Cover
Titel
Im Schatten Humboldts. Eine tragische Geschichte der deutschen Ethnologie. Aus dem Englischen von Martin Richter


Autor(en)
Penny, H. Glenn
Erschienen
München 2019: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
287 S., 37 SW-Abb.
Preis
€ 26,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anna Valeska Strugalla, Institut für Geschichtsdidaktik und Public History, Eberhard Karls Universität Tübingen

Spätestens seitdem Bénédicte Savoy im Juli 2017 den Expertenbeirat des Humboldt Forums öffentlichkeitswirksam verlassen hat, ist die Debatte um die Neukonzeption des Berliner Stadtschlosses regelmäßig Thema in der deutschen Medienberichterstattung.1 Akteur/innen und Beobachter/innen mahnten zuletzt vermehrt, die Debatte sei zu polemisch und aufgeheizt geführt worden. (Auch) vor diesem Hintergrund wurden in den letzten Jahren mehrere Buchprojekte lanciert: 2019 haben deutschsprachige Ethnolog/innen den Gesprächsband „Das Humboldt Forum und die Ethnologie“ vorgelegt.2 Friedrich von Bose lieferte 2016 eine „Kultur-Analyse des ‚Making-Of‘“3 des Humboldt Forums, Joachim Zeller rekonstruierte 2018 die Entstehung der gesellschaftlichen Debatte, plädiert für „(radikale) Ehrlichkeit“ und rät, in den geplanten Ausstellungen auf eine Inszenierung der Objekte zu verzichten.4

Der Historiker H. Glenn Penny (University of Iowa) möchte mit seiner Monographie das Bewusstsein für den Wert der Sammlungen und Objekte ethnologischer Museen im deutschen Sprachraum zurück in diese Debatte holen. Er erzählt die Geschichte einer Vision, die am Anfang der Entwicklung ethnologischer Sammlungen stand. Diese Vision ist eng verknüpft mit der Person Adolf Bastian, von 1873 bis zu seinem Tod 1905 Direktor des Berliner Ethnologischen Museums. Bastian sah die Menschheit als „einheitlich“ an, kulturelle Ausprägungen verstand er als „Variation eines gemeinsamen Themas“ (S. 16). Diese wollte er dokumentieren und analysieren und möglichst viele Informationen über Menschen aus aller Welt, deren Ideen, Praktiken und Weltsichten zusammentragen. Zeugnisse materieller Kultur waren für ihn das ideale Medium, um das Weltbild – vor allem schriftloser – Gesellschaften zu analysieren. So verwandelte er die Trophäensammlung im Berliner Stadtschloss in ein ethnographisches Großprojekt, das als eine Gesamtgeschichte der Menschheit fungieren sollte.

Penny führt die Lesenden in fünf Erzählungen, die jeweils mit einer Objektgeschichte eröffnet werden, chronologisch durch die Zeit von 1824 bis hin zur Gegenwart. Im Zentrum jeder Episode stehen Museumsethnologen, deren Wirken für einen spezifischen Aspekt der Sammlungsgeschichte des Berliner Ethnologischen Museums exemplarisch ist (mit einer Ausnahme zum Hamburger Museum für Völkerkunde). Adolf Bastians Schaffen bildet den Mittelpunkt der ersten Erzählung und den Referenzpunkt für alle weiteren Abschnitte. Das erste Kapitel vollzieht nach, wie aus Bastians Idee einer „Gedankenstatistik der Menschheit“ (S. 38) ein Jahrhundertprojekt und schließlich ein völlig neuer Sammlungs-Typus entstand. Die gigantische vergleichende Analyse wurde zu seiner Lebensaufgabe. Getrieben von der Angst, dass die „Zivilisation“ ihm zuvorkommen würde, hetzte Bastian von einer Sammelreise zur nächsten, um geistige und materielle Kulturen vor dem Vergessen „zu retten“. Der Abschnitt schildert auch den Zustand der Sammlung und deren Präsentation im Neuen Museum auf der Berliner Museumsinsel, wo durch die verstärkte Sammeltätigkeit Platzprobleme und Unordnung dominierten.

