J. E. Tucker (Hrsg.): The Making of the Modern Mediterranean

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Titel
The Making of the Modern Mediterranean. Views from the South


Herausgeber
Tucker, Judith E.
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 214 S.
Preis
$ 85.00; £ 70.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Esther Möller, Institut für Kulturwissenschaften, Universität der Bundeswehr München

Eine Landkarte aus dem 16. Jahrhundert ziert das Deckblatt dieses Sammelbandes, der von der Nahosthistorikerin Judith E. Tucker herausgegeben wurde. Der gewählte Ausschnitt der Karte, deren Fund dem osmanischen Admiral und Kartographen Piri Reis zugeschrieben wird und die für ihre afrozentrische Perspektive berühmt geworden ist, zeigt Alexandria, wenn man von Süden auf die Stadt blickt. Sie illustriert damit eindrücklich die Intention des Bandes: anhand verschiedener Fallstudien vom 16. bis 20. Jahrhundert soll die Wahrnehmung des Mittelmeers aus östlicher und südlicher Perspektive herausgearbeitet werden. Von Beginn an macht die Herausgeberin dabei klar, dass das Mittelmeer für sie ein fluides und mehrdeutiges Konzept ist, das als Ort (place) nur schwer festzumachen ist, und diese Haltung zieht sich, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung, durch alle Beiträge.

In ihrer Einleitung gewährt Tucker zunächst Einblicke in die bisherige Forschung zur Mediterranen Geschichte und unterscheidet diese gewinnbringend anhand des jeweiligen Standpunkts der Forschenden: während Umwelthistoriker/innen (dazu zählt sie den spirituellen Vater der historischen Mittelmeerforschung, Fernand Braudel, aber auch Faruk Tabak) stark die (ökologische) Einheit des Mittelmeers betonen, sehen Wirtschaftshistoriker/innen (darunter rechnet sie Peregrine Horden und Nicholas Purcell, deren Buch The Corrupting Sea von 2000 als kritische Ergänzung zu Braudel zählt) Konflikte, aber wegen der vielen Interaktionen zwischen Menschen und Gütern auch die intramediterranen Verbindungen. Politikgeschichtliche Studien hingegen schauen oft stärker auf Expansion, Konflikte und Widerstand in der Region, und das gleiche gilt laut Tucker auch für Arbeiten zum Thema Religion und Kultur, auch wenn sie deutlich macht, dass heute niemand mehr die These Henri Pirennes von einer Konfrontation zwischen Islam und Christentum vertreten würde. Hier nennt Tucker die Arbeiten von Molly Greene, denen zufolge das Aufeinandertreffen verschiedener religiöser und politischer Gruppen im frühneuzeitlichen Mittelmeerraum zu Konkurrenz, aber auch zum Überschreiten etablierter Grenzen führte. Die zur Orientierung hilfreiche Forschungsdiskussion bleibt indes stark auf die akademische Welt der USA fokussiert, während jüngere Beiträge zur Geschichte des modernen Mittelmeerraumes, etwa aus Deutschland oder Frankreich, ausgeblendet werden.1

Zu Recht macht die Herausgeberin aber deutlich, dass in vielen Arbeiten westlicher Historiker und Historikerinnen zum Mittelmeer islamische, arabische und osmanische Perspektiven lange unterrepräsentiert blieben, während Arbeiten aus Nordafrika ihrerseits stark von Fragestellungen und Perspektiven der Nationalgeschichtsschreibung dominiert waren. Braudel selbst, aber auch Horden und Purcell haben bedauert, keine arabischen oder osmanischen Quellen in ihre Analysen mit einbezogen zu haben. Tucker sieht aber einen Trend zu stärkerer Betonung südlicher Perspektiven als Teil größerer Transformationsprozesse, wie dies beispielsweise Ilham Khuri-Makdisi mit Blick auf radikale politische Ideen in Beirut, Kairo und Tunis im 19. Jahrhundert gezeigt hat.2

