B. Severin-Barboutie: Migration als Bewegung am Beispiel von Stuttgart und Lyon

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Titel
Migration als Bewegung am Beispiel von Stuttgart und Lyon nach 1945.


Autor(en)
Severin-Barboutie, Bettina
Erschienen
Tübingen 2019: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
XIV, 372 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Simon Goeke, Münchner Stadtmuseum

Viele in den vergangenen Jahren publizierte Studien, die Remigration, Pendelbewegungen und temporäre Migration untersuchen, haben deutlich gemacht, dass die „lange in der historischen Forschung dominierende Sicht, die Migration vorwiegend als einen linearen Prozess verstand, der von der Wanderungsentscheidung im Ausgangsraum über die Reise in das Zielgebiet bis zur dort vollzogenen dauerhaften Niederlassung reichte“1, mittlerweile als obsolet gelten kann. Bettina Severin-Barboutie verortet ihre 2018 an der Justus-Liebig-Universität Gießen als Habilitationsschrift angenommene und 2019 als Buch publizierte Studie in dieser neueren Schule der historischen Migrationsforschung, die sich dem „Dazwischen“ widmet und dabei die Handlungen der Migrantinnen und Migranten in den Vordergrund rückt (S. 7). Eindrücklich belegt sie, dass das schwierige Unterfangen, „Migration als Bewegung“ zu beschreiben und diesen fluiden Gegenstand für die Forschung operationalisierbar zu machen, ein produktives und inspirierendes Unterfangen darstellt.

Am Beispiel von türkischen Staatsangehörigen in Stuttgart, in Algerien geborenen Menschen muslimischen Glaubens in Lyon sowie von Italienerinnen und Italienern in beiden Städten beschreibt Severin-Barboutie deren Mobilität nicht als einen Einwanderungsprozess, sondern analysiert die Vielfalt der Praktiken und Taktiken dieser Menschen, unabhängig von ihrer Verweildauer in einem bestimmten Land. Sie schließt in ihre Untersuchung auch abgebrochene oder gescheiterte Migrationsprojekte, Zwischenstopps, Durchreisen und Richtungsänderungen mit ein. Im Vordergrund stehen dabei vor allem Formen der nicht staatlich vermittelten Migration, die Reisebewegungen und -routen an sich, die zirkuläre Mobilität, das „Passieren“, die erzwungene Rückkehr und das Festsetzen sowie die „Bleibetaktiken“ der Menschen in Bewegung. Der Städtevergleich erfolgt indessen nicht systematisch; er orientiert sich auch weniger an einer chronologischen Erzählung als vielmehr an dem analytischen Dreiklang „Kommen, Gehen/Zurückkehren, Bleiben“. Die Auswahl der beiden Städte Stuttgart und Lyon begründet Severin-Barboutie damit, dass diese „einerseits Gemeinsamkeiten aufweisen, die sie gut vergleichbar machen, andererseits aber auch für die Fragestellung produktive Unterschiede aufzeigen“ (S. 10). Zu den Gemeinsamkeiten zählt, dass beide Städte jeweils Sitz einer regionalen Verwaltung bzw. Regierung sind, über eine exportorientierte Industrielandschaft verfügen, sich in Grenznähe befinden und damit verkehrstechnisch bestens angebunden sind. Die Unterschiede sind vor allem in den verschiedenen nationalstaatlichen politischen und juristischen Rahmenbedingungen auszumachen, wie dem Staatsbürger- und Ausländerrecht oder dem Grad der Verwicklungen in den Konflikt in Algerien. Mit ihrem Untersuchungszeitraum vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis in die 1980er-Jahre macht Severin-Barboutie bereits deutlich, dass sie sich dabei nicht an weit verbreiteten Periodisierungen orientiert, sondern diese eher dekonstruieren und das Ende der staatlichen Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte 1973/74 in der Bundesrepublik „überwölben“ (S. 9) möchte.

