Jacobsen, Wolfgang; Rittmeyer, Nicky (Hrsg.): Peter Beauvais. Vielfalt als Konzept. München 2016 : Edition Text + Kritik im Richard Boorberg Verlag, ISBN 978-3-86916-519-6 216 S. € 32,00

Musial, Torsten; Rittmeyer, Nicky (Hrsg.): Karl Fruchtmann. Ein jüdischer Erzähler. München 2019 : Edition Text + Kritik im Richard Boorberg Verlag, ISBN 978-3-86916-751-0 240 S., inkl. DVD € 29,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Knut Hickethier, Institut für Medien und Kommunikation, Universität Hamburg

Aus der Zusammenarbeit der Akademie der Künste, Berlin und der Stiftung Deutsche Kinemathek ist eine Buchreihe entstanden, die sich der längst notwendigen Aufgabe verschrieben hat, wichtige deutsche Regisseure des deutschen Fernsehfilms werkbiografisch zu erschließen. Der bislang von der Filmgeschichtsschreibung sträflich vernachlässigten Bereich des Fernsehfilms soll aufgearbeitet und damit letztlich auch deutsche Filmgeschichte neu konturiert werden.

Denn anders als bisweilen angenommen, gab es in der Bundesrepublik nicht nur den Kinospielfilm und die alte Garde der noch in der nationalsozialistischen (NS) Zeit zu Erfolg gekommenen Regisseure, die das Kino der 1950er-Jahre prägten, und die erst in den späten 1960er-Jahren durch die Regisseure des Jungen Deutschen Films wie Kluge, Herzog, Schlöndorff, Wenders oder Fassbinder abgelöst wurden. Vielmehr erreichte der Film im Fernsehen und mit dem Fernsehfilm schon früher ein sehr viel größeres Publikum als im Kino, im Fernsehen wurden die wichtigen gesellschaftlichen Themen ausführlich erörtert und dargestellt. Aber das ist von der Filmgeschichtsschreibung leider nie richtig beachtet worden, weil der Fernsehfilm keine so einflussreiche Kritikerlobby wie der Kinofilm besaß. Durch seine urheberrechtliche Bindung an das Fernsehen und dessen Archive war er zudem nur selten außerhalb des Fernsehens präsent und ist heute fast vergessen. Die Reihe „Fernsehen Geschichte Ästhetik“ der beiden oben genannten Archive widmet sich nun, gestützt auf die Nachlässe vieler Regisseure und anderer Archivmaterialien, der Aufgabe, dieses Defizit zu beheben.

Der erste, von Wolfgang Jacobsen und Nicky Rittmeyer herausgegebene Band der Reihe behandelt den Regisseur Peter Beauvais (1916–1986), der wie kaum ein anderer den bundesrepublikanischen Fernsehfilm besonders in der 1960er- und 1970er-Jahren geprägt hat. Von Rittmeyer stammen neben der Chronik, dem Werkverzeichnis vor allem die biografische Darstellung der Exilzeit von Beauvais. Dieser hatte eine jüdische Mutter und ging, da er sich der drohenden Gefahr, die vom NS-Regime ausging, früh bewusst war, als Zwanzigjähriger nach Amerika. Dort schlug er sich mehr recht als schlecht durch und versuchte immer wieder, seine Leidenschaft Theater zu spielen zu verwirklichen. Der Krieg brachte ihn, inzwischen amerikanischer Staatsbürger geworden, als Soldat zurück nach Deutschland. Er verhörte Soldaten und NS-Funktionäre im Kontext der Kriegsverbrecherprozesse und entschied sich zu bleiben. Nach 1949 versuchte er, beim Theater Fuß zu fassen, bis er schließlich beim neu entstehenden Fernsehen (hier vor allem beim Südwestfunk) als Fernsehspielregisseur erfolgreich wurde. Rittmeyers Schilderung besticht durch die Anschaulichkeit, mit der Beauvais‘ Werdegang ins Exil und wieder zurück nach Deutschland nachvollzogen wird. Das ist auch deshalb hervorzuheben, weil Beauvais sich anders als andere (z.B. Georg Stefan Troller, der aus seinem ähnlichen Lebensweg ins amerikanische Exil und zurück den Stoff für drei Filme gewann) nie detailliert über seine Exilzeit verbreitet hat. Hier wird über die einzelne Biografie hinaus das Schicksal von Teilen einer Generation deutlich, die in dieser Zeit gelebt hat.

