Die Studie von Julien Bobineau ist aus einer von Brigitte Burrichter an der Universität Würzburg betreuten Dissertation hervorgegangen und wurde mit einem Promotions-Stipendium des Bayerischen Eliteförderungsgesetzes gefördert. Wie im Titel angekündigt, kann man in der Arbeit zwei Teile (oder „Stränge“) unterscheiden, die immer wieder und in vielfacher Weise ineinandergreifen und miteinander verwoben sind: ein historischer Teil, der die belgische Kolonialherrschaft (1870–1960) über das 80-mal so große Gebiet des zentralafrikanischen Congo belge behandelt und die darauf folgenden Jahrzehnte (1960–2010) des unabhängigen Kongo (Zaïre /République Démocratique du Congo), von den unruhigen Jahren des Übergangs mit der zentralen Gestalt des ersten Regierungschefs des unabhängigen Landes, Patrice Lumumba, dem diktatorischen Regime von Joseph-Désiré Mobutu (1963–1997) und der darauf folgenden Herrschaft des Kabila-Clans (seit 1997); und zum zweiten theoretische, kommentierende und analysierende Kapitel über postkoloniale Literatur und die sie begleitenden kolonialen Diskurse, sowohl von der Seite des belgischen Kolonisators und seiner europäischen „Komplizen“, wie auch – im historischen Rückblick – die historische und identitäre Aufarbeitung der „postkolonialen“ (die koloniale wie die postkoloniale Epoche einschließenden) Vergangenheit von kongolesischer und allgemein afrikanischer Seite.
Patrice Lumumbas historische Rolle und die Herausbildung seiner literarischen Präsentationen wird ebenfalls von zwei Seiten beleuchtet: einmal aus der Sicht der zeitgenössischen, „nationalen“ (im Bezug auf den Kongo) wie panafrikanischen und Dritte-Welt-Stellungnahmen und Kampfschriften verschiedener Gattungen, zum andern im historischen Rückblick seine Verklärung als „Vater“ der Kongo-Nation oder als Ursache und Quelle allen Übels, das über den jungen Staat hereinbrach und ihn bis heute prägt. Man mag sich fragen, worauf das fortdauernde Interesse, ja die Faszination der Figur Patrice Lumumbas beruht, die man in der Studie von J. Bobineau bereits aus den 30 Seiten Sekundärliteratur (dazu noch sieben Seiten Internetquellen) ablesen kann. Die Zeit seines öffentlichen Wirkens als Journalist und Politiker dauerte weniger als ein Jahrzehnt, seine Zeit als erster Ministerpräsident des Kongo, einige Monate, die er zum Teil in Gefängnishaft verbrachte, vom Tag der Feier der Unabhängigkeit am 30. Juni 1960 bis zu seiner Ermordung am 17. Januar 1961.
Das kurze Leben Patrice Lumumbas bot andererseits viele Anknüpfungspunkte zu einer literarischen Ausgestaltung – angesichts der vielen ikonographischen Darstellungen möchte man sagen: auch zur „Ausmalung“ – , die sich in einem ganzen Ensemble von Themen, Motiven, Symbolen und Legenden artikuliert haben (die wir an anderer Stelle einmal mit matière Lumumba bezeichnet haben, s. Anm. 1). Dabei geht es einerseits um die Person Lumumba, die in ihrem Leben verschiedene Rollen gespielt und Positionen verkörpert hat: die des jungen, ungestüm Partei ergreifenden Kämpfers um die Gleichberechtigung der Schwarzen, des hochbegabten Autodidakten, der als begnadeter Redner zum Volkstribun wurde und die Massen in seinen Bann zog, des Visionärs, der aus dem aus vielen Völkern und Sprachgruppen zusammengesetzten Kongo eine geeinte Nation machen wollte und dem dies im Endeffekt auch gelang; Mobutu, der sich in späteren Jahren gerne auf Lumumba berief und ihn als sein Vorbild darstellte, sagte wiederholt, dass Lumumba einer der wenigen war, „à penser à la fois ‚indépendance réelle‘ et ‚unité totale du Congo‘“ (S. 155).
