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Title
Achterbahn. Europa 1950 bis heute. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt


Author(s)
Kershaw, Ian
Published
Extent
828 S.
Price
€ 38,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Claudia Weber, Kulturwissenschaftliche Fakultät, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt an der Oder

In seinem neuen Buch will der britische Historiker Ian Kershaw die Geschichte Europas nach 1945 als eine Art Achterbahnfahrt erzählen. Damit beginnen die Probleme. Kershaw – ein renommierter Kenner der Zwischenkriegszeit, des Nationalsozialismus und der Geschichte des Zweiten Weltkrieges – räumt sie unumwunden schon im Vorwort ein, in dem er seine titelgebende Metapher und damit das Konzept des Buches erst entwirft, um sie dann sogleich zu relativieren. Offenbar ahnt Kershaw, dass das, was er zum Signum der Zeit erklärt, doch nur der banale Verlauf gängiger Geschichtsnarrative ist. Da hat jede Geschichte ihre „Wendungen und Windungen“, ihre schnellen „Aufs und Abs“ und ihre „willkürlichen Wechselfälle“, unabhängig davon, ob es sich um Imperien der ferneren Vergangenheit oder eben um Europa im 20. Jahrhundert handelt. Kershaws Metapher erscheint wie der um Originalität bemühte Versuch, das zuverlässige Charakteristikum jener Jahre – den Kalten Krieg – abzulösen. Es stimmt einfach nicht, dass, wie Kershaw vermutlich wider besseres Wissen schreibt, „die europäische Geschichte zwischen 1950 und heute kein herausragendes übergreifendes Thema besitzt“ (S. 9). Denn unabhängig davon, ob er nun „Die Herausbildung Westeuropas“ in den Blick nimmt (Kapitel Zwei) oder vom „Schraubstock“ der Sowjetisierung Osteuropas berichten will (Kapitel Drei): Ohne das epochenprägende Thema kommt auch er nicht aus. Es ist im Gegenteil auf nahezu jeder Seite präsent und strukturiert überdies den Aufbau des gesamten Buches.

Kershaw geht ganz konventionell vor. Auf den in zwölf Hauptkapitel unterteilten rund 800 Seiten beschreibt er die europäische Geschichte entlang der gewohnten Sichtachsen und üblichen Zäsuren. Tatsächlich beginnt er mit der „Hitze des Kalten Krieges“: dem Koreakrieg, der Etablierung westlicher und östlicher Militärbündnisse, dem atomaren Wettrüsten und dem Aufkommen der antiatomaren Friedensbewegung. All dies sind klassische Themen der Cold War Studies. Die unmittelbaren Nachkriegsjahre interessieren ihn dagegen weniger, wohl auch deshalb, weil sein viel beachtetes Vorgängerbuch „Höllensturz“ mit jenen Zeiten endet. Auch im zweiten Kapitel, in dem sich Kershaw wenig überraschend der westeuropäischen Demokratisierung und der globalen De-Kolonialisierung zuwendet, bestimmt die „sich vertiefende Spaltung zwischen den politischen Systemen Ost- und Westeuropas“ (S. 71) die Ereignisse. Während sich in Westeuropa und nach einem schwierigen Weg auch in den einstigen Diktaturen Spaniens und Portugals allmählich demokratische Strukturen etablierten und der ökonomische Aufschwung einen nie dagewesenen (trügerischen) Wohlstand schuf, ächzte der Osten im „Schraubstock“ Moskaus. Diesen lockerten die Kremlherrscher nur in der Zeit von Chruschtschows Entstalinisierung, als auch im östlichen Teil Europas das Lebensniveau nach den Entbehrungen des Weltkrieges und der stalinistischen Industrialisierung signifikant anstieg. Im Wettlauf mit dem Westen, die Arbeiterproteste in Polen, Ungarn und der DDR im Nacken, sorgten auch die osteuropäischen Regierungen für einigermaßen gefüllte Regale, wobei der bescheidene Wohlstand freilich nie an die „Gute[n] Zeiten“ (Kapitel Vier) des westlichen „Wirtschaftswunders“ heranreichte.

