Cover
Titel
Nationalsozialistisches Strafrecht. Kontinuität und Radikalisierung


Autor(en)
Ambos, Kai
Reihe
Grundlagen des Strafrechts 6
Erschienen
Baden-Baden 2019: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
169 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christine Schoenmakers, Institut für Didaktik der Demokratie, Leibniz Universität Hannover

Die Verflechtungen zwischen NS-Deutschland und Lateinamerika waren (und sind es teilweise bis heute) vielschichtig. Sie reichten von Wissenschafts- und Ideologietransfer über Kulturpolitik bis hin zu politischen Organisationen, die als Auslandsarm der NSDAP in Südamerika fungierten und – meist unter neuem Namen – lange nach 1945 weiter aktiv waren.1 Der mit der „Volksgemeinschafts“-Idee verknüpfte Antisemitismus und Rassismus kam dabei nicht nur bei den in Lateinamerika lebenden Deutschen an. Auch autoritäre, rechte Regime verschiedener Militärs hegten teils bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Sympathien für die NS-Weltanschauung, wie das Beispiel Argentinien unter Juan Perón zeigt.2 In diesem Klima fanden ehemalige NS-Größen, die sich zum Ende des Zweiten Weltkriegs nach Südamerika absetzten, vielfach Unterstützung und Netzwerke.

Diese personellen und ideologischen Verbindungen prägen die Gesellschaften Lateinamerikas mitunter bis heute. Sie lassen sich auf vielen Feldern ausmachen, eines davon ist das Strafrecht. Hier setzt die kompakte Studie des Göttinger Strafrechtswissenschaftlicher Kai Ambos an – auch wenn es der Titel zunächst nicht vermuten lässt. Ursprünglich als Rezension angelegt, ist der Band vor allem eine Auseinandersetzung mit der 2017 erschienenen Monografie „Doctrina Penal Nazi“ des argentinischen Strafrechtslehrers und Richters am Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte Eugenio Raúl Zaffaroni.3 Durch die eingehende Überprüfung der von Zaffaroni verwendeten Quellen und dem Einbezug weiterer Primär- und Sekundärquellen ist Ambos‘ Rezension jedoch schnell zu einer eigenständigen und detaildichten Abhandlung geworden.

Im Mittelpunkt steht die Frage, was das Wesen des nationalsozialistischen Strafrechts ausmachte, wo seine Ursprünge liegen und wie es in der Gegenwart – hier speziell vor dem Hintergrund von Zaffaronis wissenschaftlichem und durchaus ambivalentem beruflichen Wirken4 – in Lateinamerika rezipiert wird und fortwirkt. Ambos baut seine Argumentation in sieben Hauptkapiteln auf. Die ersten beiden Kapitel befassen sich dabei mit den Grundlagen des NS-Strafrechts. Ambos versteht dieses in Übereinstimmung mit der die Kontinuitätsthese weiterentwickelnden Radikalisierungsthese „als rassistisch (antisemitisch), völkisch („germanisch“) und totalitär ausgerichtete Fortschreibung der autoritären und antiliberalen Tendenzen des deutschen Strafrechts der Jahrhundertwende und der Weimarer Republik.“ (S. 17) So stammten u.a. wesentliche Überlegungen zu einer „Tätertypenlehre“ bereits aus den 1920er-Jahren.5

Das NS-Strafrecht kam 1933 also weder aus dem Nichts, noch war es nach 1945 völlig verschwunden. Im Sinne der Kontinuitätsthese wirkt es, so Ambos in Anlehnung an Joachim Vogel, „bis in unser heutiges Strafrecht hinein“ (S. 21–22). Diese Kontinuität erklärt zum einen das verbreitete Schweigen nach 1945, das fehlende Verantwortungsbewusstsein zahlreicher belasteter Juristen sowie die mangelhafte juristische Ahndung des NS-Justizunrechts. Zum anderen spielt die Langlebigkeit von Ideen und Konzepten rund um den schillernden Begriff der „Volksgemeinschaft“ in diesem Kontext eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Die Utopie der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ war nach vielen Seiten hin anschlussfähig, ihre Grenzen dabei fließend. Indem Juristen diese Grenzen verhandelten, indem die Gerichte bestimmten, wer Teil der Gemeinschaft sein durfte (und wer nicht), wirkte die NS-Weltanschauung (und eine mit ihr verbundene partikulare Moral6) als sozialer Handlungsrahmen tief auf die Gesellschaft in der NS-Diktatur ein. Die Idee der NS-„Volksgemeinschaft“ ebnete so den Weg zu Ausgrenzung, Krieg und Völkermord.