Und gleichermaßen kann man die Geschichte des Kongo von 1870 bis 1960 auch als paradigmatisch für die gesamte Geschichte der kolonialen Unterwerfung und Ausbeutung Afrikas durch die weißen Europäer ansehen: beginnend mit dem britisch-amerikanischen Journalisten und Erfolgsautor Henry Morton Stanley, der mit List und Gewalt und betrügerischen Verträgen, die er den einheimischen Herrschern entlockte, die Besitzergreifung und Plünderung des riesigen Kongobeckens für den belgischen König Leopold II. auf den Weg brachte, über den État libre du Congo als Privateigentum des belgischen Königs, durch das dieser zum vermutlich reichsten Mann seiner Zeit wurde, bis zur wohlwollenden Billigung dieser „zivilisatorischen“ Leistung durch Bismarck und die versammelten Vertreter der damaligen Kolonialstaaten, die diesem Unrechtssystem auf der Berliner Kongo-Konferenz (15. November 1884 – 26. Februar 1885) ihren Segen gaben. Erst als im Zuge der europäischen Industrialisierung der Kautschuk zum begehrtesten Rohstoff wurde, Abenteurer aus ganz Europa in den Kongo strömten und die Nachrichten über die dabei in Kauf genommenen Grausamkeiten als Congo Atrocities sich zu einem von der ganzen Welt wahrgenommenen Skandal (1888–1908) auswuchsen, machten engagierte Missionare und der englische Journalist Edmund Dene Morel in der ersten globalen Menschenrechtsbewegung auf den Skandal aufmerksam, worauf Leopold II. den Kongo an den belgischen Staat abtrat, der hinfort als Belgisch-Kongo auf den Landkarten erschien.
Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs hatte sich die Situation des belgischen Kongo – auch Dank eines von christlichen Missionaren aufgebauten Schul- und Erziehungssystems (in dessen Umkreis auch die ersten Kritiken am kolonialen System artikuliert wurden, vgl. die Erwähnung von Paul Panda Farnana und Simon Kimbangu, S. 86) beruhigt und geriet erst wieder nach 1945 in den Sog der überall in den Kolonien fühlbaren und sich konstituierenden antikolonialen Bewegungen. Der 1925 geborene Lumumba war damals gerade 20 Jahre alt und erlebte diese Zeit auf Missionsschulen, danach als Postbeamter und Marketing-Direktor einer Bierbrauerei. Sein politisches Handwerk, seine organisatorischen und Führungskompetenzen erwarb er in verschiedenen gewerkschaftlichen und landsmannschaftlichen Vereinigungen, die in den 1950er-Jahren der jungen kongolesischen Intelligenz ein Forum boten. 1958 gründete er den Mouvement National Congolais (MNC), der als einzige Partei in sämtlichen Landesteilen Anhänger hatte und für die Einheit des Landes kämpfte. Bei den ersten Parlamentswahlen am 25. Mai 1960 ging Lumumbas Partei als stärkste politische Kraft hervor und Lumumba wurde der erste Ministerpräsident des unabhängigen Kongo.
