W. Schmale: For a Democratic "United States of Europe" (1918–1951)

Cover
Titel
For a Democratic "United States of Europe" (1918–1951). Freemasons – Human Rights League – Winston S. Churchill – Individual Citizens


Autor(en)
Schmale, Wolfgang
Reihe
Studien zur Geschichte der Europäischen Integration – SGEI 33
Erschienen
Stuttgart 2019: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
195 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gabriele Clemens, Hamburg

Die Forschung zur europäischen Integrationsgeschichte hat sich in den vergangenen Jahren zunehmend der Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure bei der Entstehung und Verbreitung des europäischen Einigungsgedankens gewidmet und dabei zugleich den Untersuchungszeitraum auf die Jahre seit dem Ende des Ersten Weltkrieges ausgedehnt.1

In diesen zeitlich-thematischen Zusammenhang ist auch der 2019 erschienene Band von Wolfgang Schmale, der die Zeit von 1918 bis zum Anfang der 1950er-Jahre umfasst, einzuordnen. Anhand dreier Fallstudien geht Schmale der Frage nach, welche Vorstellungen von einem geeinten Europa bzw. den „Vereinigten Staaten von Europa“ den untersuchten zivilgesellschaftlichen Akteuren zugrunde lagen. Da für Schmale der Begriff Zivilgesellschaft untrennbar mit einem Bekenntnis zu Werten wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte verbunden ist, steht für ihn dabei der Zusammenhang zwischen dem Bezug auf diese Werte und den europäischen Einigungsideen im Zentrum der Betrachtungen und konzentriert er sich in seinen ersten beiden Fallstudien auf solche international agierenden Nichtregierungsorganisationen, die für ein demokratisch geprägtes vereintes Europa eintraten und zudem über eine große, auch den ‚einfachen Bürger‘ („ordinary citizen“) umfassende, Mitgliederschaft verfügten.

Die erste Fallstudie widmet sich den bisher in Bezug auf den europäischen Einigungsgedanken wenig beachteten Freimaurerlogen, die sich ausgehend von Europa in der ganzen Welt verbreitet hatten und die auch zahlreiche prominente europäische Staatsmänner, wie u.a. Winston Churchill, Aristide Briand und Gustav Stresemann, zu ihren Mitgliedern zählten. Auf Basis umfangreichen Archivmaterials und zahlreicher gedruckter Quellen (u.a. Bulletins/Zeitungen/Zeitschriften) und mit dem Fokus auf Frankreich (Grande Loge de France) erörtert Schmale detailliert sowohl Entwicklung, Aufbau und Zusammensetzung dieser Vereinigungen als vor allem das in ihren Schriften, Reden und Korrespondenzen zum Ausdruck kommende Verständnis von Europa. Den dort wiederholt artikulierten Wunsch, die Staaten Europas zu einigen, leitet Schmale aus den grundsätzlichen Prinzipien der Freimaurerlogen ab, die das Eintreten für Demokratie, Zivilisation, Bürger-/Menschenrechte und Frieden beinhalteten. Die Vorstellungen der Freimaurer über das geeinte Europa blieben in Bezug auf dessen konkrete Struktur allerdings eher vage, waren teils auch von den jeweiligen nationalen Bezügen abhängig. Vielfach knüpften sie, ähnlich wie die in Großbritannien in den 1930er-Jahren gegründete New Commonwealth Society, an eine Weiterentwicklung des Völkerbundes an. Auch wurde die Einigung Europas meist mit der Schaffung eines gemeinsamen Marktes, einer gemeinsamen Währung oder auch einer gemeinsamen Armee in Verbindung gebracht. In Bezug auf die räumliche Ausdehnung des geeinten Europas blieb dieses in den Vorstellungen der Freimaurer nicht auf den Kontinent beschränkt, sondern umfasste auch die Kolonien der Europäer und teilweise auch Staaten wie Russland.

Die zweite Fallstudie befasst sich mit den Menschenrechtsligen, denen auch zahlreiche Freimaurer angehörten. Auch hier legt Schmale den Fokus auf Frankreich, wo 1922 die „Ligue Internationale des Droits de l’Homme et du Citoyen“ (LIDH) gegründet wurde. Der französische Einfluss auf das Gedankengut und die Diskussionen der in der Folgezeit in verschiedenen europäischen Staaten gegründeten Menschenrechtsligen war unverkennbar. Hauptziele der LIDH wie auch der nationalen Menschenrechtsligen waren die Verteidigung der Menschenrechte, der Demokratie und Menschenwürde, was, wie Schmale darlegt, meist auch den Gedanken einer Einigung Europas oder gar der gesamten Menschheit implizierte. Besonders in den zwischen 1920 und 1940 erschienenen „Cahiers des Droits de l’Homme“, die weit über Frankreich hinaus Verbreitung fanden, wurde der Gedanke einer europäischen Einigung in zahlreichen Artikeln aufgegriffen. Ähnlich wie die Freimaurerlogen knüpften auch die „ligeurs“ bei den Einigungsbestrebungen an den Völkerbund an; eine wie auch immer geartete zukünftige europäische Föderation wurde als Teil des Völkerbundes gedacht, der unter seinem Dach in ferner Zukunft auch weitere regionale Föderationen (amerikanische, afrikanische und asiatische Föderation) beherbergen würde. In Bezug auf die Vereinigung Europas, ihre konkrete Ausgestaltung und räumliche Ausdehnung, variierten die in den Cahiers und anderen Zeitschriften dargelegten Vorstellungen durchaus; überwiegend aber implizierte der Gedanke einer europäischen Einigung die Schaffung einer umfassenden Wirtschafts- und Finanzunion (freier Waren- und Personenverkehr, Abschaffung der Zollgrenzen, gemeinsame Währung), die politische Kooperation auf Basis von Demokratie und Menschenrechten und die militärische Abrüstung der Nationalstaaten. Die nach 1945 vorherrschende Ansicht, dass eine europäische Einigung die deutsch-französische Verständigung voraussetze, findet sich auch bereits in den Schriften der Menschenrechtsligen wie auch der Freimaurerlogen. Keinen Widerspruch sahen die Verfechter eines europäischen Einigungsgedankens und Verteidiger von Menschenrechten zwischen ihren Prinzipien und dem Bestreben nach Aufrechterhaltung des Kolonialsystems, da in ihren Augen Europa (und dabei insbesondere Frankreich) die Zivilisation schlechthin verkörperte und diese in die Welt hinausgetragen werden musste; Europa hatte somit mittels der Kolonisation eine kulturelle Mission zu erfüllen.