Ambos widmet sich im Folgenden den Wegbereitern des nationalsozialistischen Strafrechts, der sogenannten „Kieler Schule“, insbesondere Georg Dahm und Friedrich Schaffstein, sowie deren Marburger Kollegen Erich Schwinge und Leopold Zimmerl. Das Verhältnis dieser „Schulen“ zueinander sei dabei, so Ambos, lange als antagonistisch wahrgenommen worden, obwohl ihre Vertreter gleichermaßen zutiefst antiliberal eingestellt waren. Mehr noch: Nach 1945 betonten insbesondere die „Marburger“ die (oft nur im Detail liegenden) Differenzen zu den „Kielern“, um sich vom nationalsozialistischen Strafrecht und dem eigenen Beitrag zu dessen Radikalisierung abzugrenzen. Auch Zaffaroni, so stellt Ambos fest, sei der Mär vom Schulenstreit aufgesessen: „Der Streit zwischen den „Kielern“ und den „Marburgern“ bestand […] im Kern nur darin, welcher Ansatz […] zur Überwindung des verhassten liberalen Denkens besser geeignet war“ (S. 107).

Ambos verwirft zudem Zaffaronis Ansatz, dass in der – von der „Marburger Schule“ ausgehenden – neukantianischen Ausrichtung des Strafrechts ein Grund für dessen Radikalisierung im Nationalsozialismus liege. Diese Sichtweise sei zu einseitig, denn der Neukantianismus als philosophisch-politische Bewegung vereine höchst unterschiedliche Strömungen und Persönlichkeiten (so u.a. auch die über jeden Zweifel erhabenen Gustav Radbruch und Hans Kelsen). Zwar kann Ambos Zaffaronis Gedanken insoweit folgen, als der Neukantianismus im Hinblick auf die Wandlung des Rechtsdenkens vom positivistisch-naturalistischen Prinzip hin zu einer Wert- und Zweckorientierung gewisse Weichen gestellt habe. Allerdings sei der Übergang vom neukantianischen Wertbegriff zu den materialen Wertlehren und von diesen zum Nationalsozialismus keineswegs zwingend oder linear verlaufen.

Im Gegensatz zu den „Marburgern“ wollte die „Kieler Schule“ ein eigenständiges NS-Strafrecht entwickeln und wurde mit ihren Überlegungen zu einer der wichtigsten theoretischen Stützen des NS-Regimes. Richtungsweisend war die 1932 von Dahm und Schaffstein verfasste programmatische Schrift „Liberales oder autoritäres Strafrecht“, in deren Mittelpunkt die Forderung nach Abkehr von allen liberalen Tendenzen im Strafrecht und dessen Ausrichtung zum Instrument der Abschreckung (Generalprävention) stand. Indem sie die Ausrichtung des Rechts an den Interessen des Staates legitimierten, wurden Dahm und Schaffstein zu Vordenkern der politischen Justiz im Nationalsozialismus. In zahlreichen weiteren Einzelarbeiten haben sie das NS-Strafrechtssystem konkretisiert und weiterentwickelt und trugen so auch zu einer „Normalisierung“ des Unrechts – bereits vor 1933 – bei.

Allerdings bemerkt Ambos zu Recht: „[O]hne aktive richterliche Beteiligung […] wäre das NS-Strafrechtsprojekt nicht umsetzbar gewesen.“ (S. 99) Die strenge Bindung der Richter an Recht und Gesetz war für die vor 1933 geschaffenen Normen faktisch ausgesetzt worden, sie galt aber umso strenger für alle NS-Gesetze und -Verordnungen. Es herrschte damit keine völlig freie richterliche Rechtsfindung. Dennoch blieben Spielräume – begünstigt im Wesentlichen durch die wenig konkrete Definition der NS-„Volksgemeinschaft“ als Ausgangspunkt des NS-Strafrechtsverständnisses. Dass dies Fehlurteile provozieren konnte, beklagte (nicht nur) der Rechtstheoretiker Johannes Nagler in einem zeitgenössischen Aufsatz von 1942: „Nur zu leicht täuscht ein gläubig aufgegriffenes Stichwort Inhalte von erprobter Standkraft vor und lässt das, was als Vertiefung und Bereicherung des Rechtslebens gedacht war, wieder verflachen.“7 Solche Kritik lieferte den Gerichten Hinweise, dass sie nicht jeden „Volksgenossen“ als „Volksschädling“ verurteilen mussten, wenn es bestimmte Gründe rechtfertigten.

