M. Fuhrmann: Antiextremismus und wehrhafte Demokratie

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Titel
Antiextremismus und wehrhafte Demokratie. Kritik am politischen Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland


Autor(en)
Fuhrmann, Maximilian
Erschienen
Baden-Baden 2019: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
353 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Richard Rohrmoser, Augsburg

Im September 2019 hat sich der Deutsche Bundestag erstmals mit dem Antrag „Antiextremistischer Grundkonsens in Politik und Gesellschaft – Rechtsstaat und Demokratie schützen – ‚Antifa‘ ächten“ der AfD-Fraktion befasst. Die rechtspopulistische, in Teilen rechtsextreme Partei fordert darin, dass sich der Bundestag zu einem „antiextremistischen Grundkonsens“ bekennen solle. Der „gesellschaftlichen Polarisierung“ könne „nur effektiv begegnet werden [...], indem man sich gemeinsam und in glaubhafter Form gegen alle extremistischen Strömungen rechter, linker oder islamistischer Art einsetzt“.1 Dieses äußerst kontroverse „Postulat der Äquidistanz“ – also der Ansatz, alle Formen des Extremismus gleichermaßen abzulehnen und sie auf eine Ebene zu stellen – ist auch ein zentrales Thema der an der Universität Bremen verfassten und 2019 als Buch erschienenen Dissertation „Antiextremismus und wehrhafte Demokratie. Kritik am politischen Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland“ von Maximilian Fuhrmann. Der Politikwissenschaftler rekonstruiert darin auf anschauliche und einleuchtende Art und Weise, wie sich die Deutungsmuster „Antiextremismus“ und „Wehrhaftigkeit“ im politischen Selbstverständnis der Bundesrepublik gegen andere Etikettierungen der Demokratie (z.B. die „streitbare Demokratie“) durchsetzen konnten und diskursiv bis heute kaum in Frage stehen. Mehr noch: Fuhrmann entlarvt die antidemokratischen Potentiale dieser Denkparadigmen, liefert Konzepte zu ihrer Dekonstruktion und erläutert die Differenz zwischen den verschiedenen Formen von Extremismus. So leistet der Autor mit seiner Pionierarbeit einen scharfsinnigen Beitrag zur Erforschung der politischen Ideengeschichte der Bundesrepublik.2

Eingangs erläutert Fuhrmann, dass sich seine Studie vor allem auf die Hegemonietheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe stützt, wonach „essentialistische Annahme[n] einer gültigen Objektivität“ zurückgewiesen werden und sich eine Gesellschaftsidentität ausschließlich durch die Artikulation und das In-Relation-Setzen von diskursiven Elementen bildet (S. 29f.). Auf dieser theoretischen Grundlage ist es das erklärte Ziel der Dissertation, zu rekonstruieren, „wie die politische Ordnung der BRD geworden ist und wie das gegenwärtig hegemoniale Verständnis von Demokratie diese nahezu unangefochtene Position erlangen konnte“ (S. 48). Der Autor beginnt seine Analyse direkt nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reichs am 8. Mai 1945 und gliedert den Untersuchungszeitraum bis zum Jahr 2017 in drei Phasen, in denen seines Erachtens entscheidende Diskurse zur Ausbildung der antiextremistischen und wehrhaften Demokratie stattfanden. Die erste Phase – zusammen mit einer „Vorphase“ und einer „erste[n] Zwischenphase“ – erstreckt sich bis zum Ende der 1960er-Jahre. Durch die detaillierte Rekonstruktion von politischen Reden, Gerichtsurteilen und Gesetzestexten kommt Fuhrmann zu dem Ergebnis, dass sich in diesem Zeitabschnitt eine „antitotalitäre Ausrichtung“ (S. 100) als Konsens für eine freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik entwickelt habe. Den Fokus richtet er dabei besonders auf die Jahre von 1950 bis 1952, weil es in diesem Zeitintervall zu ersten Anwendungen und Auslegungen des Grundgesetzes, zur Einführung des politischen Strafrechts und zur Zuspitzung der Fronten im Kalten Krieg kam. Die Gründungen des Bundesamtes für Verfassungsschutz (1950) sowie der Bundeszentrale für Heimatdienst (1952, seit 1963 Bundeszentrale für politische Bildung) hatten ferner eine nicht unerhebliche stabilisierende Wirkung.

Die zweite Analysephase mit dem Schwerpunkt auf den Jahren 1972 bis 1975 setzt der Autor ab Ende der 1960er-Jahre an, als „Brüche und Risse in der Diskursformation der antitotalitären, wehrhaften Demokratie deutlicher hervor[traten]“ (S. 192). Grund dafür war vor allem die Entstehung radikaler Protest- und Widerstandsbewegungen wie der Außerparlamentarischen Opposition (APO) und deren extremistischer Zerfallsprodukte, die das politische System der Bundesrepublik von innen existenziell in Frage stellten. Da es zu Beginn der 1970er-Jahre nach dem Amtsantritt der sozial-liberalen Regierung ferner zu einer Entspannungspolitik gegenüber den Staaten des Warschauer Pakts kam, stellte sich der „Totalitarismusbegriff“ zur Abgrenzung gegen die Feinde der Demokratie als unbrauchbar dar (S. 176). Fuhrmann vertritt die These, dass im Zuge dieser Veränderungen der politischen Großwetterlage und des Gesellschaftsklimas ein Paradigmenwechsel im Selbstverständnis der Bundesrepublik stattfand, infolgedessen der „Antiextremismus“ den „Antitotalitarismus“ ablöste. Sämtliche Aktivitäten, die nicht im Einklang mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Staates standen, galten fortan als „extremistisch und damit verfassungsfeindlich“ (S. 190), was im Wesentlichen auch heute noch das dominierende Deutungsmuster ist.

