W. Curilla: Die deutsche Ordnungspolizei im im westlichen Europa 1940–1945

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Titel
Die deutsche Ordnungspolizei im westlichen Europa 1940–1945.


Autor(en)
Curilla, Wolfgang
Erschienen
Paderborn 2019: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
VIII, 990 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Guus Meershoek, Faculty of Behavioural, Management and Social Sciences, Twente University

Die umfangreiche Studie des Hamburger Juristen und Politikers Wolfgang Curilla beschreibt systematisch und akribisch Land für Land, Bataillon für Bataillon, den Einsatz, die Führung und wichtige Ereignisse von Einheiten der Ordnungspolizei, die während des Zweiten Weltkriegs in der westlichen Hälfte Europas stationiert waren. Das Buch stützt sich auf umfangreiche Archivstudien in zahlreichen Ländern und ist Teil eines größeren persönlichen Projekts: Der Autor hat bereits ein Buch über die Ordnungspolizei in den baltischen Staaten1 und ein zweites über die Ordnungspolizei in Polen veröffentlicht.2 Man kann vorab sagen, dass er eine enorme Leistung vollbracht und vor allem den Forschern in den damals besetzten Ländern Wissen und Einblick in die beteiligten Bataillone vermittelt hat, die sie sonst nur schwer hätten erlangen können. Das Buch ist ein wichtiger Beitrag zu unserer Kenntnis der deutschen Besatzung Westeuropas. Dennoch sind einige kritische Bemerkungen angebracht.

Die Studie verfügt über ausgezeichnete Register und gibt einen umfassenden Überblick über die Quellen, aber es mangelt an historiografischen und methodischen Kapiteln. Aus diesem Grund kann der nicht eingeweihte Leser die Bedeutung des Buches kaum einschätzen. Ernsthaftes historisches Interesse an der Ordnungspolizei entstand vor dreißig Jahren sowohl in Deutschland3 als auch in den Vereinigten Staaten.4 Seitdem wurden zahlreiche empirisch reichhaltige Studien veröffentlicht, in denen Einheiten der Ordnungspolizei (sowohl die Ausführungspraxis als auch deren Verwaltungsapparat) eine Rolle spielen. Es gibt in der Arbeit keine Einleitung zum Forschungsstand und die Ergebnisse anderer Studien sind nur sparsam im Text verarbeitet – eigentlich nur im Anmerkungsapparat. Curilla verweist zwar auf Stefan Klemps 2005 veröffentlichte und sechs Jahre später deutlich erweiterte Arbeit zum Umgang der Nachkriegsjustiz mit den Polizeibataillonen, aber er teilt uns nicht mit, was er zu unserem historischen Wissen beitragen will.5 In Klemps Studie bilden die Bataillone und andere Einheiten den Ausgangspunkt der Auseinandersetzung; in Curillas Buch sind es die Länder. Klemp bietet eine historiografische Einführung und darüber hinaus eine Diskussion über die Strafverfolgung; Curilla sucht Verbindungen zur nationalen Geschichtsschreibung der deutschen Besatzung der verschiedenen Länder.

An einem methodischen Kapitel mangelt es ebenfalls. Der Autor liefert ausgezeichnete Quellenangaben, aber dem Leser fehlt eine Fragestellung, eine Richtschnur für die Forschung und die Kriterien der Auswahl des untersuchten Materials. Es gibt auch keine Einordnung zur Position der Ordnungspolizei im deutschen Machtapparat und hinsichtlich ihrer Funktion in der Verwaltung der Besatzung. Manchmal werden Studien von Historikern aus den betroffenen Ländern verwendet, aber der Autor gibt nicht an, in welchem Umfang. So bleibt unklar, welche Sprachen er beherrscht und welche Geschichtsschreibung er konsultieren konnte. Ein wichtiger thematischer Schwerpunkt in den Beschreibungen ist die Beteiligung der Bataillone an der Verfolgung der Juden, aber für diese nachvollziehbare Entscheidung wird kein Argument angeführt. Die Tatsache, dass die Kapitel über Frankreich und Italien deutlich umfangreicher sind als das Kapitel über die Niederlande, scheint auf die größere Fülle an deutschem Quellenmaterial zurückzuführen zu sein.

Die Erfahrungen der Bataillone werden geografisch von Nord nach Süd bearbeitet: Norwegen, Finnland, Dänemark, die Niederlande, Belgien, Luxemburg, Frankreich und Italien. Jedes Land erhält ein Kapitel, das mit einem Überblick über die Besatzungsverwaltung beginnt und sich dann mit der Bildung, der Führung und dem Einsatz von Einheit zu Einheit befasst. Diese Übersichten werden mit Beschreibungen von größeren und kleineren Vorfällen angereichert. Besonderes Augenmerk wird auf die Überwachungsaufgabe beim Transport von Juden aus den sogenannten „nationalen Sammellagern“ in die Vernichtungslager in Polen gelegt. Finnland, Belgien und Luxemburg werden nachvollziehbarerweise sehr kurz behandelt. Norwegen und Dänemark werden bereits ausführlicher diskutiert, während die Niederlande, Frankreich und Italien bei weitem die größte Aufmerksamkeit erhalten. Der professionelle Leser ist imstande, aus diesen Beschreibungen ein Bild der politischen Entscheidungen in Berlin und in den Besatzungsbehörden sowie der Planer im Hauptamt der Ordnungspolizei zu rekonstruieren, aber im Text fehlt der Bezug zu den Anordnungen aus der Zentrale weitgehend.

