A. Weinstock: Theater und Erziehung im 18. Jahrhundert

Cover
Titel
Das Maß und die Nützlichkeit. Zum Verhältnis von Theater und Erziehung im 18. Jahrhundert


Autor(en)
Weinstock, Alexander
Reihe
Theater
Anzahl Seiten
392 S.
Preis
€ 39,99
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Tim Zumhof, Institut für Erziehungswissenschaft, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Wenn „die Bühne eine Schule des Geschmackes sowohl als der Sitte, und ein Spiegel des Lebens sey [...]; so muß die Schule eine Bühne des Witzes, der Tugend und des Wohlstandes seyn“, schrieb Johann Gotthilf Lindner, der als Rektor der Domschule von Riga kurzfristig Mentor und Vorgesetzter Johann Gottfried Herders war, 1762 einleitend zu seiner Sammlung von Schultheaterstücken.1 Während die pädagogische Dimension der Schaubühne im 18. Jahrhundert unter Schillers Chiffre der „moralischen Anstalt“ bereits gründlich untersucht wurde2, widmen sich derzeit verschiedene Studien der wechselseitigen Bezugnahme von Schule und Bühne, Erziehung und Schauspiel, Pädagogik und Theater, die in Lindners Zitat anklingt. Neben Martin Jörg Schäfers zuletzt erschienener Arbeit über „Das Theater der Erziehung“3, thematisiert auch Alexander Weinstock in seiner bei Transcript erschienenen Dissertation „Das Maß und die Nützlichkeit“, die unter anderem von Schäfer mitbetreut wurde, das „Verhältnis von Theater und Erziehung im 18. Jahrhundert“. Der Autor formuliert hier die These, dass im 18. Jahrhundert in Deutschland neben der „Pädagogisierung des Theaters“ (S. 12) auch eine „Theatralisierung der Pädagogik“ (S. 17) stattgefunden habe. Diese Reformprozesse weisen, so Weinstock, eine „strukturelle Verwandtschaft“ (S. 17) auf, da sich beide an den gleichen Leitkategorien – an Maß beziehungsweise Wohlanstand und Nützlichkeit – orientierten. Beiden Prozessen sowie ihrer verschlungenen Beziehung zueinander widmet sich Weinstock daher in zwei umfangreichen Teilen seiner Arbeit und resümiert mit einem knapperen, abschließenden Kapitel, in dem er zeigt, wie sich die beschriebenen Entwicklungen im Erziehungs- beziehungsweise Bildungsroman niederschlagen und dort quasi zur Vollendung gebracht werden. In den zeitgenössischen Romanen mit großer Prägekraft – Anton Reiser und Wilhelm Meisters Lehrjahre – werden Fragen der Lebensformung daher „aufs engste mit dem Theater und pädagogischen Institutionen verknüpft“ (S. 360).

Als Quellengrundlage zieht Weinstock neben diesen Schlüsselromanen weitere für die Literatur- und Theatergeschichte einschlägige Texte und Quellensammlungen heran. Hierzu gehören insbesondere die edierten Schriften Gottscheds inklusive der von ihm herausgegebenen „Beyträge zur critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit“, aber auch die von Lessing und Schiller sowie der Quellenband von Korte, Jakob und Dewenter zur Historischen Theaterpublikumsforschung.4 Die ganze Breite theaterjournalistischen Debatten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die Peter Heßelmann in seiner Habilitationsschrift5 erschlossen hat, schöpft Weinstock leider nicht aus. Intensiv befasst er sich hingegen mit den Schriften Campes und etlichen Beiträgen aus dem für die philanthropische Pädagogik zentralen Journal „Pädagogische Unterhandlungen“.

