„(S’)Aider pour survivre“ befasst sich mit dem Zusammenhang zwischen dem humanitären Wirken in der Schweiz und der Neutralität im Ersten Weltkrieg, wobei das Internationale Rote Kreuz im Zentrum der Untersuchung steht. Cédric Cotter stützt sich dafür auf die Bestände des Internationalen Roten Kreuzes, insbesondere der „Internationalen Zentralstelle für Kriegsgefangene“, auf das Archiv des dänischen Roten Kreuzes im dänischen Nationalarchiv, auf Materialien der „National Archives College Park“ sowie des Schweizerischen Bundesarchivs in Bern. Daneben hat er eine Fülle gedruckter Quellen und Studien zu den zentralen Themen der Arbeit (humanitäre Hilfe, Neutralität, insbesondere für die Zeit des Ersten Weltkriegs und im transnationalen Vergleich) konsultiert. Die überaus umfangreiche Dissertation ist einem kulturgeschichtlichen Zugang verpflichtet. Sie gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil ist dem Internationalen Roten Kreuz gewidmet. So werden vorerst die Situation des IKRK vor und während des Ersten Weltkriegs, die Rahmenbedingungen seiner Aktivität und die Herausforderung „Kriegsgefangene“ diskutiert. Danach wird die Neutralität des IKRK unter die Lupe genommen und zwar sowohl in dessen Äußerungen wie in dessen Handeln. Ein spezifisches Augenmerk gilt dabei dem Agieren und der besonderen Rolle des IKRK-Präsidenten (1910–1928) und Bundesrats (1917–1919) Gustave Ador. Im zweiten Teil befasst sich Cédric Cotter mit der Frage, inwiefern die humanitäre Hilfe der Schweiz und ihrer Innenpolitik diente. Dafür spannt der Autor das Feld der humanitären Aktivität auf, in welchem sich staatliche Akteure, das Schweizerische Rote Kreuz und andere humanitär befasste Organisationen bewegten. Schließlich fragt er danach, wem die Konstellation der engen Beziehungen inwiefern nützte und diskutiert dabei wieder speziell Gustave Ador, diesmal als Kreuzungspunkt der unterschiedlichen Perspektiven. Im darauffolgenden Kapitel entwickelt Cédric Cotter seinen Begriff der „Neutralitätskultur“ und deren Funktion für das nationale Selbstverständnis und den kulturell-sozialen Frieden im Land. Den dritten Teil widmet der Autor der globalen Einordnung der humanitären Hilfe des IKRK und der Schweiz. Dabei stellt er im ersten Kapitel die außenpolitische(n) Funktion(en) der humanitären Hilfe dar, sowohl für die Neutralen wie auch im Besonderen für die USA, deren Wechsel von einer neutralen zu einer Kriegspartei auch die humanitären Aktionen in einen anderen Zusammenhang stellte. Im folgenden Kapitel wendet er dann eine vergleichende und transnationale Perspektive auf die humanitäre Hilfe an, indem er darlegt, in welcher Weise kriegführende Parteien wie auch Neutrale humanitär aktiv waren und welche Absichten sie neben der effektiven Hilfeleistungen mit ihrem humanitären Engagement verbanden. Zuletzt stellt er dar, wie die verschiedenen Akteure in einem Spiel von Zusammenarbeit, Profilierung und Konkurrenz ihre Aktionen betrieben, wobei das IKRK und die Agentur (Internationale Zentralstelle für Kriegsgefangene) um die Führung im Feld der humanitären Hilfe für die Kriegsopfer rangen.