Die dritte Analysephase setzt sich deshalb nicht weiter mit der diskursiven Konsolidierung des „Antiextremismus“ und der „Wehrhaftigkeit“ als Prämissen der politischen Grundordnung der Bundesrepublik auseinander, sondern thematisiert in erster Linie verschiedene Präventionsinitiativen gegen Rechtsextremismus seit der Jahrtausendwende. Als Reaktion auf einen drastischen Anstieg rechtsextrem motivierter Gewalttaten in den 1990er-Jahren initiierte die rot-grüne Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder einige Bundesprogramme zur Förderung von Toleranz und Demokratie sowie zur Stärkung der Zivilgesellschaft. Detailreich schildert Fuhrmann, wie zunächst der Fokus auf der Bekämpfung des Rechtsextremismus lag, ehe die schwarz-gelbe Regierungskoalition – unter Protest einer breiten Diskursgemeinschaft aus Wissenschaftler/innen, den Oppositionsfraktionen und Nichtregierungsorganisationen – ab 2009 die Extremismusprävention auf Linksextremismus und Islamismus ausweitete und das eingangs erwähnte „Postulat der Äquidistanz“ proklamierte (S. 286). Nach der Enttarnung des NSU-Komplexes, der Gründung neuer rechtsextremer Gruppierungen und dem Anstieg von Gewaltattacken auf Geflüchtete wurde jedoch der Sinn der Linksextremismusprävention in den letzten Jahren zunehmend bezweifelt, sodass die Bundesregierung etwa die fragwürdige „Extremismusklausel“3 von 2011 drei Jahre später wieder abschaffte.

Neben der akribischen Untersuchung der genannten Phasen und der daraus resultierenden schlüssigen Befunde besticht die Dissertation ferner dadurch, dass der Autor stets relevantes Kontextwissen über verschiedene Institutionen politischer Kontrolle (z.B. Justiz, Verfassungsschutz) oder der Wissenschaft liefert und verständlich beschreibt. Besonders aufschlussreich ist in diesem komplexen Themenfeld vor allem die Darstellung der unterschiedlichen Konzepte der Radikalismus- bzw. Rechtsextremismusforschung: Während sozialwissenschaftliche Ansätze antipluralistische Elemente nicht nur am extrem rechten Rand des Polit-Spektrums, sondern ebenso in der bundesdeutschen Gesellschaftsmitte konstatieren, leitet die normative Extremismusforschung Rechtsextremismus in eindimensionaler Form aus der expliziten Gegnerschaft zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik ab (S. 236f.). Plausibel erörtert Fuhrmann ferner, dass dieser Forschungsansatz „als Legitimationswissenschaft für das Vorgehen der Sicherheitsbehörden“ dient, jedoch aufgrund seiner technokratischen „Grenzziehung zwischen Demokratie und Extremismus“ äußerst strittig ist (S. 248).

Im letzten Kapitel des Buches kritisiert der Autor schließlich weitere Defizite des „Antiextremismus“ und der „Wehrhaftigkeit“ als Prämissen der politischen Grundordnung der Bundesrepublik: So plädiert er unter anderem dafür, den Staat als absoluten Garant für den Schutz der Demokratie infrage zu stellen, die strikte Dichotomisierung zwischen Demokratie und Extremismus zu dekonstruieren und die Differenz zwischen den Formen des Extremismus (Rechts- vs. Linksextremismus) zu betonen (S. 302ff.). Maximilian Fuhrmanns Dissertation ist eine sehr lesenswerte Studie an der Schnittstelle zwischen politischer Ideen- und Zeitgeschichte, auch wenn durch die Kleinteiligkeit der Gliederung sowie den Facettenreichtum des Themenkomplexes die Leser/innen stellenweise Gefahr laufen können, etwas den Überblick zu verlieren.

Anmerkungen:
1 Siehe https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2019/kw39-de-schutz-rechtsstaat-657382 und http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/135/1913521.pdf (24.11.2019).
2 Inzwischen sind weitere Studien aus verschiedenen fachlichen Richtungen erschienen, was die Relevanz des Themenkomplexes verdeutlicht. Siehe etwa Sarah Schulz, Die freiheitliche demokratische Grundordnung. Ergebnisse und Folgen eines historisch-politischen Prozesses, Weilerswist 2019; Alexandra Jaeger, Auf der Suche nach „Verfassungsfeinden“. Der Radikalenbeschluss in Hamburg 1971–1987, Göttingen 2019.
3 Die „Extremismusklausel“ bzw. „Demokratieerklärung“ war eine auf Initiative der damaligen Familienministerin Kristina Schröder (CDU) eingeführte Einverständniserklärung, wonach Initiativen, die sich bei den Bundesförderprogrammen „Toleranz fördern – Kompetenz stärken“, „Initiative Demokratie Stärken“ und „Zusammenhalt durch Teilhabe“ bewerben wollten, sich schriftlich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen mussten.

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