Eine Pädagogisierung des Theaters sieht Weinstock dort, wo sich in der Diskussion über die Institutionalisierung des deutschsprachigen Theaterwesens verstärkt pädagogische Argumentationen finden lassen wie beispielsweise in Gottscheds Normpoetik, Lessings Mitleidsdramaturgie, Schlegels Wirkungsästhetik oder in den zahlreichen theaterjournalistischen Beiträgen. Weinstock weist zudem nach, dass mit der moralpädagogischen Legitimation der Schaubühne ein Maßstab geschaffen wurde, an dem nicht nur die Qualität der Theaterproduktionen beurteilt werden konnte, sondern durch den auch „antimimetische“ (S. 80) Theaterformate – also solche, die keinen Anspruch auf eine „realistische“ oder vernünftige Darstellung der Wirklichkeit erheben wie etwa in der Oper –, oder das der Barock-Rhetorik verpflichtete Schultheater abgewertet wurden. An ausgewählten Quellen zeigt Weinstock ferner, dass den am Theaterbetrieb beteiligten Akteuren – den Schriftstellern (S. 93–126), Theaterkritikern (S. 127–140), Schauspielern (S. 164–190) und dem Publikum (S. 140–164) –, pädagogische Aufgaben und Funktionen zugewiesen wurden. Idealisierte Verhaltensweisen, wie etwa eine angemessene Schauspiel-, Beurteilungs- oder gar Zuschaukunst, sollten bei den jeweiligen Akteuren durch erzieherische und disziplinarische Maßnahmen hervorgerufen werden. Hierbei stellt sich heraus, dass das Wissen um die Wirkungspotenziale der Bühne eine doppelte anthropologische Wende vollzogen hat: Zum einen erwies sich die Darstellung menschlicher Leidenschaften und Verhaltensweisen auf der Bühne als eine Inszenierung anthropologischen Wissens, zum anderen brachten Wirkungsästhetiken anthropologisches Wissen zur Anwendung, wenn sie auf die Organisation von Aufmerksamkeit des Publikums abzielten. Weinstock konzentriert sich bei der Rekonstruktion dieser Beobachtungen, Korrekturvorschläge und Normierungsanliegen allerdings ausschließlich auf den deutschsprachigen Diskursraum und vernachlässigt damit die sehr rege Zirkulation von schauspiel-, theater- und dramentheoretischen Ideen in Europa.6

Einer chiastischen Umkehrung folgend, entfaltet Weinstock im zweiten Teil seiner Arbeit dann die innovative Hypothese, dass sich in den programmatischen Texten und publizistischen Beiträgen der philanthropischen Pädagogik ein Bezug zum „reformierte[n] Theater“ (S. 192) zeige und daher von einer Theatralisierung der Erziehung zu sprechen sei. Diese theatrale Dimension in der Theorie und Praxis der Aufklärungspädagogik weist Weinstock an verschiedenen Stellen nach: Neben einigen Hinweisen auf die grundsätzlich „inszenatorische Arbeit des Philanthropismus“ (S. 202), arbeitet er die verschiedenen Beteiligungsformen von Schülern am Theater heraus. Er zeigt, wie die Philanthropen dramatische Spiele innerhalb und außerhalb des Unterrichts einsetzten und welche poetologischen und pädagogischen Richtlinien bei diesen Kindertheaterspielen berücksichtigt werden sollten (S. 215–248). Ausführlich erklärt der Autor zudem die Funktionsbestimmung des Lehrers und Erziehers als „verkörpertes Exempel“ (S. 265) sowie seine pädagogische Maskerade als „väterlicher Freund“ (S. 282) gegenüber den zu Erziehenden (S. 248–283). Im Kapitel zur „Theatralität der Methode“ (S. 283–305) geht es um die Einrichtung eines pädagogischen Beobachtungsregimes – das allerdings keine Erfindung der Philanthropen war, sondern sich schon in der Pädagogik der Jesuiten, des Jansenismus und des Pietismus finden lässt.7 Zuletzt hebt Weinstock hervor, wie dramatische Formate und Stilmittel in der philanthropischen Publizistik eingesetzt wurden – insbesondere in Campes Robinson der Jüngere (S. 306–332).