Im Sinne der Dramatik der historischen Vorgänge, die der Autor minutiös schildert, ist es sicher bedeutsam, dass dem jungen „Wilden“ Lumumba in der Person des noch jüngeren Königs Baudouin (geb.1930, König von 1951 bis 1993) ein Antagonist gegenüberstand, der ebenso überzeugt von den Wohltaten des belgischen Kolonialregimes im Kongo war, wie Lumumba seinerseits aus eigener Erfahrung und als Teilhaber des kollektiven Gedächtnisses das Gegenteil bezeugen konnte. Der Showdown und Höhepunkt des dramatischen Geschehens war gleich am Tage der Feier der Unabhängigkeit, bei der die Reden der beiden Protagonisten unmittelbar aufeinander folgten. Der König und die anwesenden belgischen Autoritäten waren schockiert und manche Zeitzeugen waren der Meinung, Lumumba hätte damals sein Todesurteil provoziert. Die Rede blieb jedenfalls im Gedächtnis der Kongo-Nation, man kann sie als ihr Gründungsmanifest und in Stein gemeißelten Lieu de mémoire ansehen. Auch das übrige Personal, das das weitere Geschehen bestimmte, war anwesend: die „Bösewichter“, belgische Militärs und Politiker, die den „Störenfried“ Lumumba beseitigen wollten – in der Zeit des beginnenden Kalten Krieges war es ein Leichtes, Lumumba als Kommunisten zu denunzieren, als er auf der Suche nach Verbündeten für den Aufbau des Kongo war. Obgleich die Behauptung, wie der Verfasser in seinem Kapitel über Lumumba und den Kommunismus nachweist, „jeder Grundlage entbehrt“ (S. 136). Es gab die „Verräter“ aus den eigenen Reihen, die „Unbelehrbaren“, die Lumumba die Schuld an dem failed state geben werden und ihm seine Rolle im Kampf um die Unabhängigkeit bis heute nicht verzeihen. Auch die wenigen „Aufrechten“, die für die historische Wahrheit kämpften und die Aufdeckung der Umstände des Todes von Lumumba und der dafür Verantwortlichen durch Ludo de Witte (1999, dt. Übers. 2001) änderten daran wenig.1
Die Arbeit von Julien Bobineau ist sehr materialreich und behandelt viele Vorgänge bis ins Detail. Sie ist umfassend, insofern sie sowohl chronologisch wie nach Textsorten die gesamte Bandbreite der Fragestellung abdeckt. Vor allem die Lumumba-Gedichte und die dramatischen Darstellungen Lumumbas im zweiten Teil der Arbeit sind gut ausgewählt und nicht nur für Spezialisten interessant. Die Arbeit würde sicher an Lesbarkeit gewinnen, wenn größere Zusammenhänge wie die Darstellung der postkolonialen Theorien (die man heute als Teil der literaturwissenschaftlichen Allgemeinbildung ansehen kann) nicht immer wieder aufs neue aufgerollt würden. An Stelle der 1.270 Anmerkungen hätte ich mir eher einen Namens-Index gewünscht, der die wissenschaftlichen Referenzen des Autors deutlicher sichtbar machte. Einige stilistische Eigenheiten fallen auf, so der häufige Gebrauch der Demonstrativpronomina „jener“ (nach dem DUDEN: „bezeichnet eine von der sprechenden Person räumlich entferntere Person oder Sache“) oder „dieser“, die eher Verwirrung stiften. Eines von vielen Beispielen: „Jene Frauen, die an dieser Stelle als Allegorie für das kongolesische Volk zu sehen sind“ (S. 286). Es fehlt auch nicht an semantischen Missverständnissen wie diesem: „So bedeutet die Redewendung hisser les voiles (‚die Segel streichen‘ [!] im übertragenen Sinn ‚entfliehen‘“ (S. 309), oder an Coquilles und Beispielen fehlerhafter Rechtschreibung, die im Falle von Eigennamen besonders störend sind (S. 346). Eine aufmerksame Korrektur und Lektorierung hätte solche Aussetzer vermeiden helfen können und wäre der Bedeutung des Themas wert gewesen.
Anmerkung:
1 Der Verfasser wirft mir [J.R.] vor, dass ich die Arbeit von De Witte und das Ergebnis der Untersuchungskommission an keiner Stelle erwähne (S. 199, Anm. 993). Das ist richtig und wird von mir bedauert. Mein Text, der in einem Sammelband meiner Aufsätze und Vorträge in dem Band „Astres et désastres“ – Histoire et récits de vie africains de la Colonie à la Postcolonie (Hildesheim 2009) erschienen ist, trägt den Titel „Patrice Lumumba – une vie romanesque sans roman“ (S. 287–301). An der von mir darin vertretenen These des romanhaften Charakters der Vita von Patrice Lumumba, der eine romaneske Bearbeitung als gar nicht nötig erscheinen ließ, ändern die Erkenntnisse von De Witte wenig, sie bestärken sie allenfalls. Den Vortrag hielt ich im übrigen an der Universität Paris III im Rahmen eines Kolloquiums über „Lectures romanesques des Indépendances“ am 15. Januar 1999, also vor Erscheinen des Buches von De Witte. Das habe ich auch in meinem Buch (S. 386) vermerkt.