In allen Kapiteln greift Kershaw auf bekannte Darstellungen, Zahlen und Interpretationen zurück. Beeindruckend ist die mit Nonchalance gepaarte große handwerkliche Professionalität, mit der es ihm gelingt, die vertrauten Ereignisse, Stimmungen und Zeitläufte zu einer flüssig lesbaren Geschichte zusammenzufügen. Dass Großbritannien und Westdeutschland dabei besondere Aufmerksamkeit erhalten, ist der Herkunft und der Historikerbiographie Kershaws geschuldet. Beide lässt er in diesem Buch Revue passieren. Noch einmal darf die „Generationenrevolte“ der „68er“ die Welt verändern (oder zumindest einen solchen Anspruch verkünden), bevor die selbst ernannten Revolutionäre entweder im Terrorismus oder im Marsch durch die Institutionen enden. Noch einmal beschließt die Ölpreiskrise von 1973 den Boom der ersten Nachkriegsjahrzehnte, und der Thatcherismus löst soziale, politische und gesellschaftliche Verwerfungen aus, unter denen nicht nur Großbritannien, sondern nach dem neoliberalen Imperativ ganz Europa bis heute zu leiden hat. Und noch einmal treiben der „Ostwind der Veränderung“ (Kapitel Acht) und „Die Macht des Volkes“ (Kapitel Neun) den Kontinent in ein neues Zeitalter. Es startete mit der euphorischen Dekade der 1990er-Jahre, eine Euphorie, die bis zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001 anhielt. Danach begannen die Krisenjahre und jene vielbeschworene neue Ära der Unsicherheit, mit der Kershaws Achterbahnfahrt schließlich endet. Der Ausblick gleicht den Gegenwartsbeschreibungen, die heute vielfach anzutreffen sind und vor der Hintergrundfolie der guten, weil für den Westen fortschrittlichen Epoche ein pessimistisches Zukunftsbild entwerfen.

Die vielen Gründe, die Kershaw für die europäische Talfahrt benennt, sind nachvollziehbar, oft diskutiert und bekannt. Schade ist nur, dass auch er die „gute[n] Zeiten“ von den Erschütterungen der Gegenwart und den Gefahren der Zukunft abtrennt, so als seien diese plötzlich und ganz unterwartet aufgetreten. Dass aber die „gute Zeit“ des Kalten Krieges und das euphorische Jahrzehnt trügerisch waren, nicht zuletzt weil sie die heutigen Probleme bereits enthielten und kräftig beförderten, spart Kershaw weitgehend aus. Die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA war nicht so überraschend, wie der Autor im gefälligen Gleichklang mit verbreiteten Wahrnehmungen behauptet (Ausblick, S. 755). Sie war es doch nur für diejenigen, die das „Flyover Country“ herzlich ignorierten. Auch die politische Rechte und der extreme Nationalismus sind in Europa keine überraschenden Phänomene, die ganz verblüffend und unsere Zivilisationsgewissheit erschütternd (wieder) aus dem Nichts auftauchen. Kershaw selbst erwähnt in seinem Buch bemerkenswerte Details, die das inszenierte Erschrecken widerlegen und zeigen, dass die viel beschworene Renaissance des Nationalismus schon zum euphorischen Jahrzehnt gehörte. Sie folgte nicht auf den europäischen Einigungstaumel, sondern ging mit ihm Hand in Hand. So war der Budapester Heldenplatz anlässlich der feierlichen Umbettung von Imre Nagy im Juni 1989 nicht in ein Meer von Europafahnen, sondern von Nationalfahnen Ungarns getaucht. Und angesichts der Zerfallskriege in Jugoslawien betont Kershaw völlig zu Recht, dass „die meisten Europäer […] die täglichen Fernsehberichte über die Schrecken […] bis zum Überdruss leid [waren]“ und dass sie „verdrängten, was in einem Teil ihres Kontinents geschah. […] Die Hoffnung, dass nach dem Hinscheiden des Kommunismus auf dem Kontinent Einigkeit und Frieden gedeihen würden, war nicht mehr als eine Illusion gewesen.“ (S. 573) Vor dieser Illusion warnte Kershaws Landsmann Tony Judt bereits im Jahr 1996.1 Es wäre ein spannendes Unterfangen gewesen, ihr mit historischer Tiefenschärfe und intellektueller Risikobereitschaft nachzugehen.

Ian Kershaws „Achterbahn“ sei allen empfohlen, die noch einmal lesen wollen, wie Europas Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg aus westeuropäischer Sicht geschrieben wird. Wer dagegen auf erhellende, provozierende oder gar experimentelle Interpretationen hofft, wird warten müssen. Dabei hilft auch das Zugeständnis nicht, dass Überblicksdarstellungen notgedrungen an der Oberfläche schürfen, von Ereignis zu Ereignis, von Land zu Land eilen, um die großen Linien in den Blick zu bekommen. Denn die Frage bleibt, ob es nicht Zeit wäre, die Oberfläche anders zu betrachten und neue, unerwartete Linien zu ziehen. Muss es immer mehr vom Gleichen sein? Und wenn ja, welchen Erkenntniswert, welches Erklärungspotential und welche Legitimation haben dann noch historische Synthesen, deren Fehlen vor diesem Hintergrund zu Unrecht beklagt wird? Kershaws „Achterbahn“ ist eine altbacken daherkommende Synthese. In einem Europa, das seine Einigung wollte und seine Krise ernstnehmen sollte, überrascht sie aus vielerlei Gründen. Es ist ein Buch, das das westeuropäische Fortschrittsmodell ungeachtet der immensen Konflikte und Widersprüche nach wie vor zur historischen Norm Gesamt-Europas erhebt. Obwohl Kershaw diese normative Arroganz an einigen Stellen durchaus kritisiert, bleibt Osteuropa auch bei ihm der unglückliche, rückständige Teil des Kontinents, dessen Bevölkerung meist geknebelt und gebückt im dunklen Reich Moskaus ausharrte. So repressiv sich der Realsozialismus tatsächlich gebärdete, so wenig wird diese bis zum Überdruss akklamierte stereotype Erzählung der komplexen Lebenswirklichkeit in autoritären Systemen, nicht nur in Osteuropa, gerecht. Darüber hinaus scheitert sie angesichts der intellektuell hochspannenden und gegenwartsrelevanten Frage nach der Attraktivität antidemokratischer Gesellschaftsentwürfe oder gar eines Lebens in der Gewalt.