Im ersten, gut 100 Seiten umfassenden Teil der Studie widmet sich die Autorin ganz dem „Kommen“. Zunächst untersucht sie dafür die unterschiedlichen Strategien, die italienischen und türkischen Staatsangehörigen sowie Muslimen und Muslimas aus Algerien zur Verfügung standen, um unkontrolliert oder staatlich vermittelt in die Bundesrepublik Deutschland oder nach Frankreich einzureisen. Schon hier wird deutlich, dass sich Severin-Barboutie weniger für die staatlich vorgesehenen Einreisewege als vielmehr für die unregulierten Praktiken interessiert. Meist beschreibt sie diese unkontrollierten Migrationsbewegungen auch als vorgelagert und damit als Anlass staatlichen Eingreifens. Dadurch verdeutlicht sie, dass die staatliche Anwerbung eine viel geringere Bedeutung für das Migrationsgeschehen hatte als oft vermutet. So weist sie nach, dass wesentlich weniger Italienerinnen und Italiener das französische Anwerbesystem nutzten als von der Regierung erwartet (S. 28f.) und sie registriert einen Anstieg der privaten Vermittlung türkischer Arbeitskräfte nach Stuttgart in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre (S. 52ff.). Auch für die Einreisewege aus Algerien stellt sie fest, dass es der französischen Regierung nicht gelang, diese über das vorgesehene System „zu kanalisieren“ (S. 71).

Daran anschließend setzt sich Severin-Barboutie mit verschiedenen Reiserouten und Beförderungsmitteln auseinander, wobei sie die staatlich organisierten Reisen nach Stuttgart in einer eigenen Sektion untersucht. Die Zugreisen und den Ablauf der Anwerbung und Weiterleitung beschreibt sie schon in der Einleitung als ein „Schauspiel [...], das national wie international Wirkung entfaltete“ (S. 13). Mit großer Präzision analysiert sie hierfür ein „hybrides Quellenkorpus“ (S. 14), das schriftliche und mündliche Quellen sowie Fotografien, Filme und fiktionales Material umfasst. Wiederholt geht sie dabei beispielsweise auf die autobiografischen politischen Erinnerungen des Daimler-Benz-Arbeiters Mario d’Andrea ein.2 Die verwendete mündliche Überlieferung beschränkt sich auf Transkripte von Oral History-Interviews, die den Gesprächsverlauf meist nur fragmentarisch wiedergeben. Dabei rückt die Autorin wiederholt die Strapazen der langen Reisen und den Mangel an Menschlichkeit des Anwerbesystems in den Fokus. Severin-Barboutie geht vor allem im letzten Abschnitt des ersten Kapitels, der sich mit der „Ankunft in der Stadt“ beschäftigt, auf fotografische Quellen ein, die erfreulicherweise alle abgedruckt sind. Allerdings stammen sämtliche Fotos aus Pressearchiven. Damit findet die eigene Perspektive der Ankommenden kaum Beachtung. Hier stehen die in der Bundesrepublik Deutschland verbreitete Praxis und die Inszenierungen des feierlichen Empfangs von „Jubiläumsgastarbeitern“ im Fokus. Severin-Barboutie verzichtet in diesem Kontext, wie an vielen Stellen des Buches, auf die Ausformulierung von Thesen oder Schlussfolgerungen. Sie beschränkt sich darauf, offene Fragen in den Blick zu rücken und die Forschung zu animieren, sich weiter mit den Empfängen zu beschäftigen, da „diese eine Vielzahl an Erkenntnismöglichkeiten bieten“ (S. 140).

Im zweiten und etwas längeren Hauptteil des Buches untersucht Severin-Barboutie unter der Überschrift „Gehen – Zurückkehren – Bleiben“ verschiedene Mobilitätspraktiken und Bleibetaktiken. Dies umfasst zunächst Formen zirkulärer Mobilität, des Weiteren Modalitäten der Ausweisung, Zurückweisung und Abschiebung sowie schließlich sozialpolitische Aushandlungen des Bleiberechts. Dabei kommen widerständige Praktiken zur Sprache, wie die unentschuldigte oder durch Krankschreibungen erwirkte Urlaubsüberschreitung in westdeutschen Industriebetrieben (S. 150) und „wilde Streiks“, die beispielsweise 1972 die Daimler-Benz AG dazu veranlassten, aus den „ausländischen Beschäftigten Bleibende und damit Eingewanderte zu machen“ (S. 167, dortige Hervorhebung). Die Beschreibung der Reiserouten und Beförderungsmittel verdeutlicht, wie der Versuch, für den Tourismus vorgesehene Reisewege frei von pendelnden Migrantinnen und Migranten zu halten, in der Praxis oft scheiterte.

