H. Köhler: Deutschland auf dem Weg zu sich selbst

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Titel
Deutschland auf dem Weg zu sich selbst. Eine Jahrhundertgeschichte


Autor(en)
Köhler, Henning
Erschienen
Stuttgart 2002: Hohenheim Verlag
Anzahl Seiten
749 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manfred Görtemaker, St. Antony's College Oxford

Der Berliner Historiker Henning Köhler ist das, was man gemeinhin einen „Querdenker“ nennt: Jemand, der sich darin gefällt, alles und jeden in Frage zu stellen, und der dabei ein offenes Wort nie scheut – kein Mann des mainstream, sondern der Provokation. Das macht ihn oft unbequem, aber auch sympathisch. Bereits in seiner groß angelegten, 1994 publizierten politischen Biografie über Konrad Adenauer und dem wenige Jahre zuvor, 1986, erschienenen Band über „Adenauer und die Rheinische Republik“ hatte er nicht davor zurückgeschreckt, sich mit der Zunft anzulegen. Jetzt hat er mit seiner „Jahrhundertgeschichte“ Deutschlands ein neues, sperriges Buch vorgelegt, das manche Diskussionen auslösen dürfte.

Was Köhler mit seinem über 700 Seiten umfassenden Band unternimmt, ist nicht mehr und nicht weniger als der Versuch, auf dem Wege einer historischen Darstellung herauszufinden, wie Deutschland im Laufe der vergangenen „hundert“ Jahre – die nicht ganz wörtlich zu nehmen sind – zu sich selbst gefunden hat. Seine Beschreibung beginnt mit dem Kaiserreich von 1871 und endet mit dem deutschen Einigungsprozess nach 1990. Dabei sind die einzelnen Teile sehr ungleich gewichtet. Zwei Drittel des Bandes (über 430 Seiten) sind der Zeit vor 1945 gewidmet, weitere 150 der Besatzungsherrschaft und der Ära Adenauer, keine 50 der sozialliberalen Koalition, keine einzige der Ära Kohl vor 1989. Selbst die Wiedervereinigung und ihre Umsetzung in den neunziger Jahren findet auf kaum mehr als 30 Seiten statt. Köhler rechtfertigt diese Disproportionalität zum einen mit der notwendigen „Akzentuierung“ – Krisen, Kriege und Katastrophen verlangen eine breitere Darstellung als demokratische Normalität –, zum anderen mit dem Hinweis auf die Sperrfrist der Archive. Natürlich weiß er, dass er damit angreifbar ist. Andererseits bemerkt er zu Recht, dass diejenigen, die eine andere Akzentsetzung wünschen, sagen müssten, welche Passagen entbehrlich wären oder wesentlich gekürzt werden könnten.

Ausgangspunkt und Kern des Bandes ist Köhlers Aussage, dass man die jüngste deutsche Geschichte nicht auf Nationalsozialismus und Nachkriegszeit verkürzen darf, weil damit die Gefahr entsteht, wichtige Zusammenhänge wie die Bedeutung des Nationalstaates oder Traditionslinien der Konstitutionalisierung und Parlamentarisierung vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis zur Bundesrepublik aus dem Auge zu verlieren oder gar nicht erst in den Blick zu nehmen.

Vehement bestreitet Köhler deshalb die von Eric Hobsbawm aufgestellte These, dass das 20. Jahrhundert ein „kurzes Jahrhundert“ gewesen sei, das lediglich von der Oktoberrevolution 1917 bis zum Untergang der Sowjetunion und des Kommunismus in den Jahren 1989 bis 1991 gedauert habe. Dies sei, meint Köhler, „eine Glaubensfrage“, bei der ihn weniger der Umstand erstaunt, dass der vom Marxismus inspirierte Denker Hobsbawm zu dieser Auffassung gelangt ist, als vielmehr die Tatsache, „wie rasch dieses historisch schiefe, nämlich nur an der Sowjetunion orientierte Urteil“ von anderen Historikern übernommen worden sei und Eingang in den „täglichen Diskurs“ gefunden habe.

Für nicht minder fragwürdig und falsch hält Köhler die von den meisten Historikern vertretene „Schulbuchweisheit“ einer grundlegenden Zäsur im Jahre 1945, wonach Deutschland in der ersten Jahrhunderthälfte nur als Mittelpunkt von Kriegen und Katastrophen erscheint, während die Zeit danach als Phase der Entwicklung einer stabilen deutschen Demokratie gilt, die ihre „Lehren“ aus dem Scheitern des Deutschen Reiches gezogen habe und daran auch nach der Wiedervereinigung 1990 festhält. Köhler glaubt nicht, dass man 1945 als „Endpunkt der geschichtlichen Entwicklung“ deuten könne, und kritisiert jene Historiker, die – besonders seit den sechziger Jahren – Deutschland vorwiegend „unter dem Gesichtspunkt des zerbrochenen Nationalstaates“ betrachtet haben, das Scheitern des Reiches zunehmend als „etwas Notwendiges“ erachteten und die Zweistaatlichkeit als „Dauerlösung“ akzeptierten, sie womöglich gar „aus moralischen Gründen als Strafe für den Holocaust“ rechtfertigten.