Der Sammelband knüpft an diesen Trend an und setzt dabei auf drei Themen, die zugleich seine Struktur bestimmen: erstens ein Überdenken der Spannungen zwischen space und place und hier vor allem die Frage, wie das Leben im Mittelmeerraum von lokalen, regionalen und globalen Faktoren beeinflusst war; zweitens die Thematisierung der Konnektivität des Mittelmeers anhand des Beispiels der Piraterie als Beleg für Verbindungen, aber auch Instabilitäten in diesem Raum; und drittens die stark von europäischer Hegemonie bestimmte Wahrnehmung des Mittelmeers aus südlicher Perspektive.

Im ersten Teil hinterfragt Nabil Matar mit Blick auf die Frühe Neuzeit kritisch, ob es ein arabisches Narrativ bzw. Konzept des Mittelmeers gab und betont eher die Variation lokaler Perspektiven. So zeigt er, dass arabische Autoren bis zum 19. Jahrhundert nicht von baḥr al-mutawassiṭ (Mittelmeer), sondern von bahr al-rūm (das Meer der Römer) sprachen, weil das Meer für sie weniger eine Verbindung als eine Grenze bedeutete. Seiner Interpretation des Mittelmeers als eines rein kolonialen Konzepts könnte man freilich entgegenhalten, dass dessen Nutzung durch arabische Intellektuelle auch einen subversiven Akt der Aneignung darstellen konnte. Julia Clancy-Smith stellt Marginalisierte in den Mittelpunkt, die verloren gingen (zum Beispiel Schiffsbruch erlitten) oder versklavt wurden, und das Mittelmeer deshalb als einen Raum der Bedrohung, aber auch als Möglichkeit zur Mobilität sahen. Ihr Aufsatz bleibt fragmentarisch, bietet jedoch spannende Quellen und weiterführende methodische Überlegungen etwa zu der Frage, wie anthropologie partagée und histoire croisée zusammenzudenken wären, um sich dem Mittelmeer zu nähern. Edmund Burke III plädiert in einem Nachdruck einer früheren Veröffentlichung dafür, das Mittelmeer in größeren räumlichen und zeitlichen Zusammenhängen zu sehen, und den mikroökologischen Segmenten, die Horden und Purcell vorschlagen, die worlds of the Mediterranean entgegenzusetzen. Wie deren Weg zur Moderne konkret verlief, bleibt allerdings unklar.

Im zweiten Teil beschäftigt sich Joshua M. White mit „Sklaven-Wäsche“ (slave laundering) als einer Form des illegalen Handels mit Sklaven in der Frühen Neuzeit besonders zwischen dem Osmanischen Zentrum und Nordafrika, das nach 1580 nur noch unter geringer osmanischer Kontrolle war. Anhand osmanischer Quellen kann er zeigen, dass es vom 16. bis 18. Jahrhundert einerseits sehr genaue Gesetze über Sklaverei gab, dass diese andererseits aber auch umgangen werden konnten, wobei religiöse Zugehörigkeit durchaus eine Rolle spielte. Judith E. Tucker untersucht die Regulierung von Piraterie im Mittelmeer des 18. Jahrhunderts. Sie findet erstaunlich viele Belege dafür, dass es zwischen europäischen und nordafrikanischen Staaten die Festlegung verschiedener Regeln gab, zu denen auch die Piraten selbst beitrugen, indem sie sich entweder an diese hielten oder diese missachteten. Diese gemeinsame Nutzung des Mittelmeers für Piraterie ging im 18. Jahrhundert aber zum Vorteil der Europäer weiter auseinander.

