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Titel
Das »System Sauckel«. Der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz und die Arbeitskräftepolitik in der besetzten Ukraine 1942–1945


Autor(en)
Greve, Swantje
Reihe
Geschichte des Reichsarbeitsministeriums im Nationalsozialismus
Erschienen
Göttingen 2019: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
491 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Grelka, Zentrum für Interdisziplinäre Polenstudien (ZIP), Europa-Universität Viadrina, Frankfurt an der Oder

Mit der Dissertation von Swantje Greve liegt nun eine weitere Monografie aus der Arbeitsgruppe zur Erforschung der Geschichte des Reichsarbeitsministeriums im Nationalsozialismus an der Humboldt-Universität vor. Während die anderen Studien im weitesten Sinne institutions- und verwaltungsgeschichtliche Ansätze verfolgen, untersucht Greve mit dem Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz (GBA) einen zentralen Akteur des systemischen Arbeitseinsatzzwangs. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass sie einen konzisen Überblick der Projektergebnisse im Sammelband der Editionsreihe zur Geschichte des Reichsarbeitsministeriums publiziert hat.1

Die Studie stößt in eine prominente Forschungslücke vor. Greve versucht mit zeitgemäßen Methoden der neuen Täter- und Netzwerkforschung zweierlei zu leisten: eine Gesamtdarstellung der Institution und eine Biografie ihres Dienststellenleiters. Das bisherige Fehlen einer Biografie zur dominierenden Figur der nationalsozialistischen Arbeitskräftepolitik am chronologischen Ende des NS-Unrechtssystem muss erstaunen. Mehr als fünf Millionen Zwangsarbeiter ließ Fritz Sauckel zwischen 1942 und 1945 nach Deutschland deportieren. Bereits seit 1932 leitete der langjährige Vertrauensmann Hitlers die NS-geführte Landesregierung in Thüringen, ehe er mit seiner Berufung zum GBA in den engsten Führungszirkel des Reiches aufstieg. Ähnlich wie Hans Frank verfügte Sauckel dank seiner direkten Unterstellung unter den ‚Führerbefehl‘ über eine enorme Machtfülle und operative Handlungsautonomie.

Laut Einleitung will die Monografie die Rolle des GBA im Kontext der Arbeitseinsatzpolitik des Reichsarbeitsministeriums und, im Besonderen, am Fallbeispiel der Rekrutierungen von Zwangsarbeiter in der Ukraine beleuchten. An dieser Agenda arbeitet sich die Autorin in chronologischer Ordnung ab. Sie beginnt mit einer prosographischen Rekonstruktion des sog. Thüringer Netzwerks, schildert dann den Aufstieg in den frühen Systemjahren bis zu Sauckels Berufung zum GBA im März 1942. Kapitel drei und vier beschreiben mit großer Detailkenntnis die Verflechtungen zwischen dem GBA und den Stellen des Reichsarbeitsministeriums, aber auch die Kooperationen des geborenen Unterfranken mit SS und Wehrmacht. Der zweite große Abschnitt referiert die Politik von Sauckels Dienststelle und des Arbeitsministeriums im Reichskommissariat Ukraine.

Der Vorteil dieser chronologischen Anordnung ist, dass die Studie so nicht allein auf die Kriegs- und Besatzungszeit beschränkt bleibt, sondern am Anfang eines Radikalisierungsprozesses ansetzt und somit die Bereitschaft der in diesem Band beschriebenen Tätergruppen zur Teilnahme an der NS-Vernichtungspolitik in Osteuropa erklären könnte. Allerdings bietet die Studie an dieser Stelle kaum mehr als eine deskriptive Tour de Force durch das angesammelte Quellenmaterial. Das mag auch dem Projektziel, die Strukturen der deutschen Arbeitsverwaltung in allen ihren Verzweigungen in den ukrainischen Besatzungsgebieten offenzulegen, geschuldet sein, aber mehr Mut zu einer stärkeren These wäre durchaus wünschenswert gewesen. Auch wenn aus dem Zuschnitt des Projekts die Dominanz der Täterperspektive verständlich ist, hätte man sich zumindest beim Fallbeispiel Ukraine die Berücksichtigung der Perspektive der ukrainischen Zwangsarbeiter auf die deutsche Beschäftigungspolitik gewünscht. Quellenverweise auf einschlägige Bestände in ukrainischen Staatsarchiven2 und Arbeiten ukrainischer Kollegen liegen dazu schon seit den frühen 2000er-Jahren in Fülle vor.