Die Literatur zum IKRK und zur humanitären Hilfe der Schweiz ist bislang stark bestimmt gewesen von mythischen Vorstellungen der besonderen Mission der Schweiz. Cédric Cotter gelingt es, die Funktion der diskursiven Verbindung von humanitärem Engagement und Neutralität für die spezifische Situation der Schweiz im Ersten Weltkrieg, aber auch für andere Staaten zu beschreiben, das jeweilige diesbezügliche Handeln davon getrennt zu analysieren und zu zeigen, welche Effekte und Nutzen das humanitäre Engagement für die jeweiligen Akteure hatte. Seine Arbeit schreibt sich so mit ihrem entmythifizierenden Impetus und damit, dass ihr Gegenstand konsequent in eine transnationale Perspektive überführt wird, in die Absicht des Forschungsprojekts ein, in dessen Kontext sie entstanden ist.1 Der Autor ermöglicht durch seine Studie zudem, Anja Hubers Ergebnisse zu den Internierten in der Schweiz 2 in der Perspektive der europaweiten Aktionen zur Erfassung, Betreuung und allenfalls auch Rückführung von Kriegsgefangenen bzw. Internierten in den Blick zu nehmen. Außerdem ergänzt er die Einsichten von Florian Weber zu den schweizerischen Anstrengungen für die Schaffung einer besonderen Beziehung zu den USA ab 1917, indem er zeigt, dass ab 1917 schweizerische diplomatische Bemühungen in den USA nicht nur auf die Ernährungssicherheit abzielten,3 sondern auch darauf, die eigene neutrale Haltung in den kriegerischen Auseinandersetzungen mit der großen Bedeutung des humanitären Engagements des IKRK und der Schweiz legitimierend zu erklären.
Cédric Cotter behandelt im ersten Teil seines Buches das IKRK: Er referiert die bisherige Literatur zur Organisation im Ersten Weltkrieg, welche die außerordentliche Bedeutung des Krieges für die Stellung des IKRK in der humanitären Hilfe betont und die Organisation als gestärkt und als Referenzpunkt für die humanitäre Hilfe in der Schweiz etabliert gesehen habe. Nur sei es dem IKRK nicht gelungen, den Kriegsopfern so zu helfen, wie es sein Anspruch gewesen sei. Dies vor allem, weil es immer im Rahmen des geltenden Rechts gehandelt habe (S. 158). Der Autor kommentiert diese Auffassungen, indem er zum Ersten hervorhebt, dass das IKRK in hohem Ausmaß vom Wohlwollen der kriegführenden Staaten abhängig geblieben sei. So habe das IKRK zuerst lernen müssen, über die Entfaltung diplomatischer Aktivität Prinzipien wie etwa die Reziprozität zu verankern, auf deren Basis dann seine konkrete Arbeit leichter durchführbar gewesen sei. Daneben sei die Liga der nationalen Rotkreuzgesellschaften (später Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften) zu einer veritablen Bedrohung für IKRK herangewachsen. Des Weiteren betont er, wie sehr das IKRK seine (eigene) Neutralität gegenüber den Kriegsparteien – meist unabhängig von der Neutralität der Schweiz – betont habe. Dies, obwohl seine Präferenzen für die Entente eindeutig gewesen seien und seine Haltung ihr gegenüber deutlich konzilianter gewesen sei. Dennoch habe es sich aber immer um Hilfe für alle Kriegsopfer bemüht.
Den zweiten Teil zur humanitären Hilfe in der Schweiz und deren Funktion für das Land betreffend zieht Cédric Cottier Bilanz, indem er nochmals die besondere Bedeutung des IKRK als „modèle de référence“ hervorhebt, gleichzeitig aber von hunderten von karitativen Organisationen spricht, die in der Schweiz aktiv waren. Dies habe, so der Autor, zur Notwendigkeit von Absprachen geführt, wobei das IKRK gleichzeitig bemüht gewesen sei, seine Vorherrschaft im Feld zu wahren. Gleichzeitig habe es alles unternommen, um der Schweiz und ihrer Aussenpolitik zu dienen. Noch bedeutsamer als für die Aussenpolitik erachtet aber der Autor die Funktion der humanitären Hilfe für die Innenpolitik. Sie sei, neben der Geschichte, der Landschaft, dem politischen System und der Armee ein wichtiger Pfeiler der schweizerischen Neutralitätskultur geworden. Das Selbstbild habe sich als eines geformt, das auch bestimmt gewesen sei durch eine aktive Hilfe für andere: Diesem Bild zufolge seien Angehörige aller Gesellschaftsschichten zusammengerückt, es sei ein gewisser Heroismus geweckt worden und eine nicht gerade begüterte Bevölkerung habe sich die Hilfe für Unglückliche abgespart. Weil man so habe helfen können, sei man – in der Selbstwahrnehmung – ein privilegiertes Land (S. 344). Dieses neu verankerte Selbstbild korrespondiere allerdings in keiner Weise mit der effektiven Beteiligung der Bevölkerung an der humanitären Hilfe, vielmehr sei diese die Angelegenheit von Eliten gewesen. Kommentare aus der Zeit hätten das Bild eines humanitär engagierten Landes als eigentliches Erbe des Ersten Weltkrieges gezeichnet. Dies, obwohl die Zeit des Ersten Weltkriegs in der Retrospektive eine dunkle, konfliktvolle Zeit gewesen sei, in der man einen hohen Preis für die mangelhafte Vorbereitung auf den Krieg bezahlt habe.