Die dritte Fallstudie bezieht sich auf die unmittelbare Nachkriegszeit und untersucht die zahlreichen im Archiv der Europäischen Bewegung gesammelten Briefe, die im Anschluss an Winston Churchills Reden u.a. in Zürich (1946) und Den Haag (1948) von einzelnen Privatpersonen aus verschiedenen Ländern in der Zeit zwischen 1946 und 1950/51 verfasst wurden und sich insbesondere an den ehemaligen Premierminister selbst („My Dear Mr. Churchill“) richteten. Diese sind, wie Schmale selbst zu Recht einräumt, zwar nicht repräsentativ für die Haltung zivilgesellschaftlicher Akteure nach Kriegsende, bieten aber einen interessanten Einblick in die Gedankenwelt einzelner, in der Zwischenkriegszeit und den Kriegsjahren sozialisierter Personen und geben Aufschluss über ihre Motive, den in Aussicht gestellten europäischen Einigungsprozess zu unterstützen. Diese Motive – das wird aus den einzelnen zitierten Passagen deutlich – sind keineswegs nur in einem idealistischen, grundsätzlich proeinigungseuropäischen und/oder auch demokratisch-pazifistischen Gedankengut zu verorten, sondern wurzeln in verschiedenen Erfahrungen der Vergangenheit und Erwartungen für die nahe Zukunft. So wird u.a. die Einigung Europas als einziges Mittel zur ‚Rettung des Abendlandes‘ und Wahrung der europäischen Zivilisation oder Kultur angesehen sowie zur Abwehr von Bolschewismus und Kommunismus. Auch das Beiseiteschieben der Schuld- oder Täterfrage für die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit und die Wahrung der ‚Herrschaft der weißen Rasse‘ oder der „white, strongest-willed German-Nordic peoples“ (S. 146) werden in einigen Briefen als Grund für einen Zusammenschluss Europas angegeben. Insgesamt, so schlussfolgert Schmale, stand ein „Europe of democracy and human rights“ (S. 154) nicht im Vordergrund der analysierten Briefe. Diese Vielfältigkeit der Motive zur Unterstützung der europäischen Einigung, die Schmale hier aufzeigt, mag auch eine Erklärung für den so oft beschworenen ‚permissive consensus‘, d.h. passiv-wohlwollenden Konsens der europäischen Bevölkerung in Bezug auf den europäischen Einigungsprozess bieten. Es ging dabei nicht nur um die Herstellung oder Bewahrung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Frieden, wie man heute im Rückblick oft annimmt. Dies ist ein wichtiges Ergebnis dieses Buches. Allerdings passt ein Teil dieser in der dritten Fallstudie zitierten Stimmen aus der Bevölkerung nicht in Schmales Konzept von Zivilgesellschaft und ‚ordinary citizens‘, die er beide in einen engen Zusammenhang zur Verteidigung von Werten wie Demokratie und Menschenrechte setzt, spiegeln aber nichtsdestotrotz die Stimmung eines Teils der Bevölkerung in der Nachkriegszeit wider. Von daher wäre es wohl sinnvoller, den Begriff Zivilgesellschaft nicht so eng zu fassen, wie es Schmale in diesem Buch tut.

Wenngleich auch die Auswahl und Zusammenstellung der drei recht unterschiedlichen Fallstudien etwas disparat erscheinen mag, so mindert dies nicht die grundsätzliche Bedeutung dieses Buches für die Integrationsforschung. Es liefert einen weiteren, wichtigen Mosaikstein zu dem Gesamtbild der Europavorstellungen der Zeit vor 1945, wie dies u.a. die Werke von Ploß über die New Commonwealth Society2 sowie von Ziegerhofer-Prettenthaler über die Paneuropa-Union Coudenhove-Kalergis3 und von Conze über das Europabild der Deutschen4 zuvor getan haben.

Anmerkungen:
1 Siehe dazu u.a. Rüdiger Hohls / Hartmut Kaelble (Hrsg.), Geschichte der europäischen Integration bis 1989, Stuttgart 2016, S. 11–17.
2 Christoph Johannes Ploß, Die „New Commonwealth Society“. Ein Ideen-Laboratorium für den supranationalen europäischen Integrationsprozess, Stuttgart 2017.
3 Anita Ziegerhofer-Prettenthaler, Botschafter Europas. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren, Wien 2004.
4 Vanessa Conze, Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920–1970), München 2005.

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