Titel
Beyond the Barricades. Government and State-Building in Post-Revolutionary Prussia, 1848–1858


Autor(en)
Ross, Anna
Erschienen
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 72,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Monika Wienfort, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

In der Geschichte der modernen Staatsbildung in Europa hat einerseits lange die Frühe Neuzeit das Interesse der Geschichtswissenschaft erregt, auf der anderen Seite hat man sich für die Entstehung des Sozial- und Wohlfahrtsstaates seit dem späten 19. Jahrhundert interessiert. Mit dem deutlichen Infragestellen von „Moderne“ als normativem Konzept und den neuen Fragen einer kulturalistischen Sicht auf die Geschichte scheint aber auch immer unsicherer, was „Staatsbildung“ genau bedeuten soll. Jedenfalls kann es kaum noch um einen „Top-Down-Prozess“ gehen, sondern das Aushandeln von gesellschaftlichen Vorstellungen und politischen Maßnahmen wird vielschichtiger, verflochtener und auch ambivalenter gesehen.

Es ist daher zu begrüßen, wenn sich die in Großbritannien lehrende Historikerin Anna Ross am Beispiel Preußens erneut mit der Frage nach der Staatsbildung beschäftigt. Für ihre Perspektive hat sie ein jedenfalls auf den ersten Blick ungewöhnliches Jahrzehnt ausgewählt, nämlich die Jahre zwischen der Revolution von 1848/1849 und dem Abschied des kranken Königs Friedrich Wilhelm IV. von der Regierung 1858, einer Phase, die man lange als „Restauration“ bezeichnet hat. Ross‘ Untersuchung fügt sich damit in einen generellen historiographischen Trend ein, der solche „Restaurationen“ genauer unter die Lupe nimmt und dabei nach den Mustern von „Scharnierjahrzehnten“ sucht, mit denen als „konservativ“ bezeichnete Regierungen gleichwohl politischen, sozialen und gesellschaftlichen Wandel nicht bloß als unausweichlich akzeptierten, sondern auch aktiv beförderten. Schließlich gilt auch für das postrevolutionäre Preußen, das immerhin zum Verfassungsstaat wurde: Zu einer vorrevolutionären „guten alten Zeit“ führte kein Weg zurück.

Ross verfolgt in einer knappen und stringenten Darstellung eine bislang vernachlässigte Periode der Staatsbildung, die man auch als Inkubationsphase des Interventionsstaates des 20. Jahrhunderts verstehen kann. Sie unterscheidet sechs Themenbereiche, die allesamt der Innenpolitik zugerechnet werden können. Es geht um die zunächst liberale Konstitution, die letztlich durch die Personalauswahl von konservativen Reformern (durchaus in Kontinuität zur „Reformphase“ der preußischen Politik zu Beginn des Jahrhunderts unter Stein und Hardenberg) für die alten Eliten akzeptabel wurde. Mit einem Kapitel zur Rolle der Wissensgenerierung vor allem durch das Sammeln von Zahlenmaterial und der Verarbeitung zu Statistiken aus sämtlichen Bereichen der Staatsverwaltung nimmt Ross ein aktuell populäres Forschungsmotiv auf. Hier verfolgt man den weiteren Aufbau von Statistischen Büros, die zwar schon vor 1848 gegründet, aber nach der Revolution ausgebaut wurden. Das Sammeln von Daten spielt dann auch in anderen Themenbereichen, etwa im Kapitel über die Reform von Strafrecht, Strafgerichtsbarkeit und Gefängnissen oder beim Blick auf Landwirtschaft und Gewerbe sowie die Städte, vor allem auf Berlin, eine Rolle. Das Zusammentragen von Wissen über Einwohnerschaft, Industrie und Infrastruktur im Zusammenhang mit der Industrialisierung stellt in Ross’ Perspektive insgesamt wohl die wichtigste „Modernisierungsstrategie“ dar. Aus dem Zugewinn an Wissen wurden politische Projekte entwickelt, nicht zuletzt für den Bereich der Presse, indem sich die Regierung wenig von einer Wiedereinführung der in der Revolution abgeschafften Zensur, sondern umso mehr von einer „aktiven Pressepolitik“ im Sinne einer Förderung regierungsfreundlicher Publikationen versprach.

Die Darstellung nimmt lange erhobene Forderungen nach mehr Quellenrecherche in den preußischen Archiven ernst und wertet vor allem Bestände des Geheimen Staatsarchivs umfassend aus. So lobenswert das ist, fallen doch die Grenzen eines solchen Forschungskonzepts auf. Die „Staatsbildung“ wird aus den staatlichen Quellen der zentralen Ebene dargestellt, mehr Regionalisierung hätte Preußen möglicherweise weniger homogen erscheinen lassen. Als wichtigste Akteure erscheinen einmal mehr die Ministerpräsidenten und andere führende Politiker, ergänzt durch Amtsträger wie den berühmten Berliner Polizeipräsidenten Hinckeldey. So lässt sich der Kritik an einer die Beamtenschaft überschätzenden Sichtweise, die schon Reinhart Kosellecks Preußen-Darstellung aus den 1960er-Jahren traf, nicht beikommen.1 Über die übrigen Einwohner Preußens, die schließlich auch Teil einer „Staatsbildung“ als reziprokem Prozess sind, ihre Vorstellungen und ihren Eigensinn, erfährt man vergleichsweise wenig.

Einmal mehr widerlegt die Darstellung Vorstellungen eines „deutschen Sonderwegs“ mit preußischem Kern. Von einem Regime ständischer Nostalgiker, die den vorrevolutionären „Absolutismus“ wiederherstellen wollten, konnte alles in allem keine Rede sein. Der „Kamarilla“, also den nicht im Amt befindlichen Freunden und Beratern Friedrich Wilhelms IV., die von Ross meist „Ultrakonservative“ genannt werden, blieb es verwehrt, die Welt zurück zu verwandeln. Stattdessen bestimmten die konservativen Pragmatiker Brandenburg und Manteuffel letztlich die Richtlinien der preußischen Politik. Dabei entstand ein etatistisches Reformkonzept, das manche Ergebnisse der Revolution aufnahm, diese in konservativem Duktus aneignete und das „Scheitern“ damit zumindest relativierte. Ross‘ Darstellung der 1850er-Jahre der preußischen Regierungspolitik lässt sich damit auch als Vorgeschichte des Bismarck‘schen Konservatismus lesen, der sich nur in der pragmatischen Anpassung an eine sich verändernde wirtschaftliche und soziale Wirklichkeit behaupten konnte und damit genuin „modern“ gewesen ist.

Anmerkung:
1 Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791–1848, Stuttgart 1967.

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