Im letzten Kapitel widmet sich Ambos der (selektiven) Rezeption des deutschen (NS-)Strafrechts in Lateinamerika. Dort erfolgte bis weit in die 1980er-Jahre hinein eine allgemein unkritische Würdigung deutscher Strafrechtswissenschaftler, was Ambos am Beispiel Hans Welzels deutlich macht. Zwar hat sich in den letzten drei Jahrzehnten eine differenzierte Einschätzung ehemaliger NS-Juristen wie Welzel durchgesetzt. Jedoch sucht man diese, so Ambos, bei Zaffaroni vergeblich. Leider belässt es Ambos dann bei diesen recht knappen Überlegungen zur Kontinuität des NS-Strafrechtsdenkens in Lateinamerika. Insgesamt verhandelt er dieses Thema auf gerade einmal zehn Seiten, was angesichts der Aktualität und Brisanz schade ist.

Vermutlich ist dies dem Umstand geschuldet, dass Ambos‘ Studie zunächst eine knappe Rezension werden sollte und sich daher stark an Zaffaroni abarbeitet. Problematisch daran ist, dass das Buch dadurch aber nicht wirklich eine eindeutige Zielgruppe hat. Neueinsteiger/innen überfordert es durch die Detailliertheit, in die sich der Text zuweilen verliert. Insbesondere die vielen Fußnoten – sehr oft mehrere in einem Satz – unterbrechen den Lesefluss und machen das Verständnis mitunter schwierig. Expert/innen wiederum dürften von Ambos‘ Ausführungen zum NS-Strafrecht nicht überrascht sein. Für diese Gruppe stecken die spannenden Erkenntnisse wiederum in den Fußnoten, deren Inhalt sich die Rezensentin in nicht wenigen Fällen (z.B. bei biografischen Angaben wie beruflichem Fortwirken nach 1945) im Haupttext gewünscht hätte. So kommt Ambos‘ Argumentation sperrig daher, obwohl sie mit den deutsch-argentinischen Verflechtungen im Strafrecht ein wichtiges Thema umreißt, das weiter zu erforschen ein lohnendes Anliegen wäre.

Anmerkungen:
1 Siehe u.a. Jürgen Müller, Nationalsozialismus in Lateinamerika. Die Auslandsorganisation der NSDAP in Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko, 1931–1945 (Historamericana 3), Stuttgart 1997; Simone Schwarz, Chile im Schatten faschistischer Bewegungen. Der Einfluss europäischer und chilenischer Strömungen in den 30er und 70er Jahren, Bad Homburg 1997.
2 Vgl. Daniel Stahl, Lateinamerika und der Nationalsozialismus. Aktenfunde und ihre politische Bedeutung, in: Zeitgeschichte-online, Februar 2018, URL: <https://zeitgeschichte-online.de/kommentar/lateinamerika-und-der-nationalsozialismus> (31.08.2020).
3 Eugenio Raúl Zaffaroni, Doctrina Penal Nazi, Buenos Aires 2017.
4 Während der argentinischen Militärdiktatur versah Zaffaroni unter anderem das Amt eines Strafzumessungsrichters in Buenos Aires (vgl. Ambos, Nationalsozialistisches Strafrecht, S. 17.)
5 Vgl. Allgemeine Verfügung des Reichsjustizministers vom 12.3.1926, in: Justiz-Ministerialblatt für die preußische Gesetzgebung und Rechtspflege, 88. Jahrgang, Ausgabe Nr. 10. Siehe auch Christine Schoenmakers, „Die Belange der Volksgemeinschaft erfordern…“ Rechtspraxis und Selbstverständnis von Bremer Richtern im „Dritten Reich“, Paderborn 2015, S. 84 (Fußnote 124).
6 Vgl. Raphael Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Frankfurt am Main 2010.
7 Johannes Nagler, Die Entwicklung des Tätertyps in der Rechtsprechung des Reichsgerichts zu §§ 2, 4 der Volksschädlingsverordnung, in: Deutsche Rechtswissenschaft 7 (1942), S. 147–163, hier S. 159.

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