und Innovation. Diversität der Modelle und der Eliten an einer europäischen Drehscheibe, S. 20–47) vergleicht „von der Warte der politischen Strukturen her und auf Grundlage einer im Wesentlichen urkundengestützten Quellenbasis“ (S. 20) Burgund mit Ost- und Westfranken. Dabei stechen die offene räumliche Ordnung, die adligen Beziehungsgeflechte und die vergleichsweise geringen monarchischen Handlungsspielräume hervor.

Von Bedeutung für deutschsprachige Leser ist der Beitrag von Nicolas Carrier (Von der Sklaverei zur Leibeigenschaft. Unfreiheit im Königreich Burgund vom 8. bis 12. Jahrhundert, S. 74–100). In knappen Strichen werden hier Wege und Resultate der französischen Sozialgeschichtsforschung zur frühmittelalterlichen Unfreiheit und zur Bedeutung der Jahrtausendwende vorgestellt, bevor der kluge Autor eigene Ergebnisse zu Burgund präsentiert. Begreifen und Begrifflichkeit unterscheiden sich in beträchtlichem Maß von der deutschen Forschung, die den Begriff der Sklaverei für das Mittelalter gerne meidet. Wertvoll sind die hier vorgetragenen Gedanken zur instrumentalisierten Unfreiheit. Im Hochmittelalter ging es – anders als in der frühmittelalterlichen Sklaverei – vor allem um „die Kontrolle des Vermögens des Leibeigenen“ (S. 100).

Jean-Claude Rebetez skizziert die kirchlichen Organisationsstrukturen im nördlichen Königreich Burgund (Le diocèse de Bâle et la province de Besançon des origines au XIe siècle – des liens faibles et mal connus, S. 48-62). Hilfreich wäre auch ein Blick auf Tarantaise als die andere Metropole Hochburgunds gewesen, die sich in ihrer alpinen Mittelpunktsbildung von gängigen geistlichen Ordnungsmustern unterschied. Florian Mazel fasst frühere Studien über „Kirche, Mächte und Grundherrschaften in der Provence des 10. und 11. Jahrhunderts“ (S. 115–135) in einem deutschsprachigen Aufsatz zusammen und betont die Bedeutung der Bischofsherrschaft für die Herrschaftsbildung wie den geistlichen Wandel des 11. Jahrhunderts. In Neuland stoßen Detailstudien zu geistlichen und adligen Herrschaftsträgern vor. Andrea Hauff präsentiert quellennah und umsichtig „Die Stellung des Erzbischofs und Erzkanzlers Dietrich von Besançon zwischen Rudolf I. von Hochburgund und Zwentibold“ (S. 63–73). Dietrichs Funktion als Erzkanzler des ersten burgundischen Rudolfingers war schon 895 am Ende, als Bischof Walter von Sitten als neuer Erzkanzler fungierte, Anlass genug, „die fragile Situation des Königreichs Hochburgund“ in seiner Formierungsphase „vorsichtiger zu interpretieren“ (S. 73). Wie sich der Herrschaftsträger Arlulf im Marseille des 10. Jahrhunderts durchsetzte und Informelles strukturierte, demonstriert Pierre Vey in einer eindrucksvollen Spezialstudie (Marseille et l’horizon territorial, S. 101–114).

Burgundische Transformationen um 1032 sind Gegenstand des Schlussartikels von Laurent Ripart (Das Ende eines Königreichs, S. 152–173). Dieser präsentiert einen „Prozess der systematischen Transformation von der alten königlichen Ordnung zu einer neuen grund- und adelsherrschaftlichen Organisation“ und vermeidet ältere Debatten um die „mutation féodale“ (S. 155). Die burgundische Königsfamilie wird in diesem Sammelband nicht eigens in den Blick genommen, sieht man vom Artikel von Guido Castelnuovo (Kaiserin Adelheid und das Königreich Burgund, S. 136–151) ab. Dort geht es um die Motive für die letzte Reise der burgundischen Prinzessin, italischen Königin und ottonischen Kaiserin im Winter 998/999 nach Payerne, Saint-Maurice, Genf, Lausanne und Orbe.

Während das ‚vergessene Königreich‘ an der Wende vom Früh- zum Hochmittelalter neu ins Blickfeld rückt, bleiben die königlichen Gestalter dieser politischen Formation blass. Dabei könnten sie einen interessanten Schlüssel zur Alterität der karolingischen Welt bieten. Ich hatte in meinem Buch „Die Welfen“1 die Rudolfinger als Adelsverband beschrieben, der wie andere Handlungsgruppen dieser Zeit (Robertiner, Liudolfinger, Widonen, Bosoniden oder Konradiner) erfolgreich Geschichte gestaltete. In unserer demokratischen Welt sind Clans kein positiv besetztes Thema, entziehen sie sich doch durch mafiös anmutende Organisationsstrukturen legitimer staatlicher Kontrolle. Im Blick auf die vornationale und vorstaatliche Geschichte Europas bieten solche „warrior societies“ aber Deutungen, die Institutionen wie Strukturen überwinden und dezidiert zu den Akteuren führen. Der nachhaltige Erfolg König Rudolfs I. resultierte aus seinem Geschick, den Abrufbegriff ‚Burgund‘ neu zu instrumentalisieren. Dies beruhte gerade nicht auf tribalen oder gentilen Strukturen. Eine neue Perspektivierung könnte deshalb den Erfolgsrezepten von Clans aus den karolingerzeitlichen Eliten gelten. Die Rudolfinger nisteten sich für 144 Jahre in Burgund ein, um es danach an noch erfolgreichere Dynastien zu verlieren.

Anmerkung:
1 Bernd Schneidmüller, Die Welfen. Herrschaft und Erinnerung (819–1252), 2. Aufl., Stuttgart 2014 (1. Aufl. 2000), Kap. Königtum: Die welfische Herrschaft in Burgund (888–1032), S. 72–105.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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