Wichtige neue Erkenntnisse liefert die Arbeit zur Rekrutierung und Deportation von sogenannten Partisanen aus der Ukraine in das Reichsgebiet sowie zur Verschleppung von lokalen Arbeitern und Arbeiterinnen während des deutschen Rückzugs vor der Roten Armee seit Anfang 1944. Insgesamt kommt eine notwendige analytische Verknüpfung zwischen Sauckels Biographie, den organisatorischen Netzwerken seiner Generationen, den institutionsspezifischen Seilschaften im Rahmen der nationalsozialistischen Arbeitskräftepolitik und der situativen Fallstudie für das deutsche Besatzungsregime in Osteuropa hinter der Fülle von Einzelaspekten ein wenig zu kurz. Den roten Faden, nämlich der Zusammenhang aus arbeitseinsatzpolitischen Maßnahmen und der „allgemeinen menschenverachtenden deutschen Besatzungspolitik“ (S. 284) des Sauckel-Netzwerks, greift die Autorin erst in Kapital sieben wieder auf (S. 444).

Vor allem aber stößt die theoretische Netzwerk-Methode der Arbeit an Grenzen, wo Greve zwar quellenprofund Täter identifiziert und deren Praktiken rekonstruiert, die Motive der Akteure und ihrer Netzwerke aber kaum hinterfragt. Das mag auch an dem auf die Produktivität der deutschen Kriegswirtschaft fokussierten Ansatz der Studie liegen, den die Autorin sehr anschaulich an der Zusammenarbeit zwischen Arbeitsministerium, der Sauckel-Dienststelle (GBA) sowie dem dritten großen Akteur der nationalsozialistischen Arbeitseinsatzpolitik, Speers Rüstungsministerium, belegt (S. 230–236). Dieser Ansatz ist wirtschaftshistoriographisch traditionell und auch legitim, empirisch jedoch riskant, wenn die Autorin gleichzeitig auf den Vertrauensbegriff bei Ute Frevert rekurriert. „Vertrauen“ habe, so Greve, „andere zeit- und geldintensivere Kontrollmechanismen“ in Sauckels Umfeld obsolet gemacht (S. 275).

Doch wie verhält sich dieser emotionswissenschaftliche Exkurs zu unproduktiven Faktoren im Kontext der NS-Zwangsarbeit? Spielten etwa strukturelle Korruption, Nepotismus sowie die situative Bereicherung auf Kosten der Zwangsrekrutierten in Sauckels Netzwerk von Parvenüs und Herrenmenschen gar keine Rolle? Dass opportunistische Cliquenwirtschaft ein Strukturelement des NS-Staates war, ist ein wichtiger Befund der neueren Erforschung von Täternetzwerken. Eine von der Autorin nur postulierte, aber nicht versuchte moralische Bewertung der „[…] persönlichen und politischen Motive der Akteure in Bezug zu ihren Handlungsweisen und dem besatzungspolitischen Kontext“ (S. 306) der Entourage Fritz Sauckels bleibt so ein Desiderat.

Nichtsdestotrotz hat Swantje Greve ein wichtiges Referenzwerk zur Kooperation von GBA und Reichsarbeitsministerium für die nationalsozialistische Arbeitseinsatzpolitik vorgelegt, an dem die zukünftige Forschung kaum vorbeikommen wird. Allerdings kann Greve Sauckels Selbststilisierung als „unpolitischer Technokrat“ (S. 454) beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess, insbesondere die kriminelle Dimension des „größten und grausamste Sklavenhalter seit den ägyptischen Pharaonen“3 nur ansatzweise dekonstruieren.

Anmerkungen:
1 Swantje Greve, Der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz und das Reichsarbeitsministerium, in: Alexander Nützenadel (Hrsg.), Das Reichsarbeitsministerium im Nationalsozialismus. Verwaltung – Politik – Verbrechen, Berlin 2017, S. 387–422.
2 Bundesarchiv: Portal zur ukrainischen Archivalien zum Thema Zwangsarbeit im NS-Staat: https://www.bundesarchiv.de/zwangsarbeit/archiv/index.html (02.02.2020).
3 So die Einschätzung von Sauckels Tätigkeit als GBA durch die Anklage beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess, zitiert nach Stephan Lehnstaedt, Fritz Sauckels Nürnberger Aufzeichnungen. Erinnerungen aus seiner Haft während des Kriegsverbrecherprozesses, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 57 (2009), S. 117–150, hier S. 120.

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