Cover
Titel
Grand Hotel Abgrund. Die Frankfurter Schule und ihre Zeit. Aus dem Englischen übersetzt von Susanne Held


Autor(en)
Jeffries, Stuart
Erschienen
Stuttgart 2019: Klett-Cotta
Anzahl Seiten
509 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Lenhard, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Als der norwegische Rechtsterrorist Anders Breivik 2011 auf der Insel Utøya 77 Menschen ermordete, wähnte er sich selbst in einem Verteidigungskampf gegen den Islam und den „Kulturmarxismus“. In seinem wirren, 1.500 Seiten starken Manifest bezog er sich damit auf eine in der extremen Rechten weit verbreitete Verschwörungstheorie, wonach die jüdischen Marxisten der „Frankfurter Schule“ einen sinistren Plan ausgeheckt hätten, um das christliche Abendland zu zerstören. Die Theorie legt sich die Geschichte des 1934 in die USA emigrierten Instituts für Sozialforschung so zurecht, dass die Flucht Theodor W. Adornos, Max Horkheimers und Herbert Marcuses vor Nationalsozialismus und Holocaust als feindliche Attacke auf die Werte und Normen des weißen, christlichen Amerika erscheint. Heute beherrsche der von den Frankfurtern entwickelte „Kulturmarxismus“ die öffentliche Meinung, kulturelle Einrichtungen und sogar staatliche Institutionen.1 Spätestens Breiviks Tat zeigt, dass solche Verschwörungstheorien nicht bloß Spinnereien sind, sondern brandgefährlich. Deshalb ist es erfreulich, dass der britische Journalist Stuart Jeffries 2016 den Versuch unternommen hat, die wirkliche Geschichte der Frankfurter Schule einem breiteren Publikum zu vermitteln. Drei Jahre später liegt nun die deutsche Übersetzung des Buches vor.

Natürlich ist Jeffries keineswegs der erste, der einen Gesamtüberblick zur Geschichte der Frankfurter Schule gibt. Sein Buch reiht sich in eine Vielzahl von mehr oder weniger gelungenen Darstellungen ein, deren wichtigste sicher die Standardwerke von Martin Jay und Rolf Wiggershaus sind.2 Deshalb stellt sich die Frage, was an Jeffries’ Buch originell oder anders ist. Die Auswertung neuer Quellen, so viel sei gleich verraten, ist es nicht. Jeffries hat keine einzige Archivquelle herangezogen und orientiert sich für seine Darstellung ausschließlich an veröffentlichten Texten und ausgewählter Sekundärliteratur. Das ist schade, doch es zu bemängeln würde dem Charakter des Buches und dem Anspruch seines Autors nicht gerecht. Zum einen möchte Jeffries die Frankfurter Schule „vor ihren Verleumdern in Schutz“ nehmen, zum anderen gegen die Vorstellung anschreiben, „dass sie uns heute, in einem neuen Jahrtausend, nichts mehr zu sagen hat“ (S. 18). Es geht also um die Aktualität der Kritischen Theorie. Und da ist es nur folgerichtig, dass Jeffries nicht allein auf wissenschaftliche Literatur zurückgreift, sondern auch reichlich auf journalistische Beiträge aus dem Feuilleton, auf Blogs oder sogar Tweets. Das ist durchaus erfrischend.

Methodisch verspricht er, eine Gruppenbiographie zu verfassen, die zugleich eine Geschichte sei, die „sich von 1900 bis heute erstreckt“ (S. 18). Er hat sich also viel vorgenommen – vielleicht zu viel. In insgesamt 18 Kapiteln, die sich über sieben chronologische Abschnitte verteilen (von „1900–1920“ bis zur „Kritischen Theorie nach 1968“), verfolgt Jeffries die Lebenswege der wichtigsten Mitglieder der Frankfurter Schule und bettet ihr Wirken in die jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontexte ein. Problematisch ist allerdings, dass der zentrale Begriff „Frankfurter Schule“ weder erklärt noch definiert wird. Zwischen „Institut für Sozialforschung“, „Kritischer Theorie“ und „Frankfurter Schule“ wird nicht unterschieden. Das rächt sich in Formulierungen wie derjenigen, der Austro-Marxist Carl Grünberg sei „Leiter der Frankfurter Schule“ (S. 72) und Leo Löwenthal einer „der Gründer des Instituts“ (S. 48) gewesen. Tatsächlich hatte Horkheimer 1931 als Nachfolger des Gründungsdirektors Grünberg das Institut wissenschaftsstrategisch vollkommen neu ausgerichtet und erstmals 1937 die Weiterentwicklung der Marx’schen Theorie in Abgrenzung zum Szientismus eine „kritische Theorie“ genannt. Zur „Frankfurter Schule“ wurde der Kreis um Horkheimer erst in den 1960er-Jahren von außen gemacht – entgegen dem Selbstverständnis der Institutsmitarbeiter.