Die systematischen Berliner Sammelreisen unter Bastian werden im zweiten Kapitel anhand des Haida-Totempfahls und der Nootka-Adlermaske erzählt. Das „Hypersammeln“ – weltweit verzweigte Netzwerke, große finanzielle Investitionen und ausschweifende Expeditionen – evozierte dann auch das Scheitern des Museums, so wie Bastian es sich erdacht hatte. Anstelle des offenen Studiensaals, in dem die Arbeit mit und das Lernen aus der Sammlung im Mittelpunkt stehen sollte, versank das 1886 neu eröffnete Völkerkundemuseum im Chaos der weiter wachsenden Bestände. Diesen Zustand nutzte Wilhelm Bode in seiner Rolle als Direktor der Königlichen Museen kurz nach Bastians Tod, um seine Vision einer Trennung von Schau- und Arbeitssammlung zu realisieren.

Das dritte Kapitel dreht sich um die kritische Haltung deutscher Ethnologen gegenüber der biologischen Rassenlehre im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Penny erzählt die Geschichte der Artefakte aus dem Königreich Benin, die als britische Kriegsbeute seit Ende des 19. Jahrhunderts nach Europa und in die Berliner Sammlung kamen. Der damalige Direktor des Berliner Ethnologischen Museums Felix von Luschan erkannte die Einzigartigkeit der Objekte und verfiel in einen „Rausch des Sammelns und des Intrigierens“ (S. 121). Dies führt Penny wieder auf die Bastian’sche Vision zurück – die Sammlungen als Retter materieller Spuren der Menschheitsgeschichte. Luschan bemühte sich, möglichst viele der begehrten Stücke nach Berlin zu holen und zu erforschen. Diese Arbeit sollte die Grundlage für sein Engagement gegen die Rassenkunde und Rassentheorie seiner Zeit werden.

Auf die Beständigkeit und die Bedeutung der globalen Helfer-Systeme, die deutsche Museumsethnologen aufbauten und so gut pflegten, dass sie selbst zwei Weltkriege nahezu bruchlos überdauerten, geht Penny im vierten Kapitel ein. Er beschreibt, wie Bastians Vision posthum infrage gestellt, aber auch weitergetragen wurde. Mit der Geschichte der guatemaltekischen Textiliensammlung wird das Hamburgische Museum für Völkerkunde eingeführt. Mittels Franz Termers Guatemala-Reisen in den Jahren 1925, 1938 und 1949 zeichnet Penny eine Karriere nach, die genau auf diesen Netzwerken fußte und von ihnen profitierte.

Im fünften Kapitel erfährt man mehr über den Umgang mit den Sammlungen, seitdem die Artefakte 1923 nach der Idee Wilhelm Bodes zum Großteil in das neue Depot nach Dahlem verbracht wurden und eine kleine Auswahl ab 1926 als Schausammlung zu sehen war. In einem straffen Überblick werden die Rolle der Völkerkunde und der Ethnologischen Museen zur Zeit des Nationalsozialismus und der Umgang des Fachs mit der eigenen Vergangenheit ab 1945 sowie der zunehmende Abstand zwischen universitärer Ethnologie und Völkerkundemuseen umrissen.

Der Verfasser ist ausgewiesener Experte für die deutschen ethnologischen Museen zur Zeit des Kaiserreichs. In seiner Arbeit Objects of Culture zeigte er 2002, dass der Aufbau völkerkundlicher Sammlungen kein Resultat des Kolonialismus war und ursprünglich nicht nur zur Entwicklung nationaler Identität dienen sollte. Auch Bastians Schaffen und seine Vision sind in der Arbeit bereits elaboriert.5Im Schatten Humboldts greift diese Erkenntnisse nochmals auf. Das Buch besinnt sich auf die Anfänge der Sammlungsgeschichte und erklärt, woran die eherne Vision Bastians scheiterte, um dann dem Prinzip ethnologischen Sammelns eine Legitimationsgrundlage in der heutigen Debatte zu verschaffen.