Die Arbeit schließt mit einem Kapitel, in dem drei dringende Fragen beantwortet und die Ergebnisse zusammengefasst werden. Zuallererst wird die Kenntnis der Polizisten, die den Transport zu den Vernichtungslagern bewachten, über das Schicksal der Juden analysiert. Recht überzeugend stellt der Autor fest, dass die Polizisten während ihrer Ruhezeit nach einer erfolgten Übergabe von Juden vor Ort die Kenntnisse über den Massenmord schnell bestätigten und dieses Wissen auch teilten. Obwohl die Quellen fragmentarisch sind und oft aus Nachkriegszeugnissen bestehen, wäre eine weitere vorsichtige Spezifikation der zeitlichen und räumlichen Verbreitung der Kenntnis interessant gewesen. Die zweite Frage dreht sich um die Anzahl des für diese Aufgabe eingesetzten Personals. Der Autor geht davon aus, dass etwa die Hälfte aller Männer aktiv an der Verfolgung der Juden mitwirkte. Schließlich überprüft er die nach Kriegsende von mehreren Polizisten gegenüber der Justiz aufgestellte Behauptung, dass nach 1942 „arbeitsfähige“ Juden immer noch kurz vor der Ankunft ihres Transports nach Auschwitz auf Anweisung des Sonderbeauftragten des Reichsführers-SS für fremdvölkischen Arbeitseinsatz in Oberschlesien für den „Arbeitseinsatz“ zurückgezogen worden seien. Curilla hält diese Schilderungen für gut möglich.

Vor dem Hintergrund einer fast 900 Seiten umfassenden Arbeit mag ein Hinweis auf diejenigen Facetten, die nicht behandelt werden, pedantisch wirken. Aber er ist für eine Einordnung der Studie doch erforderlich. Es fehlen Informationen zu Rekrutierung, Ausbildung, Kasernen, Führung und Umgangsformen. Nur fragmentarisch ist zu erfahren, für welche Aufgaben in welchen Zeiträumen die Bataillone eingesetzt wurden. Mein Eindruck ist, dass die Arbeitsbelastung sehr unterschiedlich war, aber es gibt keine systematischen Informationen darüber. Ein interessantes, unberührtes Thema ist die Interaktion mit der lokalen Bevölkerung, insbesondere der (weiblichen) Jugend.

Die Studie lädt zum Vergleich zwischen den Ländern ein. Dabei wird klar, dass in den Niederlanden eine vergleichsweise große Zahl von Ordnungspolizisten eingesetzt waren; in Frankreich und Italien dagegen nur relativ wenige und dies vor allem in der letzten Phase der Besatzung. Der Autor sieht darin eine Erklärung für die sehr umfassende Judenverfolgung in den Niederlanden. Diese Schlussfolgerung scheint mir jedoch zu eindimensional. Ein überzeugenderes Urteil berücksichtigt den breiteren polizeilichen Kontext. Die Besatzungsbehörden hatten Zugang zu verschiedenen eigenen bewaffneten Truppen wie der Waffen-SS und der Wehrmacht. Zudem konnten sie auch die einheimische Polizei einsetzen. Gerade die Mitarbeit der lokalen Polizei war für die Verhaftung von Juden zentral.

Wolfgang Curilla hat ein Buch geschrieben, das wohl keine breite Leserschaft finden wird, das aber einen wichtigen Beitrag zur historischen Erforschung der Besatzungsbehörden in den von Nazideutschland besetzten Ländern darstellt. Zusammen mit seinen bisherigen Studien bietet es einen einzigartigen Überblick über den Einsatz eines wichtigen Teils der deutschen Polizei in drei Vierteln des besetzten Europas. Lokalhistoriker können kaum derart umfangreiche Forschungen in deutschen Archiven durchführen, sodass diese äußerst reiche Studie eine wertvolle Hilfe für sie darstellt. Darüber hinaus liefert das Buch wichtige Anregungen für eine grenzüberschreitende Erforschung der Besatzungszeit.

Anmerkungen:
1 Wolfgang Curilla, Die deutsche Ordnungspolizei und der Holocaust im Baltikum und in Weißrussland 1941–1944, Paderborn 2006.
2 Ders., Der Judenmord in Polen und die deutsche Ordnungspolizei 1939–1945, Paderborn 2011.
3 Heiner Lichtenstein, Himmlers grüne Helfer. Die Schutz- und Ordnungspolizei im „Dritten Reich“, Köln 1990.
4 Christopher Browning, Ordinary Men. Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland, New York 1992.
5 Stefan Klemp, Nicht Ermittelt. Polizeibataillone und die Nachkriegsjustiz. Ein Handbuch, 2., überarb. Aufl., Essen 2011 (1. Aufl. 2005).

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