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Titel
Merovingian Letters and Letter Writers.


Autor(en)
Tyrrell, V. Alice
Reihe
Publications of the Journal of Medieval Latin 12
Erschienen
Turnhout 2019: Brepols Publishers
Anzahl Seiten
XXXI, 386 S.
Preis
€ 90,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hendrik Hess, Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Editionen merowingerzeitlicher Briefe sind über diverse Bände der MGH verstreut. Das Hauptverdienst der Dissertation von V. Alice Tyrrell sind vor allem Kumulation und Zusammenschau. Den größten Gewinn werden Leser/innen vermutlich aus dem umfangreichen Anhang ziehen, der die Ergebnisse minutiöser Quellenlektüre enthält und für die rund 600 merowingerzeitlichen Briefe Regesten zu Verfügung stellt. Die vorgeschaltete Studie liefert einen soliden Überblick über die Themen und quellenkritischen Probleme der Briefe, analytisch allerdings wenig neue Erkenntnisse oder Unerwartetes. Dies hängt auch damit zusammen, dass die Untersuchung den Befund der Forschung zu ihrer Prämisse macht, dass die überlieferten Briefe im Frühmittelalter nach spätantikem Vorbild in erster Linie der Konstituierung und Perpetuierung von amicitia-Netzwerken dienten.1 Über diese Beobachtung geht sie nicht wesentlich hinaus.

In ihrer Einleitung definiert die Verfasserin den Brief im Allgemeinen als „social instrument conveying personal and private information from one party to another“ (S. xiv), schließt aber, was sie „political directives“ (ebd.) nennt, aus der Untersuchung aus. Chlodwigs „Brief“ an die aquitanischen Bischöfe zu Beginn seines Visigotenkrieges 507 etwa wird auf Grund seines politischen Charakters nicht aufgenommen, denn man könne ihn kaum als echte Korrespondenz auffassen. Dieser Zuschnitt ist problematisch, da eine Definition des „Politischen“ im Frühmittelalter in der Einleitung fehlt und zudem fraglich bleibt, ob nach frühmittelalterlichem Verständnis „Politik“ vom Persönlichen und Privaten immer klar zu trennen ist. Auch aus anderen Gründen scheint der gewählte Zugriff für die Untersuchung nicht vollständig praktikabel: Unkommentiert bleibt der methodische Umgang mit Kunstbriefen, die also nie als Korrespondenz, sondern als literarische Produkte gedacht waren, mit Entwürfen, Vorlagen, Interpolationen und mit Briefen, die nie abgeschickt wurden (auch die damit zusammenhängende quellenkritische Problematik wird nicht weiter adressiert) und sich schwerlich mit der Arbeitsdefinition in Einklang bringen lassen.

Das erste Kapitel des Hauptteils gibt einen summarischen Überblick zu den Vorläufern der merowingischen Briefe und damit zu den Brief- und Freundschaftszirkeln um Sidonius Apollinaris, Ruricius von Limoges, Avitus von Vienne, Caesarius von Arles und den älteren Briefen der Epistolae Austrasicae. Im zweiten Kapitel, das sich vor allem den Briefen und Gedichten des Venantius Fortunatus und anderen gallischen Zeitgenossen widmet, sind die Kontinuitäten zu den spätantiken Praktiken der epistolarischen amicitia-Pflege unverkennbar. Ein gewisser Wandel setzt – nach einer Überlieferungslücke – im 7. Jahrhundert und Anfang des 8. Jahrhunderts ein. Zwar dienen auch die Briefe des Desiderius von Cahors und der angelsächsischen Missionare Columban, Bonifatius und Lullus der Aufrechterhaltung von Freundschaftsnetzwerken, doch Zitate der klassischen Literatur werden weniger, es wird keine Dichtung mehr verschickt, der Buchaustausch kommt weitestgehend zum Erliegen und die Briefe sind allgemein weniger kunstfertig verfasst. Insbesondere in Desiderius‘ Fall wird diese Entwicklung mit dem zunehmenden Einfluss des merowingischen Hofes auf die Aristokratie erklärt (S. 65).

Die restlichen Kapitel wirken teilweise etwas unverbunden und behandeln die Inhalte der Briefe der fränkischen Könige und der Päpste (Kapitel 4), die ebenso wenig amicitia zum Gegenstand hatten wie Briefe an und von Frauen der Merowingerzeit (Kapitel 5). In den letzten beiden Kapiteln werden Briefboten und -beigaben (rückläufig im untersuchten Zeitraum), wie Geschenke, Reliquien oder Bücher, beziehungsweise die Bedeutung und Verwendung der Bibel und von Bibelzitaten (mit Stellennachweis im Anhang) als rhetorisches Mittel in den Briefen behandelt.

Etwas einseitig englischsprachig fällt die Bibliographie aus. So wurden etwa neuere französische und deutsche Titel mit Relevanz für das Thema, aber beispielsweise auch das ältere Standardwerk von Giles Constable nicht berücksichtigt.2 Der genannten Monita unbenommen liefert die Monographie einen hervorragenden Überblick über die merowingische Epistolographie, die vielleicht kein so ausgeprägtes Schattendasein führt wie die Verfasserin meint („still undeservedly understudied“, S. xiii), aber nun über ihre Arbeit wesentlich leichter und schneller erschließbar ist als zuvor. Man darf gespannt sein, welche neuen Erkenntnisse mit dieser Studie als Ausgangsbasis und Fundgrube in Zukunft erzielt werden können.

Anmerkungen:
1 Umfassend Verena Epp, Amicitia. Zur Geschichte personaler, sozialer und geistlicher Beziehungen im frühen Mittelalter (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 44), Stuttgart 1999.
2 Zum Beispiel Bruno Dumézil, Gogo et ses amis. écriture, échanges et ambitions dans un réseau aristocratique de la fin du VIe siècle, in: Revue historique 309/3 (2007), S. 553–593; Gernot Michael Müller (Hrsg.), Zwischen Alltagskommunikation und literarischer Identitätsbildung. Studien zur lateinischen Epistolographie in Spätantike und Frühmittelalter (Roma Æterna 7), Stuttgart 2018; Giles Constable, Letters and Letter-collections (Typologie des sources du moyen âge occidental 17), Turnhout 1976.

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