Mit Im Schatten Humboldts beweist Penny sein erzählerisches Können: Die deskriptiven Passagen sind spannend geschrieben, der Zugriff über Objektbiographien und wichtige Akteure lassen die Inhalte greifbar werden. Für die programmatischen Abschnitte zu Beginn und Schluss wählt der Autor eine sehr persönliche Perspektive. Ein ideales Format, um sich in der Debatte zu positionieren und sowohl das Fachpublikum als auch interessierte Laien für das Studium seiner Argumente zu gewinnen. Die inhaltliche Fokussierung auf die Berliner Sammlung ermöglicht es Penny, die Relevanz der Erkenntnisse aus Objects of Culture in die heutige Debatte zu tragen, auf einige Objektbiographien und Akteure genauer einzugehen sowie die Handlungsräume der Akteure samt Blindstellen und Fragezeichen zu skizzieren.

Pennys Beitrag zur aktuellen Debatte hilft, die Position des Faches Ethnologie darin zu verstehen. Sein Plädoyer für die Versachlichung und Rückbesinnung auf bereits erdachte Konzepte kann helfen, die Debatte in eine produktive Phase zu leiten und in seiner Aufbereitung auch ein Publikum außerhalb der Fach-Community anzusprechen. Dabei sucht seine Forderung, „die Sammlungen zu befreien“ (S. 250), neue Antworten lediglich innerhalb des Systems „Museum“. Eine Sammlung wird weiterhin im gewohnten Sinn gedacht, als Wissensspeicher, den es zu beforschen und dessen Inhalte es zu vermitteln gilt. Penny spricht sich gegen das Konzept der Schausammlung und für eine finanzielle Förderung zur intensiveren Forschung und zu Arbeitsbeziehungen mit indigenen Gruppen aus. Welchen Platz und welche Funktion dieser Wissensspeicher in einer postmigrantischen Gesellschaft einnehmen kann, wie Urhebergesellschaften der Zugang zu den Artefakten ermöglicht werden – und wie mit den (post)kolonialen Unrechtsstrukturen, die Teilen dieser Sammlungen weiterhin inhärent sind, umgegangen werden soll, bleibt unklar. So ist seine Entscheidung, die heutigen ethnologischen Sammlungen nicht per se zu kritisieren, sondern sie als Status quo zu akzeptierten, vielleicht ein erster Schritt in eine neue Diskussionsphase. Wer einen solchen Schritt geht, läuft jedoch Gefahr, die Aufarbeitung von Sammel- und Erwerbskontexten vor Ort und die dringend notwendige Einigung auf einen Modus in der Debatte um Restitutionen ein weiteres Mal zu vertagen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Interview mit Bénédicte Savoy: “Ein unlösbarer Widerspruch“, in: Süddeutsche Zeitung, 20.07.2017, online unter: https://www.sueddeutsche.de/kultur/benedicte-savoy-ueber-das-humboldt-forum-das-humboldt-forum-ist-wie-tschernobyl-1.3596423?reduced=true (15.11.2019).
2 Vgl. Karl-Heinz Kohl u.a., Das Humboldt Forum und die Ethnologie, Frankfurt am Main 2019.
3 Vgl. Friedrich von Bose, Das Humboldt Forum. Eine Ethnographie seiner Planung, Berlin 2016.
4 Joachim Zeller, Weltkulturmuseum? Koloniale Schatzkammer? Das Berliner Humboldt Forum in der Krise. Plädoyer für eine radikale Ehrlichkeit, in: ders. / Marianne Bechhaus-Gerst (Hrsg.), Deutschland postkolonial, Berlin 2018, S. 336–365, bes. S. 362ff.
5 H. Glenn Penny, Objects of Culture. Ethnography and Ethnographic Museums in Imperial Germany, Chapel Hill 2002, S. 2f., S. 18ff.