Doch weder wissenschaftssoziologisch noch institutionengeschichtlich wird der Begriff der „Schule“ von Jeffries erörtert, sodass völlig unklar bleibt, wer eigentlich zu dieser gehört und was das einigende Band ist. Von den Institutsangehörigen präsent sind im Buch Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse, in Nebenrollen auch Erich Fromm, Franz L. Neumann und Henryk Grossmann, vor allem aber Walter Benjamin. Dagegen kommen Karl August Wittfogel, Friedrich Pollock, Leo Löwenthal, Hans Mayer, Paul Massing, Otto Kirchheimer, Alfred Sohn-Rethel, Franz Borkenau oder auch Andries Sternheim entweder nur en passant oder gar nicht vor. Seinem Protagonisten Benjamin widmet Jeffries schätzungsweise ein Viertel des Buches, denn er sei der „wichtigste intellektuelle Impulsgeber der Gruppe“ gewesen (S. 26), der „die Grundlage für die marxistisch getönte interdisziplinäre Arbeit, die später als Kritische Theorie bezeichnet wurde“ (S. 32), geschaffen habe. Jeffries’ Sympathien für Benjamin, dessen Werk zugleich „auf erfrischende Weise gegen den Strom der sprichwörtlichen Negativität der Frankfurter Schule“ gerichtet gewesen sei (S. 215), sind offensichtlich. Besonders schätzt er an Benjamin dessen Entfremdungstheorie, die sich in Jeffries’ Deutung allerdings wie ein lebensphilosophischer Authentizitätskult ausnimmt. Es sei ihm um die „Würde der Arbeit“ gegangen (S. 142), erfährt man staunend, und um „Selbstverwirklichung“ (S. 145). Eine solche Darstellung verwandelt Benjamin in eine Mischung aus Betriebsphilosoph und Life Coach.

Überzeugender sind jene Passagen des Buches, die sich mit dem amerikanischen Kontext beschäftigen, in dem sich die emigrierten Wissenschaftler bewegten. Aufschlussreich sind etwa der Abschnitt über den Pragmatismus (S. 245–247) oder die ausführliche Darlegung von Marcuses Rolle in der Neuen Linken (S. 367–386). Auch die Konflikte mit dem Kritischen Rationalismus Karl Poppers in den 1960er-Jahren werden anschaulich dargestellt (S. 397–406). Das vorletzte Kapitel, das sich intensiv Jürgen Habermas zuwendet, ist zwar interessant, aber bis zuletzt wird nicht klar, inwiefern Habermas eigentlich Teil der „Frankfurter Schule“ sein mag. Schließlich markiert seine Theorie des kommunikativen Handelns doch gerade einen fundamentalen Einspruch gegen die „sprichwörtliche Negativität“ Adornos. Jeffries referiert zwar die entscheidenden Differenzen zwischen Habermas und Adorno, zieht daraus aber keine Schlüsse für seinen schulgeschichtlichen Zugriff.

Viele Rezensenten haben die gute Lesbarkeit des Buches hervorgehoben, und diesem Urteil ist grundsätzlich zuzustimmen. Allerdings ist die eingängige Erzählweise mitunter durch ein Abgleiten in die Gerüchteküche erkauft, wenn etwa allen Ernstes die Verschwörungstheorie diskutiert wird, Benjamin sei von Stalins Schergen ermordet worden (S. 261f.), oder es als Tatsache hingestellt wird, dass Franz L. Neumann als sowjetischer Spion agiert habe (S. 306).3 Auch die vermeintlichen Details aus Marcuses Sexleben (S. 372) wären entbehrlich gewesen.