Rolf Aurich beschäftigt sich im Folgenden mit den beiden Kinospielfilmen, die Beauvais Ende der 1950er-Jahre für die neugegründete Universum Film AG (Ufa) drehte. Er selbst war schon erfolgreicher Fernsehfilmregisseur, versuchte aber dennoch, sich in der gerade niedergehenden Kinobranche einen Namen zu machen. Dabei scheiterte er jedoch an den unzulänglichen Produktionsstrukturen dieses von der Bundesregierung finanziell aufwendig unterstützten Unternehmens.

Zentral für den Band ist dann der Beitrag von Wolfgang Jacobsen über die mehr als 100 Fernsehfilme für die Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD) und das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) von Beauvais, von denen der Autor immerhin etwas mehr als die Hälfte sichten konnte. Viele frühe Filme sind, da Live-Produktionen oder Magnetaufzeichnungen, nicht mehr existent. Da die meisten Fernsehfilme aufgrund der unbefriedigenden Archivpolitik der Fernsehanstalten einem allgemein interessierten Publikum nicht zugänglich sind, kommt ihren detaillierten Analysen und Beschreibungen durch Jacobsen besondere Bedeutung zu.

Jacobsen beschreibt Beauvais als Regisseur, der kein Autorregisseur sein wollte, aber auch keine „Industriefilme“ (wie er es selbst nannte) drehte, sondern der sich dem Drehbuch und der ihm oft zugrunde liegenden literarischen Vorlage verpflichtet fühlte. Er legte sehr viel Wert auf die Sprache und war zugleich ein „optischer“ Regisseur, der sich sehr um das inszenatorische Detail kümmerte, sich auf eine explizite Schauspielerführung verstand und auf diese Weise eine besondere Eindringlichkeit seiner Filme erzeugte. Oft arbeitete er mit dem Kameramann Jost Vacano und dem Bühnenbildner Jan Schlubach zusammen. Gemeinsam schufen sie Filme, die die bundesdeutsche Gegenwart und ihr Verhältnis zur NS-Vergangenheit thematisierten.

Es kann hier nicht auf alle Filmanalysen eingegangen werden. Jacobsen konzentriert sich zunächst auf den Film „Dorothea Merz“ (1973) nach einem Drehbuch von Tankred Dorst, um an ihm die Arbeitsweise und besondere Ästhetik von Beauvais‘ Regiearbeit deutlich zu machen. Diese Darstellung rundet er durch die Analyse weiterer Filme ab, um dann auf den Komplex von Komödien zu kommen, die Beauvais ab Mitte der 1960er-Jahre nach Drehbüchern von Horst Lommer inszeniert hat, und die den bundesdeutschen Alltag und seine Sehnsüchte aufs Korn nahmen („Jeden Sommer einen Lommer“). Sie sind bis heute einzigartig. Durch seine elegante Art der Schauspieler- und Kameraführung, in der Bevorzugung langer Einstellungen und mit zahlreichen sprechenden Details gelingt es Beauvais, eine fast unerreichte Dichte in der Beschreibung des auch für die Geschichtswissenschaft interessanten Alltags der 1960er-Jahre zu zeichnen.