Die Bilanzierung der vergleichenden und transnationalen Perspektive des dritten Teils beginnt Cédric Cottier mit der Betonung des außenpolitischen Nutzens der humanitären Hilfe und insbesondere der Aktivität des IKRK für die Akzeptanz der neutralen Position der Schweiz im Krieg. Dieser Mechanismus ist gemäß dem Autor weit entfernt davon, für die Schweiz einen Sonderfall zu begründen, da die humanitäre Hilfe eine universelle Erscheinung und für alle Neutralen ein wichtiges Element der Rechtfertigung ihrer Stellung gegenüber den kriegführenden Ländern, aber auch des Zusammenhalts in der eigenen Bevölkerung gewesen sei. Allerdings, so der Autor, waren die Erfahrungen als neutraler Staat im Krieg unterschiedlich und prägten das weitere Verhältnis zur Neutralität. Die Mehrzahl der Neutralen des Ersten Weltkriegs seien enttäuscht und gedemütigt aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen und von den Kriegsmächten mit Vorwürfen überschüttet worden. Die humanitäre Hilfe habe also nicht ausgereicht, um den neutralen Status auch für die Zukunft als einen gangbaren politischen Weg erscheinen zu lassen. Schweden und die Schweiz seien hier die Ausnahmen: Schweden habe die Neutralität aus Opportunitätsgründen gewählt und sei mit dieser Strategie zufrieden gewesen. Demgegenüber sei der Erste Weltkrieg für die Schweiz eine wichtige Phase gewesen, in der es ihr, nicht zuletzt wegen der humanitären Hilfe, gelungen sei, die Neutralität als selbstgewählten Status zu definieren – und dies danach auch im Völkerbund als anerkannte Position beizubehalten. Cédric Cotter betont, dass weitere Forschungen notwendig seien, um die Relation Neutralität-humanitäre Hilfe (im Vergleich) zu verstehen. Dennoch lasse sich festhalten, dass es der Schweiz offenbar gelungen sei, eine spezifische Neutralitätskultur zu etablieren. Dazu gehöre auch, dass die Schweiz aus ihrer humanitären Haltung, ihren Werken und ihren Einsätzen Nutzen ziehe. Dies vermehrt mit in den Blick zu nehmen, wäre, so die Hoffnung Cédric Cotters, geeignet, um der humanitären Hilfe in der schweizerischen Bevölkerung auch heute noch zu mehr Akzeptanz zu verhelfen.
„(S’)Aider pour survivre“ ist eine überaus anregende Studie zur humanitären Hilfe, zur Schweiz im Ersten Weltkrieg unter den Aspekten von Neutralität und humanitärer Hilfe und zum Zusammenspiel von Transnationalität und dem Gewicht nationaler Staaten. Leider ist die Untersuchung überaus ausführlich und teilweise auch etwas repetitiv. So verlangt sie eine hohe Disziplin bei der Bewältigung ihrer 500 Seiten. Die gewonnenen Kenntnisse und Einsichten rechtfertigen die Anstrengung aber zweifellos.
Anmerkungen:
1 Die Schweiz im Ersten Weltkrieg: Transnationale Perspektiven auf einen Kleinstaat im totalen Krieg. Sinergia 141906. <http://p3.snf.ch/Project-141906> (29.08.2019).
2 Anja Huber, Fremdsein im Krieg. Die Schweiz als Ausgangs- und Zielort von Migration. 1914–1918 (Die Schweiz im Ersten Weltkrieg 2). Zürich 2018, insbes. Kap. 7.
3 Florian Weber, Die amerikanische Verheißung. Schweizer Außenpolitik im Wirtschaftskrieg 1917/18 (Die Schweiz im Ersten Weltkrieg 1). Zürich 2016, insbes. Kap. 3 und 4.