Der dritte Teil beginnt mit einem Artikel von Osama Abi-Mershed über den Saint-Simonisten Michel Chevalier, der das Mittelmeer als einen Raum von Frieden, wirtschaftlicher Entwicklung und sozialer Reform imaginierte und damit andere kritische Haltungen gegenüber dem Kolonialismus inspirierte, aber mit seinen Ideen auch zur wirtschaftlichen und technischen kolonialen Durchdringung Algeriens beitrug. William Granara beschließt den Band mit einem Beitrag zur tunesischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Anhand des Vergleichs der Werke des kolonialistischen Schriftstellers Louis Bertrand, eines Verteters der Afrique Latine-Bewegung und des tunesischen Schriftstellers Zīn al-ʿAbidīn Sanūsī zeigt er Gemeinsamkeiten, aber auch deutliche Unterschiede in ihrer Wahrnehmung des Mittelmeers.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Sammelband seinen Untertitel Views from the South einlöst, indem er nicht nur ein Desiderat zur Geschichte des Mittelmeers markiert, sondern diese gewaltige Forschungslücke punktuell auch kleiner macht. Interessant sind vor allem die Nachweise vielfältiger Verbindungen zwischen dem östlichen und dem westlichen Teil des islamisch geprägten Mittelmeerraums, also zwischen Maghrib (Nordafrika) und Mashriq (Naher Osten). Kritisch muss jedoch angemerkt werden, dass der Band insgesamt eklektizistisch bleibt. Während der Artikel von Matar und die drei Beiträge des zweiten Teils zu Sklaven und Piraten in der Frühen Neuzeit nicht nur in ihrer wissenschaftlichen Qualität, sondern auch in ihrer thematischen Ausrichtung dem Anspruch des Bandes gerecht werden, bleiben die anderen Beiträge disparat. Und während die vier Beiträge zur Frühen Neuzeit sehr quellen- und argumentationsstark sind, liefert der Band zum 19. und 20. Jahrhundert kaum neue Einsichten. Während einige Beiträge, wie der Edmond Burkes III, „Moderne“ mit „Entwicklung“ assoziieren, spielt die Kategorie analytisch sonst kaum eine Rolle. Auch eine Diskussion der Kontinuitäten und Unterschiede des vormodernen und des modernen Mittelmeerraumes findet nicht statt, so dass das vollmundige Versprechen des Titels, The Making of the Modern Mediterranean zu erhellen, letztlich nicht eingelöst wird. Insgesamt bleibt daher zu hoffen, dass aus dieser erfreulichen Initiative noch viele weitere Werke entstehen werden, die zu einer vielschichtigen und kritischen Beschäftigung mit der Geschichte des modernen Mittelmeerraumes beitragen.3

Anmerkungen:
1 Siehe etwa Robert Ilbert, Alexandrie, 1830–1930. Histoire d'une communauté citadine, 2 Bände, Kairo 2000; Nora Lafi (Hrsg.), Municipalités méditerranéennes. Les réformes urbaines ottomanes au miroir d'une histoire comparée. Europe méridionale, Maghreb, Moyen-Orient, Berlin 2005; Christophe Picard, La mer des califes. Une histoire de la Méditerranée musulmane, Paris 2015; Cornel Zwierlein, Imperial Unknowns. The French and British in the Mediterranean, 1650-1750, Cambridge 2016.
2 Ilham Khuri-Makdisi, The Eastern Mediterranean and the Making of Global Radicalism, 1860–1914, Berkeley 2010.
3 Dazu würden beispielsweise auch jüdische oder zionistische Perspektiven gehören, die das DFG-Netzwerk „Modernes Mittelmeer: Dynamiken einer Weltregion 1800/2000“ jüngst in einer Beiruter Tagung „Questioning the Mediterranean: (Self-)Representations from the Southern Shore in the Nineteenth and Twentieth Centuries“ integriert hat: https://modernmediterranean.net/2019/09/16/iv-questioning-the-mediterranean-self-representations-from-the-southern-shore-in-the-nineteenth-and-twentieth-centuries-beirut-10-12-october-2019/ (31.05.2020).

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