Ob hiermit die philanthropische Pädagogik tatsächlich vom „reformierte[n] Theater“ (S. 192) inspiriert, angeregt und motiviert wurde, bleibt jedoch mehr These als Befund, denn zum einen konnte die Schaubühne den Ansprüchen der Reformer nur selten gerecht werden. In diesem Sinne warnte auch die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte davor, die tatsächliche Theaterpraxis nicht „mit Vorstellungen einiger Protagonisten des ‚aufgeklärten Denkens‘ zu verwechseln.“8 Zum anderen lässt sich die konstatierte Verwandtschaftsbeziehung von Theater und Erziehung nicht nur vor dem Hintergrund sozialgeschichtlicher Kategorien wie Nützlichkeit und Wohlanstand, sondern auch im Lichte der Rezeption sensualistischer und empiristischer Theorieimporte betrachten. Die Schaubühne und die Pädagogik der Philanthropen fallen dann gemeinsam in ein erkenntnistheoretisches Paradigma, das sich an der Verarbeitung sinnlicher Eindrücke und Erfahrungen ausrichtet und sich an den Vorgaben des Rationalismus abarbeitet.9

Akzeptiert man aber diese sozial- und ideengeschichtlichen Limitationen der Arbeit, dann bietet sich dem/der Leser/in eine gelungene und sehr aufschlussreiche Darstellung der wechselseitigen Bezugnahme von Theater und Pädagogik im deutschsprachigen Diskursraum im 18. Jahrhundert an ausgewählten Quellen. Weinstock zeigt, wie die strukturellen Reformen und quasi-experimentellen Verfahrensweisen der philanthropischen Pädagogik sowie der Wirkungsästhetiken des Theaters Eingang fanden in das Aufklärungsprojekt der „Menschenbeobachtung“.

Anmerkungen:
1 Johann Gotthelf Lindner, Beitrag zu Schulhandlungen, Königsberg 1762. S. [If].
2 Vgl. hierzu beispielsweise Hans-Jörg Grell, Theater, in: Notker Hammerstein / Ulrich Herrmann (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Band 2: 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800, München 2003, S. 521–532; Roland Dressler, Von der Schaubühne zur Sittenschule. Das Theaterpublikum vor der vierten Wand, Berlin 1993; Hilde Haider-Pregler, Des sittlichen Bürgers Abendschule. Bildungsanspruch und Bildungsauftrag des Berufstheaters im 18. Jahrhundert, Wien 1980.
3 Martin J. Schäfer, Das Theater der Erziehung. Goethes ‚pädagogische Provinz‘ und die Vorgeschichte der Theatralisierung von Bildung, Bielefeld 2016.
4 Hermann Korte / Hans-Joachim Jakob / Bastian Dewenter (Hrsg.), „Das böse Tier Theaterpublikum“. Zuschauerinnen und Zuschauer in Theater- und Literaturjournalen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Eine Dokumentation, Heidelberg 2014.
5 Peter Heßelmann, Gereinigtes Theater? Dramaturgie und Schaubühne im Spiegel deutschsprachiger Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts (1750–1800). Frankfurt am Main 2002.
6 Vgl. hierzu Jutta Golawski-Braungart, Die Schule der Franzosen. Zur Bedeutung von Lessings Übersetzungen aus dem Französischen für die Theorie und Praxis seines Theaters, Tübingen 2005; Günther Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2000.
7 Vgl. hierzu beispielsweise Kathrin Berdelmann, „Sein Inneres kennen wir nicht, denn es ist uns verschlossen“ – Schulische Beobachtung und Beurteilung von Kindern im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Grundschulforschung 9 (2016), 2, 9–23; Heidrun Diele / Pia Schmid, Zu den Anfängen empirischer Kinderforschung in Deutschland, in: Christian Ritzi / Ulrich Wiegmann (Hrsg.), Beobachten. Messen. Experimentieren. Beiträge zur Geschichte der empirischen Pädagogik / Erziehungswissenschaft, Bad Heilbrunn 2010, S. 51–76.
8 Erika Fischer-Lichte, Zur Einleitung, in: Erika Fischer-Lichte / Jörg Schönert (Hrsg.), Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache, Göttingen 1999, S. 11–20, hier S. 12.
9 Vgl. hierzu Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Hamburg 2015.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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