Wer so argumentiert, verkennt nach Köhlers Meinung, dass man es im langen 20. Jahrhundert eben nicht mit zwei völlig unterschiedlichen Jahrhunderthälften ohne inneren Zusammenhang zu tun hatte, sondern vielmehr eine „Grundströmung“ erkennbar war, „die im Kaiserreich einsetzte, durch militärische und politische Katastrophen zwar aufgehalten, aber nicht abgebrochen wurde, so dass Bismarcks Schöpfung – wenn auch in veränderter und verkleinerter Form – erhalten geblieben ist“. Es lasse sich, behauptet Köhler, „historisch kaum nachweisen, dass die Deutschen selbst die Teilung wollten, ja dass schon in der politischen Entwicklung nach 1871 Katastrophe und Teilung angelegt waren“. In Wirklichkeit habe der „totgeredete Nationalstaat“ eine „unerwartete Festigkeit“ bewiesen und letztlich sogar die Niederlagen im Ersten und Zweiten Weltkrieg und die Teilung durch die Besatzungsmächte überlebt – wie nicht zuletzt die Entwicklung 1989/90 gezeigt habe, als die Deutschen sich als ein Volk wiederentdeckten und wieder vereinten.

Ob diese Thesen Köhlers einer genaueren Überprüfung standhalten, muss sich im Detail erweisen. In jedem Fall ist es interessant, entgegen vielfach anzutreffender Argumentationsmuster die Verbindungslinien vom Kaiserreich über Weimar und den NS-Staat bis zur Bundesrepublik neu zu ziehen. So scheiterten die Monarchie und die Weimarer Republik nach Köhlers Meinung nicht wegen innerer Konstruktionsfehler und Blockaden, sondern „als Folge schwerster Belastungen“. Vor allem die Monarchie habe sich als bemerkenswert stabil und – mit Ausnahme der Parlamentarisierung – erfolgreich erwiesen. Doch selbst die Weimarer Republik wird von Köhler nicht so negativ gedeutet, wie es zumeist geschieht. Der Weimarer Staat sei, meint er, bis 1929 gegenüber den schweren Folgelasten des Krieges und dem politischen Extremismus trotz Bürgerkrieg, Versailler Vertrag und Inflation erstaunlich widerstandfähig gewesen. Zur Monarchie führte kein Weg zurück. Erst mit der politischen Krise des Jahres 1929, als das nicht mehr funktionsfähige parlamentarische System von der Bevölkerung und den Eliten gleichermaßen abgelehnt wurde und der Young-Plan den radikalen Parteien zusätzlichen Agitationsstoff lieferte, habe der Weg in den Untergang begonnen, der – so darf man vermuten – nach Köhlers Meinung durchaus vermeidbar war.

Tatsächlich deutet Köhler Hitlers „Machtergreifung“ nicht „strukturalistisch“, also mit dem Verweis auf die Erblast des Kaiserreiches oder „Geburtsfehler“ der Weimarer Republik, sondern mit sehr speziellen „personellen Konstellationen“, die Hitler zur Macht verholfen hätten. Mehr noch: Seine eigentliche Diskreditierung habe das NS-Regime nicht bereits in den dreißiger Jahren erlebt – ungeachtet der Gleichschaltungspolitik und der äußersten Bedenkenlosigkeit seiner Führer, die für Köhler außer Frage steht –, sondern erst durch den Krieg „und die Art, wie er geführt und verloren wurde“. Die Deutschen seien dadurch, meint Köhler, weit wirksamer „umerzogen“ worden als durch die alliierte „Reeducation“. Der demokratische Neuanfang nach 1945 war danach im Wesentlichen eine Anknüpfung an die demokratische Substanz der Weimarer Republik, wobei es nur an dem bald herrschenden „Kalten Krieg“ zwischen Ost und West lag, dass zwei deutsche Staaten entstanden: Die internationale Konstellation nach 1946/47 ließ nichts anderes zu.

Doch wurde Deutschland, oder zumindest sein westlicher Teil, erst damit auch ein integraler Bestandteil des „Westens“? Für Köhler ist dies ein weiterer schillernder Begriff, der wenig aussagt – womit er nicht zuletzt Heinrich August Winklers These vom „langen Weg nach Westen“ angreift. Tatsächlich war Deutschland nach Köhlers Meinung „immer schon westlich“. Dies galt für das Kaiserreich, das durch Aufklärung, Wissenschaft und Technik geprägt war, ebenso wie für die Weimarer Republik, die zwar durch den Versailler Vertrag „faktisch“ vom Westen getrennt wurde, in ihrer Außenpolitik aber spätestens seit 1923 „im Grunde prowestlich“ handelte. Es habe, so Köhler, „keine Schaukelpolitik zwischen Ost und West“ gegeben; eine Ostorientierung habe keine „wirksame Unterstützung“ gefunden. Nach dem Zweiten Weltkrieg übten die NATO und die Europäische Gemeinschaft eine prägende Wirkung aus, die praktisch zu einem Grundkonsens in der Gesellschaft über die Westintegration führte, zu der es auch praktisch keine Alternative gab und die weder durch die Studentenbewegung von 1968 und ihren Antiamerikanismus noch durch die Anti-Atom-Bewegung und den Pazifismus der „Grünen“ oder die Friedensbewegung ernsthaft in Frage gestellt wurde. Auch nach der Wiedervereinigung, meint Köhler, habe sich an dieser Konstellation nichts geändert. Er schließt seine Studie daher mit der optimistischen Note, dass keine Anzeichen für einen „Rückfall in die dunklen Seiten der Vergangenheit“ erkennbar seien.

Köhlers Buch ist eine nachdenkliche, manchmal provozierende, vor allem jedoch sehr bedenkenswerte Interpretation der deutschen Geschichte der vergangenen 100 Jahre. Mögen manche der darin enthaltenen Behauptungen auch kontrovers sein, so bietet der Band doch von seinem Grundansatz her viel Stoff für eine neue Gesamtinterpretation der Entwicklung vom Bismarck-Reich bis zur Gegenwart. Es ist zu hoffen, dass die Diskussion darüber endlich in Gang kommt. Sie ist längst überfällig.

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