Wie eine Zeitgeschichte Europas geschrieben werden kann, ohne den etablierten Narrativen aufzusitzen und diese stattdessen anregend infrage zu stellen, demonstrieren die Arbeiten des deutsch-britischen Historikers Kiran Klaus Patel ebenso wie diejenigen des bulgarischen Intellektuellen Ivan Krastev.2 Daneben haben Historiker/innen wie Vanessa Conze und Dieter Gosewinkel seit Jahren auf konzeptionelle und ideelle Kontinuitäten in den Europavorstellungen der Zwischenkriegszeit, des Faschismus und der (Wirtschafts-)Integration nach 1945 hingewiesen, die die Vorstellung von einer „Stunde Null“ der europäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg empirisch überzeugend korrigieren.3 Eine weitere Möglichkeit, Europas Geschichte gegen den Strich zu bürsten, ist es, die immensen Kosten des materiellen und sozialen Wohlstands in den Mittelpunkt der Erzählung zu stellen. Dass diese Kosten, die im Kalten Krieg nicht in Westeuropa bezahlt wurden, keineswegs bedauerliche und gern ausgelagerte Kollateralschäden sind, offenbaren die Krisen von heute: die wohl erst beginnende Migrationskrise und die ökologischen Probleme einer irritierten Weltvorstellung von Fortschritt und Entwicklung.

Last but not least könnte der Versuch gestartet werden, die Geschichte Europas nach 1945 nicht (nur) als Systemkonflikt, sondern zuvörderst als eine Geschichte der Balance von ideologischer Feindschaft und geopolitischer Übereinkunft zu erzählen. Denn jenseits aller Propagandaschlachten und militärischen Muskelspiele waren sich der demokratische Westen und der autoritäre Osten überaus einig darin, das System des Kalten Krieges nicht gefährden zu wollen. Die Geschichte des Aushandelns, der gegenseitigen Rücksichtnahmen und wirtschaftlichen Hilfen begann spätestens mit dem berüchtigten Percentages Agreement zur Aufteilung von Einfluss-Sphären in Europa, das Churchill und Stalin im Oktober 1944 in Moskau unterzeichneten. An der europäischen Nachkriegsordnung zu rütteln wäre den westlichen Demokratien – Systemkonkurrenz hin oder her – nicht in den Sinn gekommen. Kershaw erwähnt die im Desinteresse mündende Übereinkunft an mehreren Stellen seines Buches, beispielsweise wenn er den Berliner Mauerbau beschreibt. Im August 1961 sah de Gaulle keinen Anlass, seinen Urlaub zu unterbrechen, ebenso wie die britische Politiker-Elite es sich nicht nehmen ließ, ungerührt die Jagdsaison zu eröffnen. Kershaws Buch enthält viele Hinweise darauf, wie die Geschichte des Kontinents aus neuen Perspektiven erzählt werden könnte. Indem er es aber unterlässt, diese ernster zu nehmen als Anekdoten, verzichtet er darauf, die grundsätzliche Widersprüchlichkeit der europäischen Nachkriegsentwicklung auszubuchstabieren. Hätte er es getan, wäre das Bild der „Achterbahn“ gar nicht so schlecht gewesen. Die Fahrt war nur viel extremer: schneller, abrupter, höher und tiefer, als es an den beschaulichen Plätzen des alten Europa den Anschein hatte.

Anm. der Red.:
Dieser Beitrag ist Teil eines Review-Symposiums. Das redaktionelle Vorwort und Links zu den weiteren Rezensionen finden Sie unter https://www.hsozkult.de/text/id/texte-4873

Anmerkungen:
1 Tony Judt, Große Illusion Europa. Gefahren und Herausforderungen einer Idee, München 1996.
2 Kiran Klaus Patel, Projekt Europa. Eine kritische Geschichte, München 2018; Ivan Krastev, Europadämmerung. Ein Essay. Aus dem Englischen von Michael Bischoff, Berlin 2017.
3 Vanessa Conze, Richard Coudenhove-Kalergi. Umstrittener Visionär Europas, Göttingen 2004; dies., Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920–1970), München 2005; Dieter Gosewinkel (Hrsg.), Anti-liberal Europe. A Neglected Story of Europeanization, New York 2015; Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 9 (2012), Heft 3: Antiliberales Europa, hrsg. von Dieter Gosewinkel, Peter Schöttler und Iris Schröder, https://zeithistorische-forschungen.de/3-2012 (24.10.2019).

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