In den 1970er- und 1980er-Jahren wandte er sich dann auf eine sehr subtile Art neuen und alten Konflikten der Bundesrepublik zu. Herausragend ist etwa der Film „Im Reservat“ (1973) über einen Transvestiten und eine alternde Wohnungsbesitzerin, der in einer berührend-prägnanten Darstellung eine Lebensbeziehung im West-Berlin der 1970er-Jahre zeigt. Jacobsen macht deutlich, dass es viele der Fernsehfilme verdienten, heute noch einmal gezeigt zu werden und in einer DVD-Ausgabe einem normalen Publikum zugänglich zu sein.

Hatte Jacobsen schon die Musikalität in der Regie von Beauvais hervorgehoben, wendet sich Julia Gänzel den 14 Operninszenierungen Beauvais‘ zu, die zwischen 1971 und 1986 neben der Arbeit als Fernsehfilmregisseur zustande kamen. Auch hier verstand sich Beauvais als ein in dem jeweiligen Medium agierender Erzähler von Geschichten, die vom Publikum, darauf legte er Wert, nachvollziehbar waren. Anders als Aurich und Jacobsen konnte sich Gänzel nur rekonstruktiv den Opernarbeiten nähern und aus Kritiken, Arbeitsbüchern, Notaten von Mitarbeiter/innen ein Bild der Opernregie von Beauvais entwickeln. Gleichwohl ergibt sich ein stimmiges und informatives Bild, das die vielfältige Arbeit des Regisseurs in den verschiedenen Medien hervorragend vergegenwärtigt. Insgesamt ist eine profunde Darstellung des Regisseurs entstanden, die ein prägnantes Bild eines Kapitels deutscher Fernsehgeschichte entwirft und die Filme von Beauvais hoffentlich dem Vergessen der deutschen Film- und Fernsehöffentlichkeit entreißt.

Mehr noch gilt diese Aufgabe dem von Torsten Musial und Nicky Rittmeyer herausgegebenen Band über Karl Fruchtmann (1915–2003). Denn er, der bei mehr als 40 Fernsehfilmen Regie führte, ist heute noch viel weniger Filmkenner/innen bekannt, weil er mit seinen Filmen oft als „Störenfried“ in den deutschen Wohnzimmern galt. Wieder liefert Nicky Rittmeyer mit einer ausführlichen Chronik das biografische Gerüst für den Band. Analysen seiner Film- und Fernseharbeit von Torsten Musial, Michael Töteberg und Karl Prümm setzen sich mit dem Werk auseinander und Zitate von Fruchtmann sowie zwei literarische Texte aus dem Nachlass, Drehbücher zu nicht realisierten Filmen, vervollständigen das Bild.

Fruchtmann, nach KZ und Exil 1958 nach Deutschland zurückgekommen, ohne jegliche Regieerfahrung in anderen Medien, wandte sich dem Fernsehen zu. Er wollte im Land der Täter Aufklärung betreiben, die Deutschen mit dem Holocaust konfrontieren, vor allem mit dem Schicksal der Opfer. Er wurde für eine Produktion Regieassistent bei Beauvais, kam schließlich zu Radio Bremen. Töteberg beschreibt vor allem die Produktionen, die sich mit dem deutsch-jüdischen Verhältnis beschäftigten, zeigt das kommunikative Umfeld der Produktionen, zitiert die Publikumsreaktionen, die oft antisemitischen Vorwürfe, die in den protokollierten Anrufen und Zuschauerbriefen an den Autor und den Sender überliefert sind. Er zeigt den tiefsitzenden deutschen Antisemitismus und macht damit gleichzeitig die Bedeutung der Fernsehspiele Fruchtmanns für die Gesellschaft deutlich. Der wollte vor allem emotional wirken, wollte provozieren, die Zuschauer/innen aufrütteln, weil er glaubte, nur auf diese Weise Auffassungen und Verhalten ändern zu können.

Torsten Musial beschreibt aus einer Innensicht von Radio Bremen, wie die kleinste ARD-Anstalt ihre Fernsehabteilung aufbaute, zu der Fruchtmann kam. Dort erhielt er weite Freiheiten, seine Fernsehspiele zu realisieren, weil der Sender mit seinen geringen finanziellen Mitteln nur wenige Produktionen zum ARD-Programm besteuerte und durch Qualität und Brisanz auffallen wollte. Fruchtmann wurde vor allem nach seinem ersten Fernsehspiel, bei dem er auch Autor war, „Kaddisch für einen Lebenden“ (1969) zu einem „Hausautor“ des Senders. Fast die Hälfte seiner Fernsehspiele wurde von Radio Bremen produziert.

Im letzten Analysebeitrag beschäftigt sich Karl Prümm mit dem „bildmächtigen und experimentellen Fernseherzähler des Holocaust“. Er zeigt, wie sich Fruchtmanns Regiekonzept und Bildästhetik bereits in seinen frühen Regiearbeiten ankündigt, wie er sich die Fernsehspielmaximen der 1950er- und frühen 1960er-Jahren aneignet hat und schließlich, anders als Beauvais, zu einem Autorregisseur wurde. Er zeigt, wie sich Fruchtmann dokumentarischer Stilmittel bediente, um die Wirkung seiner Darstellung zu steigern und dabei teilweise auch über die Grenzen des Zeigbaren hinaus ging – so im Fernsehspiel „Die Grube“ von 1995, das von der Ermordung von 90 Kindern durch die SS handelt. Prümm bezeichnet Fruchtmanns Filme als „Erinnerungsfilme“, und im Schaffen und Vergegenwärtigen von Erinnerungen an die Verbrechen der NS-Zeit und ihren Folgen bei den überlebenden Opfern sind sie noch heute virulent.

Fruchtmann wird von Prümm als „sozialer Erzähler“ (S. 91) bezeichnet, der die Opfer-Perspektiven in seinen Fernsehspielen manifest macht und durch die Wahl seiner oft eindringlich-drastischen Darstellungen bei Publikum Wirkung erzielen wollte. Ob er sie auch wirklich erzielt hat, wäre nachzufragen gewesen, denn die amerikanische Fernsehserie „Holocaust“, die mit einer Unterhaltungsdramaturgie arbeitete, erzeugte 1979 eine deutlich stärkere Aufmerksamkeit. Die beiden Texte aus dem Nachlass geben einen Eindruck von Fruchtmanns Schreib- und Darstellungsweise, sind jedoch letztlich weniger eindrucksvoll als seine Fernsehspiele. Dem Buch liegt eine DVD mit dem Film „Kaddisch für einen Lebenden“ bei.

Anders als das Beauvais-Buch, dessen verschiedene Beiträge sich kompakt zu einer Gesamtdarstellung verbinden, erscheint das Fruchtmann-Buch eher etwas disparat, weil es zu einigen Überschneidungen in der Darstellung vor allem zwischen den Beiträgen von Töteberg und Prümm kommt, die mit etwas Redaktionsarbeit hätten vermieden werden können. Beide Bücher zeigen jedoch, wie in den Fernsehspielen und Fernsehfilmen gerade für die Zeitgeschichte ein Fundus an Material vorhanden ist, der sehr viel über die Mentalität einer Zeit, die gesellschaftlichen Haltungen und Widersprüche zeigt und zugleich auch heute noch brisante Problemstellungen sichtbar machen kann. Für die deutsche Filmgeschichtsschreibung liefern beide Bücher (ein drittes über Eberhard Fechner ist inzwischen erschienen)1 viel Material und machen auf das Filmschaffen einiger zu Unrecht vergessener Regisseure aufmerksam. Sie fordern indirekt dazu auf, Filmgeschichte neu und beide Medien – Film und Fernsehen – umfassend zu behandeln.

Anmerkung:
1 Torsten Musial / Rolf Aurich (Hrsg.), Eberhard Fechner. Chronist des Alltäglichen, München 2019.

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