Leider sind auch zahlreiche sachliche Fehler zu beanstanden. So stand die Fabrik von Pollocks Vater nicht in Freiburg, sondern in Stuttgart (S. 27); Horkheimers Frau hieß nicht Rose „Riekehr“, sondern „Riekher“ (S. 53, S. 59); Horkheimer gehörte unter Grünberg nicht zur „Kernbelegschaft“ (S. 92); Adorno leitete das Institut nicht in den 1930er-Jahren, sondern erst 1958 (S. 93); und Horkheimer war 1931 auch nicht Adornos Vorgesetzter (S. 171), da dieser erst im Exil zum Institut stieß; Marcuse war nicht der Autor der Studien über Autorität und Familie, sondern nur eines Teilkapitels (S. 196); Löwenthal folgte Horkheimer nicht nach Kalifornien (S. 269), sondern blieb bis Mitte der 1950er-Jahre an der Ostküste; Marcuse hat den Triebbegriff nicht gesellschaftlich aufgelöst, sondern genau dies Fromm vorgeworfen (S. 339); und Homers Odyssee wurde nicht „ungefähr zehn Jahrhunderte vor Beginn der europäischen Aufklärung“ verfasst (S. 429), sondern um die Wende vom 8. zum 7. vorchristlichen Jahrhundert. Solche Lapsus können ebenso passieren wie Übersetzungsfehler (Marx hat beispielsweise niemals ein Buch mit dem Titel Beitrag zur Kritik der Volkswirtschaftslehre geschrieben; S. 404), aber in der Summe sind sie doch befremdlich.4

Nun ist das Buch aber nicht nur eine Gruppenbiographie, sondern beansprucht auch, eine Geschichte des 20. Jahrhunderts zu erzählen. Jeffries gelingt es phasenweise, kulturelle und philosophische Entwicklungen nachzuzeichnen und damit den allzu engen Fokus auf die Frankfurter Schule zu lockern. Liest man das Buch daher nicht nur als fachwissenschaftlichen Beitrag zur Geschichte der Kritischen Theorie, sondern auch als gefällig geschriebenen Streifzug durch die Geistes- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, so mag die Lektüre durchaus gewinnbringend sein. Zudem evoziert die Tatsache, dass Jeffries meinungsstark ist und seine Vorlieben (Jazz, Filme) genauso offensiv kenntlich macht wie seine Gesellschaftskritik (gegen Massenkonsum und „Bullshit Jobs“), häufig Widerspruch. Und damit wäre zumindest das Ziel, die historischen Debatten in die Gegenwart zu holen, erfüllt. Stuart Jeffries’ Buch ist weniger ein historisches als vielmehr ein politisches: nicht nur, weil es das kritische Denken gegen rechtsextreme Säuberungsfanatiker verteidigt, sondern auch, weil es zur Reflexion über unsere eigene Zeit anregt.

Anmerkungen:
1 Siehe dazu Martin Jay, Dialectic of Counter-Enlightenment. The Frankfurt School as Scapegoat of the Lunatic Fringe, in: Blog des Canadian Institute for the Study of Antisemitism, 22.12.2011, http://canisa.org/blog/dialectic-of-counter-enlightenment-the-frankfurt-school-as-scapegoat-of-the-lunatic-fringe (16.11.2019).
2 Martin Jay, The Dialectical Imagination. A History of the Frankfurt School and the Institute of Social Research, 1923–1950, Boston 1973; Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte – Theoretische Entwicklung – Politische Bedeutung, München 1986.
3 Für diese These ist die Faktenlage reichlich dünn, und keineswegs zufällig ist Jeffries’ Quelle einzig die dubiose Website https://spartacus-educational.com (16.11.2019).
4 Die Liste ließe sich verlängern; siehe auch die Hinweise in der Rezension von Jörg Später, Worüber reden die Mönche der Moderne im Café Marx?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.10.2019, S. L16.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch