A. Schaser u.a. (Hrsg.): Erinnern, vergessen, umdeuten?

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Titel
Erinnern, vergessen, umdeuten?. Europäische Frauenbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert


Herausgeber
Schaser, Angelika; Schraut, Sylvia; Steymans-Kurz, Petra
Reihe
Geschichte und Geschlechter 73
Erschienen
Frankfurt am Main 2019: Campus Verlag
Anzahl Seiten
406 S.
Preis
€ 43,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marianne Schmidbaur, Cornelia Goethe Centrum für Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main

Jeder Beitrag in diesem Sammelband wirft Licht auf etwas Neues oder lässt Altes in neuem Licht erscheinen. Jeder Beitrag hält eine Überraschung bereit, als ob der abschließende Artikel der Kommunikationswissenschaftlerin Susanne Kinnebrock zum Zusammenhang von Gedächtnisformen und Medienlogiken Pate gestanden hätte. Überraschung, Personalisierung und Dramatisierung sind wichtige Bearbeitungsweisen, um Ereignisse zu erinnern und sie aus dem kulturellen Langzeitgedächtnis in das kommunikative Kurzzeitgedächtnis zu holen, so Kinnebrock. Dies ist den Autorinnen dieses Buches außerordentlich gut gelungen.

Einleitend knüpfen die Herausgeberinnen Angelika Schaser und Sylvia Schraut an die Verortung der Frauen- und Geschlechtergeschichte als Gegenentwurf zur Mainstream-Geschichte an. Die Zielsetzung des Bandes geht einen Schritt weiter. Frauenbewegungsgeschichtsschreibung selbst wird kritisch auf die Tradierung eigener Narrative hin befragt. Gemeinsame Frageperspektiven der 15 durchweg lesenswerten Beiträge sind die Auseinandersetzung mit Erinnerungskulturen, Einschreibungen bestimmter Positionen und Personen sowie Auslassungen und medienwirksam aufbereitete Erzählungen der Geschichte historischer und neuer Frauenbewegungen.

„[…] nur die Buhlerin war in Griechenland eine freie Frau, die ihrer Liebe folgen, die an der hohen Geisteskultur ihres Vaterlandes persönlichen Anteil nehmen konnte“, so Lily Braun 1901 in ihrem Grundlagenwerk zur Frauenfrage. Auch Simone de Beauvoir idealisierte fünfzig Jahre später in „Das zweite Geschlecht“ Hetären im antiken Griechenland. Beate Wagner-Hasel geht in ihrem Beitrag diesem Identifikationsangebot nach und untersucht es auf seine Grundlagen. Quellenkritisch betrachtet bleibt wenig von dem idealen Bild antiker Hetären übrig. Ihre großbürgerlich-aristokratische Klassenposition habe Lily Brauns und Simone de Beauvoirs Sicht auf Arbeit und Bildung in der Antike geprägt, so Wagner-Hasel.

Zwei Leitperspektiven prägen die moderne Hexenforschung: eine „rationalistische“ und eine „romantische“. Die zweite Auffassung, vertreten etwa durch Jakob Grimm und Jules Michelet, wurde in Erzählungen der neuen Frauenbewegung aufgriffen. Hexen galten als Opfer gesellschaftlicher Vorurteile sowie als weise und mächtige Frauen. Rita Voltmer plädiert für eine wissenschaftliche Rekonstruktion des Hexenwesens und eine kritische Perspektive auf „Gebrauchsgeschichte“, die Hexen-Narrative zur Herstellung kollektiver Identitäten und der Rechtfertigung eigener Weltdeutungen nutzt.

Für die „neue“ Frauenbewegung der 1970er-Jahre erschienen radikale Positionen als besonderes reizvolles Identifikationsangebot. Johanna Gehmacher setzt sich damit auseinander, angeregt durch einen 1970 vom Berliner Frauenzentrum im Eigendruck herausgegebenen Band mit Texten von Mathilde Vaerting und Anne Koedt. Am Beispiel der „Radikalen“ Käthe Schirmacher (1865–1930) zeigt sie, dass eine selektive, idealisierende Rezeption der Geschichte der Radikalen, wie sie in den 1970er- und 1980er-Jahren einsetzte, der Heterogenität dieser Gruppe kaum Rechnung trägt.

Louise Otto-Peters gehört sicher zu den spannendsten Persönlichkeiten der deutschen Frauenbewegungsgeschichte. Die Frage, wie sie selbst Tradition stiftete, erörtert Susanne Schötz. Mit einem umfangreichen schriftstellerischen und publizistischen Werk sei Louise Otto-Peters in die „Medienoffensive“ gegangen. Louise Otto, Mitgründerin des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins (ADF), kämpfte leidenschaftlich für die Selbstständigkeit der Frauen und setzte sich offensiv mit männlichen Führungsansprüchen auseinander.

Von Beginn an sahen sich die beiden wohl bekanntesten Vertreterinnen der gemäßigten bürgerlichen Frauenbewegung, Helene Lange und Gertrud Bäumer, als Historiographinnen der Bewegung. Wie sie Frauenbewegungsgeschichte schrieben, zeichnet Angelika Schaser nach. Virtuos unterstrichen die Beiden Autorität und Bedeutsamkeit ihrer Beiträge. Ihr „Handbuch der Frauenbewegung“ galt lange als allgemeines Nachschlagewerk. Erst allmählich hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es sich dabei zwar um eine äußerst erfolgreiche Meistererzählung der Frauenbewegung, keineswegs jedoch um einen neutralen, umfassenden zeitgenössischen Überblick zur Frauenbewegungsgeschichte handelt.

Systematisches Vergessen ist auch das Thema des Beitrags von Sylvia Schraut zu Lagerbildungen, konfessionellen und regionalen Brüchen in der Traditionsstiftung deutscher Frauenbewegung. Mit den 1955 herausgegebenen Quellen zur Geschichte der Frauenbewegung knüpften Emmy Beckmann und Elisabeth Kardel an die konservative Traditionslinie der gemäßigt bürgerlichen Frauenbewegungsgeschichtsschreibung an. Einmal mehr werden katholische Frauenbewegung, jüdische Frauenbewegung, Arbeiterinnenbewegung, vaterländische Frauenvereine und die Vereine der radikalen bürgerlichen Frauenbewegung marginalisiert. Maßgeblich für das Erinnern sind die Eckpunkte Geschlechterdifferenz und Selbstorganisation. Darüber hinaus spielen regionale Unterschiede eine wichtige Rolle.

Simone Ruoffner untersucht Damenverbindungen in Tübingen und Würzburg während des Kaiserreichs und in der Weimarer Republik. Die Generation der Studentinnen ab den 1920er-Jahren hatte kaum noch Verbindung zur Frauenbewegung. Aufgrund von Traditionsbrüchen und fehlender Erinnerungsarbeit ist über Damenverbindungen heute nur noch wenig bekannt.

Der Münchener Verein für Fraueninteressen und Frauenarbeit wurde 1894 von Protagonistinnen der radikalen bürgerlichen Frauenbewegung gegründet. Mit unterschiedlichen Ausrichtungen blieb er auch in Kriegszeiten und während des Nationalsozialismus bestehen. Nach 1945 konnte er – von der US-Militärregierung als „vertrauenswürdig“ eingestuft – seine Arbeit wieder aufnehmen. Mirjam Höfner wirft mit ihrer Rekonstruktion der Vereinsgeschichte ein Licht auf Bewältigungsstrategien einer historische Zäsuren überdauernden Frauenbewegungsorganisation.

Aus einer aktuellen, intersektionalen Perspektive fragt Ilse Lenz nach der Auseinandersetzung mit Ungleichheiten nach Geschlecht, Klasse, „Rasse“, Migration und Begehren. Gegenwärtig, so ihre Beobachtung, erfolgt eine neue Historisierung der Frauenbewegung mit Fokus auf „Rasse“. Dabei werden tendenziell die früheren antirassistischen Kämpfe der Einwanderinnen und der breiten inklusiven bzw. transversalen Bündnisse ausgeblendet. Sie plädiert dafür, Abgrenzungen und Identifikationsangebote, die in der Bewegungspraxis als symbolisches Kapital von Nutzen sind, in der Forschung nicht zu reproduzieren, sondern der Frage nach intersektionalen Ungleichheiten in Bewegungen empirisch offen nachzugehen.