Bei der an diesen Teil anschließenden umfangreichen Analyse der verschiedenen Formen von Ausweisung, Zurückweisung und Abschiebung sowie der Bleibetaktiken bezieht sich Severin-Barboutie fast ausschließlich auf die Situation von Muslimen und Muslimas aus Algerien (erste und zweite Einwanderungs-Generation). Besonders betont sie dabei Momente des kollektiven Protestes und der Solidarität gegen die Diskriminierung der aus Algerien nach Frankreich zugewanderten Bevölkerung. Eines dieser Beispiele ist der Streik einer Besatzung, der 1969 das Auslaufen eines Schiffes mit algerischen expulsés verhinderte (S. 224f.). Wesentlich umfangreicher schildert Severin-Barboutie jedoch einen lokalen Hungerstreik in Lyon, bei dem sich die initiierenden christlichen Geistlichen 1981 für ein Bleiberecht der zweiten Generation algerischer Zuwanderer einsetzten (S. 256–284). Als Stuttgarter Beispiele für Bleibetaktiken dienen der Fall Robert Carters, der sich 1973 als Betreiber eines Arbeiterwohnheims für die Beschaffung von gültigen Aufenthalts- und Arbeitserlaubnissen bezahlen ließ, und drei medial gut dokumentierte Auseinandersetzungen um das Bleiberecht von türkischen Staatsangehörigen Ende der 1970er-Jahre. Auch wenn sich diese Beispiele von Bleibetaktiken aus Frankreich und Westdeutschland schon allein dadurch wesentlich unterscheiden, dass sie einerseits auf kollektiven Protest und andererseits auf eine eher juristische und mediale Auseinandersetzung setzten, werden auch Gemeinsamkeiten deutlich. So vertraten die genannten Akteure sowohl in Stuttgart als auch in Lyon „ein Konzept […], in dem nicht die nationale Gemeinschaft darüber entscheidet, wer zu ihr gehört, sondern die Individuen selbst“ (S. 290f.).

Nach einem Exkurs über das „Passieren“ schließt Severin-Barboutie ihre Studie mit einem Ausblick („Perspektiven“) an Stelle einer Zusammenfassung. Darin formuliert sie erstmals zwölf wesentliche Schlussfolgerungen ihrer Arbeit, die hier nicht umfassend wiedergegeben werden können. Dazu gehört die Erkenntnis, dass „ein Teil der […] Untersuchten ohne staatliche Vermittlung in die eine oder andere Stadt gelangten und dabei nicht immer unmittelbar aus den Herkunftsgebieten einreisten“ (S. 308) und dass jede Form der Mobilität erst mithilfe von Dingen (etwa Geld, Kleidung, Transportmittel), kommerziellen Dienstleistungen und nichtkommerziellen oder ehrenamtlichen Helfer/innen möglich wurde (S. 313f.).

Der auf vielen Ebenen mit gängigen Erzählmustern, Begrifflichkeiten und Quellengattungen brechende Zugang, der weitgehende Verzicht auf Überleitungen oder eine Ausformulierung von Zwischenergebnissen sowie viele längere im französischen Original belassene, aber in den Fließtext eingebettete Zitate machen die Lektüre des Buches mitunter sperrig. Gleichzeitig macht gerade die konsequente Unterwerfung der Quellen unter einen kritischen Blick, der die historischen Begrifflichkeiten und Semantiken einbezieht sowie Migration von der Mobilität und den Möglichkeitsräumen her analysiert, den besonderen Reiz und die Pionierleistung der Studie aus. So finden sich in dem Buch nur selten die Begriffe „Migrant“ und „Migrantin“. Diese werden ganz bewusst durch Beschreibungen der Bewegungsrichtung wie „Kommende“, „Angekommene“ oder „Zurückkehrende“ ersetzt, um die „Zeitlichkeit und Kontingenz menschlicher Bewegung und damit die Schwierigkeit ihrer eindeutigen und dauerhaften Kategorisierung“ auszudrücken (S. 12). Es bleibt zu hoffen, dass die von Bettina Severin-Barboutie formulierten zahlreichen Forschungsfragen und neuen Perspektiven viele weitere Studien dazu anregen, „Migration als Bewegung“ zu untersuchen.

Anmerkungen:
1 Jochen Oltmer, Einleitung. Staat im Prozess der Aushandlung von Migration, in: ders. (Hrsg.), Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, Berlin 2016, S. 1–42, bes. S. 5.
2 Mario d’Andrea, Aufzeichnungen eines italienischen Daimler-Benz-Arbeiters, in: Peter Grohmann / Horst Sackstetter (Hrsg.), plakat. 10 Jahre Betriebsarbeit bei Daimler-Benz, Berlin 1979, S. 37–63.