Grundlage all dieser Erzählungen und Rekonstruktionen ist das materiale Gedächtnis. Jessica Bock und Birgit Kiupel geben einen Überblick über Frauen- und Lesbenarchive und -bibliotheken zwischen 1865 und 1933 und rekonstruieren Erinnerungsarbeit in West und Ost nach 1945. Heute präsentiert sich ein aktives Archive-Netzwerk mit einem informativen Online-Portal (https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de).

Im habsburgischen Kronland Galizien formierten sich im beginnenden 20. Jahrhundert entlang von Sprachen und Nationalitäten drei Frauenbewegungen: eine polnische, eine ukrainische und eine jüdische. Gemeinsam war ihnen die Kritik zeitgenössischer Vorstellung der Geschlechterbeziehungen als asymmetrisch und hierarchisch. Dietlind Hüchtker analysiert ihre Strategien zur Etablierung neuer Narrative, u.a. das Einschreiben „starker Frauen“ in nationale Erzählungen. Am erfolgreichsten bei der Etablierung von Erinnerungsspuren an die galizische Frauenbewegung in der europäischen Frauenbewegungsgeschichte war die polnische Bewegung

Biographische Erzählungen bildeten ein populäres Genre der historischen Frauenbewegungsgeschichtsschreibung, so Tiina Kinnunen. In ihrem Beitrag analysiert sie Verkürzungen und Potenziale dieser Form von Bewegungsgeschichte am Beispiel frauenbewegter Biographien in Finnland und Schweden um 1900.

Ruth Nattermann entwirft eine Gegengeschichte zur verbreiteten Einschätzung einer Rückständigkeit der frühen italienischen Frauenbewegung. Friede, Abolitionismus und Mutterschaftsversicherung waren zentrale Themen. Durch Verfolgung und Zwangsemigration während des italienischen Faschismus gingen Erinnerungen, Dokumente und Objekte verloren. So ist die Geschichte der frühen und international vernetzten italienischen Frauenbewegung fast in Vergessenheit geraten.

Ist es zu früh für ein „kollektives Gedächtnis“?, fragt schließlich Soraya Gabete Muñoz in Bezug auf die feministische Bewegung in Spanien. Eine organisierte historische Bewegung gab es im katholisch geprägten Spanien nicht. Erst seit den 1970er-Jahren entwickelten sich an Universitäten und in Nachbarschaften Frauenbewegungen, die Diskriminierung anprangerten und die vergessene Geschichte der Kämpfe ums Frauenwahlrecht sowie die Beteiligung von Frauen an demokratischen Bewegungen rekonstruierten.

Im Dialog zwischen Geschlechtergeschichte und Frauenbewegungsgeschichte/n reflektieren die Beiträge dieses Bandes Erinnerungskulturen europäischer Frauenbewegungen vom 19. bis ins 21. Jahrhundert. Die Herstellung kollektiver Frauenbewegungsidentitäten durch die Schaffung historisch untermauerter Leitbilder und Spurensuchen, die Frauen und damit „andere“ Leistungen, Erfahrungen, Tätigkeiten und Personen sichtbar machten, wird einer professionellen Relektüre unterzogen. Vielfach gelingt es den Beiträgen ausgezeichnet, das Spannungsverhältnis zwischen Bewegung und Ordnung, Politik und Wissenschaft zu halten und produktiv auszudeuten. Es wird einmal mehr deutlich, wie einflussreich die 1950er- und 1960er-Jahre für Erinnern und Vergessen in einem geteilten Deutschland mit sehr unterschiedlichen Auseinandersetzungs- und Bewältigungsformen der unmittelbaren NS-Geschichte waren und bis heute sind. Internationale Beiträge verweisen auf transnational geteilte Themen und dichte grenzüberschreitende Beziehungen, aber auch auf hegemoniale Vorstellungen von Bewegungsverläufen. Intersektionale Ansätze bahnen den Weg für weitere, „radikale“ Frageperspektiven. Eine Fortsetzung der Debatte ist zu wünschen.

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